Stadtmuseum Stuttgart | Architekten: Lederer Ragnarsdóttir Oei
Giovanni Salucci hatte in Stuttgart 1834-40 ein Wohnhaus für die Töchter Wilhelms I. gebaut. Wilhelm Tiedje baute dieses im Zweiten Weltkrieg ausgebrannte Wohnhaus 1961-65 als Bibliothek wieder auf, und Lederer Ragnarsdóttir Oei implantierten jetzt ins erneut entkernte Gemäuer ein Museum. Eine wechselhafte Baugeschichte weist auf Paradigmenwechsel im Städtebau, auf Grenzen der Umnutzung und die daraus resultierenden, drastischen Zerstörungen und Neuanfänge.
Am So., 17. 9. 2017, wird die B 14 für eine Fußgängerdemo von 11-13:30 Uhr gesperrt – initiiert von „Aufbruch Stuttgart“.
Für eine Stadt, die es nicht gibt
Als die Architektin Jorunn Ragnarsdóttir durch das fertiggestellte Stadtmuseum im ehemaligen Wilhelmspalais in Stuttgart führt, spricht sie, wie es im Büro LRO üblich ist, zuerst von der Stadt. „Die Stadt“ ist hier am Charlottenplatz eine vom Verkehr verwüstete Ödnis – ein Kristallisationspunkt mobilitätsgeschichtlicher Irrtümer, die wir seit Jahren als solche erkennen. In der alten Achse des Wilhelmspalais‘ zum neuen Kunstmuseum hin tost der Verkehr über eine Kreuzung mit zig Fahrspuren rauf über die B 27 zur Autobahn A8 nach München, geradeaus auf der Bundesstraße B 14 zur A8 nach Karlsruhe. Bleiben, verweilen? Hier bis auf weiteres nicht.
Wilhelm Tiedje hatte 1961 bis 1965 das von Giovanni Salucci gebaute, im Krieg ausgebrannte Wilhelmspalais funktional, konzeptionell und im Detail exzellent durchdacht und gebaut. Tiedje (1898-1987) war unter den Nationalsozialisten gut beschäftigt gewesen, 1940 in die NSDAP eingetreten und hatte nach dem Krieg wie so viele andere beruflich wieder Fuß fassen können. Zwar konnte er sich Anfang der 1960er-Jahre keine Vorstellung vom heutigen Verkehr machen. Er schien aber geahnt zu haben, dass hangaufwärts, gen Osten, die ruhigere, geschütztere und deswegen funktional aufzuwertende Seite liegen werde.
Die hangaufwärts gelegene, lärmgeschützte Ostseite des Wilhelmspalais, die topographisch bedingt über eine Brücke erschlossen ist. (Bild: Ursula Baus)
Verluste, Neuanfänge
In Stuttgart lebend, ging ich seit Jahrzehnten von beiden Seiten aus durch das Palais meinen Weg zur Stadtmitte oder hinaus. Wilhelm Tiedjes Wilhelmspalais erwies sich dabei als architektonisch bestens reifender Ort, den man einfach durchqueren konnte, ohne zu irgendetwas genötigt zu werden. Hinsetzen und Zeitung lesen, ein Buch ausleihen. Oder mit jemandem zwei Worte wechseln. Oder auch nicht. Einfach durchgehen und sich an den Materialien, an der Fülle des Lichts erfreuen.
Tiedje hatte dafür im Erdgeschoss mit Naturstein und Holz sowie großzügigen Ausblicken eine Atmosphäre geschaffen, die behaglich, aber keineswegs bieder oder gemütlich war. Im Vortragssaal – benannt nach Max Bense und geschaffen als Ort fast komplizenhafter Neugier – hörten wir herausragende Beiträge zur Semiotik, zur klassenlosen Gesellschaft, zur Bedeutung des Bildes für die Wissenschaft und vieles mehr. Von der Qualität der Architektur Wilhelm Tiedjes schwärmte Arno Lederer einmal in einem Vortrag in Reutlingen, als es dort um die Zukunft des Rathauses ging, das Tiedje mit Rudi Volz 1962-66 gebaut hatte.
Es ist nun zwar nachzuvollziehen, dass die Stadt ihre Stadtbibliothek als Attraktion in ein Quartier des Stuttgart 21-Terrains verlagerte. Irgendetwas Nicht-Kommerzielles muss es ja sogar dort geben, was dem koreanischen Architekten Eun Young Yi mit seinem Neubau exzellent gelungen ist.
Nicht nachzuvollziehen bleibt, warum keine adäquate Nutzung für Tiedjes Wilhelmspalais gesucht wurde. Als ein Haus für Gestaltung hätte es – nachhaltig im Sinne der Stadtbaugeschichte und der Pflege hochwertiger Bausubstanz – erhalten werden können. Es hätte sich jedenfalls als kommunikativer Ort geeignet, wie man ihn in Stuttgart oft vermisst, in dem die Stadtgeschichte zudem nicht aufwändig erzählt, sondern im besten Sinne alltäglich in der Architektur zu erleben gewesen wäre. All das will als vergebene Chance erwähnt werden, weil Architekturkritik die Architekturgeschichte jenseits ihrer Instrumentalisierung und in ihrer Bedeutung für die Baukultur des Alltags vergegenwärtigen muss.
