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Stilkritik (106) | Orte (halb-)öffentlichen Lebens darben in den Pandemie-Zeiten. Die Gastronomie leidet, mit ihr verkümmern all jene Wirts- und Kaffeehäuser, Restaurants und Bars, die wir als zweites Zuhause oder doch als Räume schätzen, die zur Baukultur gehören. Die Wintermonate, die eine Außengastronomie eher nicht erwarten lassen, offenbaren Abgründe des Interieurs.

In der Lounge dieses Hotels waren Profis am Werk. Gut so? (Bild: Ursula Baus)

Winter an der Ostsee, die Corona-Inzidenzen sind nicht so horrend hoch wie in Süddeutschland. Erste Winterkälte fegt mit eisigem Wind übers flache Land. Ein paar Vermummte laufen am Wasser entlang, weniger aus Bewegungsdrang, aber der Hund muss halt raus. Wir laufen unerschrocken ab Timmendorf Richtung Travemünde, da stellt sich in dieser Tourismus-Gegend von selbst der Bärenhunger ein, womit die Suche nach einem offenem Restaurant beginnt.

Vier Wochen vor dem Weihnachts-Boom, der vielleicht doch noch in einen Lockdown fällt. Überall wird noch gehämmert und gepinselt, aber nichts zu essen angeboten. Und nirgends lässt sich ein Schwarm von Menschen beobachten, der etwa eine passable Küche ansteuert und der Nase folgt. Tripadvisor zeigt ein offenes Wirtshaus an – dort angekommen lesen wir: Ab 17 Uhr geöffnet. Es ist 14:30 Uhr. Es bleibt nicht aus, dass man dann keine Wahl mehr hat und einkehren muss, sobald sich ein offenes Gasthaus findet.

»Dekoration« hat die Wirtin diebstahlsicher knapp unter die Decker verbannt. (Bild: Ursula Baus)

»Dekoration« hat die Wirtin diebstahlsicher knapp unter die Decke verbannt. (Bild: Ursula Baus)

Es findet sich an der Ecke einer zugigen Passage zwischen Strand und Straße. Die Speisekarte draußen listet Pizza, Nudeln, Fisch, Schnitzel und Salat auf und lässt eine mehr oder weniger Überall-und-nirgends-Küche erwarten – allemal gut gegen Hunger. Es stranden hier Bauarbeiter, Hundeausführer, eine gehbehinderte Seniorin, ein spät frühstückendes Pärchen – und wir, die wir noch einen Platz mit guter Sicht auf Restaurant und Promenade und Ostsee erwischt haben. Nichts gegen die vom Wind mit Schaumkrönchen bestückte Ostsee, aber der Vordergrund ist von einem Gestaltungswillen gekennzeichnet, der erschüttert. Es heißt ja, gerade wenn Architekten als Gestalter in einem Wirtshaus tätig waren, gehe das Ergebnis in der Regel am Wohlgefühl der Gäste vorbei. Die Wirtinnen, so wird oft ergänzt, wüssten nämlich selber am besten, was die Gäste atmosphärisch wertschätzten. Nichts von beidem stimmt.

Was also mag die Wirtin dieses Gasthauses bewegt haben, ihren meerseitigen Gastraum so einzurichten? Irgendetwas zwischen Schnellimbiss, Cafeteria, Krankenhaus-Kantine und Döner-Salon. Es mag sein, dass Visconti hier einen coolen Film hätte drehen können, mit letzten Minuten eines Dramas, in dem sich die Liebenden finden und der Ort egal ist.

Die »Musik« aus den Lautsprechern – ein lausiges Geschrei – grenzt an Körperverletzung.

Nein, der Wirt weiß nicht immer am besten das Ambiente für seine Gäste zu schaffen. (Bild: Ursula Baus)

Nein, der Wirt weiß nicht immer am besten das Ambiente für seine Gäste zu schaffen. (Bild: Ursula Baus)

Nein, es muss ja nirgends gediegen und schon gar nicht »designed« sein, aber ein dermaßen trostloses Ambiente trägt zur Trübsal, zur hoffnungslosen Winterdepression bei. Die Hungrigen in der Stube nehmen es gelassen. Das Essen ist kaum besser als die Wirtshaus-Dekoration, im WC kann eine Weile schon keine Reinigungskraft gewirkt haben. Ein regionaltypischer Dialog mag erklären, was das Dasein in Tourismus-Hochburgen zur kalten Nebensaison prägt: »Moin«. »Moin«. – »Löppt?« »Löppt«.

Nee, nix löppt.

Schein und Sein war für die Vorfahren auch schon ein Problem: Ortskern von Timmendorf (Bild: Ursula Baus)

Schein und Sein war für die Vorfahren auch schon ein Problem: Ortskern von Timmendorf (Bild: Ursula Baus)