An dem europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb hatten sich 2008-2009 insgesamt 21 Büros beteiligt, LRO und Wandel Höfer Lorch und Hirsch waren als gleichrangige Sieger daraus hervorgegangen. Letztere hatten vom Tiedje-Bau wesentlich mehr erhalten wollen, in der zweiten Runde fiel die Entscheidung 2010 jedoch zugunsten von LRO.
Schließlich: das Neue
Die „Stadt“ aufzuwerten, diente LRO im Wettbewerb als Argument für neu organisierte Außenanlagen und Innenstruktur. Grundsätzlich blieb die beidseitige Zugänglichkeit, wie sie auch Tiedje realisiert hatte, erhalten. Ein Weg am Haus vorbei, wenn dieses geschlossen ist, blieb nur auf der Südseite gegeben – dort, wo Fußgänger den neuen oberidischen Weg über die B 14 gehen möchten, landet man in einer Parkplatz-Sackgasse.
Im Gebäude verlegten LRO die Erschließung von Keller- und Obergeschossen wie einstmals Salucci an beide Seiten: Treppenhäuser sind links und rechts des Foyers angelegt, Garderoben und Toiletten in einem niedrigen Zwischengeschoss untergebracht. Durch die Haupthalle sind Café, Shop, Vortragssaal und Salon zugänglich, all das erschließt sich übersichtlich und schlüssig. Über der Haupthalle erstreckt sich der Oberlichtsaal mit zusammenhängenden Ausstellungsbereichen und markanten, mit Holzklappen versehenen Lichtkuppeln.
Das neue Interieur ist nun wie eine Schatulle in die Außenschachtel – wenn man die kulissenhaften zurückgebliebenen Fassaden Saluccis so nennen mag – hineingesetzt worden. Ausgeschlagen ist diese Schatulle nicht mit Samt oder Seide, sondern lückenlos von oben bis unten mit Birkenholzplatten. Penibel detailliert: Türen, Schließfächer, alles Technische, auch die Feuerlöscher verschwinden hinter einer Birkenholz-Kaschierung, mit der auch die 1,20 Meter dicken Fensterlaibungen ausgekleidet sind.
Ob diese Birkenholz-Innenschale leisten wird, was Samt und Seide zur verführerischen Wahrnehmung von schönem Schmuck beitragen, kann derzeit kaum eingeschätzt werden. Denn die Ausstellungsarbeit des Stadtmuseums hinkt – ausnahmsweise – der Fertigstellung des Museums hinterher, so dass man bislang von dem zwar hellen, aber vergleichsweise langweiligen Birkenholz in seiner Omnipräsenz geradezu erschlagen wird.
Wie bei Tiedje wird dem Besucher an keiner einzigen Stelle dieses neuen Interieurs bewusst, dass er sich in einem Altbau befindet. Erst im Obergeschoss erschließt sich, wenn der Blick Richtung Planie auf den Balkon lockt, das Dasein hinter alten Fassaden. Tiedje hatte die Symmetrieachse des Palais‘ sehr wohl aufgegriffen und räumlich erlebbar gehalten – wie im Bild links festgehalten.
Als „Stadtmuseum“ muss der neue Nutzer natürlich auch die Öffentlichkeit suchen und sie ins Haus locken wo es nur geht. Dafür bietet das Erdgeschoss viele und gute, räumliche Gelegenheiten. Vom 16. bis zum 24. September kann man sich bei vielen Veranstaltungen, unter anderem bei der Verleihung des Hugo Häring Preises, einen eigenen Eindruck verschaffen. Das Programm dieser „Architektur – Preview“ finden Sie >>> hier.
Mit der Offenheit des neuen Wilhelmspalais‘ ist Tiedjes Idee einer durchlässigen Architektur in die Gegenwart übersetzt worden. Neue Treppenanlagen im Außenbereich an der B 14 sollen die Voraussetzung dafür bieten, dass im öffentlichen Raum die alte Achse zur Planie wieder wahrgenommen wird. Folgen muss nun ein konsequenter Umbau des Charlottenplatzes.
Bauherr
Landeshauptstadt Stuttgart
Architekten
Lederer Ragnarsdóttir Oei, Stuttgart
Projektleiter: Klaus Hildenbrand
Projektsteuerung
DU Diederichs, München
Tragwerksplanung
Knippers Helbig, Stuttgart
Wettbewerb
1. Runde: 2008
2. Runde: März 2010
Gesamtkosten
40,6 Mio Euro
Ebenfalls neu:
Besucherzentrum des Landtags Baden-Württemberg | Architekten: Henning Larson Architects