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Stadt: Geschichte, Gestalt und ein Experiment


Geschichte ist eine wichtige Größe im Planungsdiskurs. Umso mehr erfreuen Entdeckungen, umso mehr stellt sich die Frage nach der Relevanz für die Planung von heute, um erstaunlicher aber auch Lücken, die sich ausmachen lassen. Aber auch Neues muss gewagt werden – drei Empfehlungen.

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Andri Gerber, Regula Iseli, Stefan Kurath, Urs Primas (Hg.): Morphologie von Stadtlandschaften. Gechichte, Analyse, Entwurf. 17×24 cm, 277 Seiten, 91 s/w-Abbildungen, 29,90 €
Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 2021

Mit der Publikation über die Morphologie von Stadtlandschaften wird ein Thema aufgegriffen, dass zu unrecht, vor allem aber zu Lasten eines realitätsbezogenen Blicks im Entwerfen zu wenig reflektiert wird. »Morphologie von Stadtlandschaften« zeigt, warum es sich lohnt, an ältere Diskussionen anzuknüpfen und sie für Entwürfe auf städtebaulicher und stadtplanerischer Ebene fruchtbar zu machen. Ausgelöst von der Neuauflage von Sylvain Malfroys und Gianfranco Caniggias Werk »Die morphologische Betrachtungsweise von Stadt und Territorium« hatte eine Tagung gezeigt, wie notwendig es ist, das Thema der Stadtmorphologie zu aktualisieren und zu vertiefen.

Die hier vorgestellte Publikation baut auf dieser Tagung auf. Sie stellt die verschiedenen Lesarten und Schulen vor, die das Feld der Stadtmorpholgie bearbeitet hatten. Dabei geht es darum zu zeigen, wie Stadt und Landschaft jenseits einseitiger Analysen als eine komplexe Überlagerung von Siedlung, Infrastruktur, Naturraum ebenso wie der Imaginationen und Bedeutungszuweisungen von Strukturen gelesen werden kann. Wie Formen entstehen und konstruiert werden, kann nur disziplinübergreifend erforscht und erfasst werden, bezogen auf die Stadtlandschaften ist das deswegen erkenntnisfördernd, weil sie vorurteilsbehaftete Trennungen zwischen Natur und Kultur, Stadt und Landschaft umgeht und eine integrierte Betrachtung fördert, die Beziehungssysteme und Wechselwirkungen in den Mittelpunkt stellt und so auch »Freiheit« und »Regel«, »Geplant« und »Gewachsen« in einer übergeordneten Perspektive als aufeinander bezogene Prozesse der Formentwicklung einbezieht.

Im zweigeteilte Buch ist der erste, der geschichtlich orientierte der deutlich gewichtigere und verweist damit darauf, dass dieser Teil der Stadtbau- und Stadtdiskursgeschichte lange vernachlässigt wurde. Der zweite stellt die Potenziale für den Entwurf in den Vordergrund. An ihn weiter anzuknüpfen verspricht eine Öffnung des Entwerfens, die viele der aktuellen Diskussionen und Konfrontationen, das Beharren auf der Autonomie des Entwurfs wie der Gegenüberstellung von Planenden und Betroffenen, überwinden könnte. Die herausgebende ZAHW betreibt hier auch etwas Werbung und Selbstversicherung in eigener Sache, denn das heutige »Institut Urban Landscape IUL« hat zahlreiche ehemalige und aktuelle Mitarbeitende in seinen Reihen, die in direktem oder indirektem Kontakt zu Vertreter:innen der Stadtmorphologie standen.



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Heidede Becker und Johann Jessen (Hg.): Ein Lesebuch mit Texten aus 100 Jahren Städtebau. Auisgewählt und kommentiert von Mitgliedern der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. 21 x 23 cm, 448 Seiten, 128 Abbildungen, 28 Euro
DOM Publishers, Berlin, 2021

Eine Veröffentlichung zum 100-jährigen Jubiläum der DASL, der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung ist bereits erschienen, nun liegt die zweite vor. Sie versammelt 44 Texte aus diesen 100 Jahren, kommentierend eingeordnet jeweils von einem Mitglied der Akademie. Grundlage dieses Konzepts war ein Aufruf an die Mitglieder, einen aus ihrer Sicht für Berufspraxis und Fachverständnis bedeutenden Text vorzuschlagen und ihn zu kommentieren. Im Vorwort von Johann Jessen und der traurigerweise vor der Veröffentlichung verstorbenen Heidede Becker lesen wir, dass nachjustiert werden musste, um tatsächlich die 100 Jahre einzufangen und nicht lediglich die 1980er und 1990er.

Das ist dann auch gelungen: von Cornelius Gurlitt, Josef Stübben und Walter Benjamin über Fritz Schumacher, Walter Schwagenscheidt, Jochen Vogel und Rob Krier bis zu Erika Spiegel, Hartmut Häußermann / Walter Siebel und Klaus Selle erstreckt sich der Reigen, der gerade deswegen einen Einblick in die Geschichte gibt, weil es einer aus Sicht der Akademie ist. Die Logik des Buchs ergibt, dass Auswahl des Textes daran geknüpft ist, wie eine Person heute die Relevanz sieht – entweder als Legitimation eigener Haltungen (Christoph Mäckler und Cornelius Gurlitts »Gerade oder gebogene Straßen«) oder als Abgrenzung davon (Martin Wentz und Walter Schwagenscheidts »Raumstadt«). Es finden sich aber auch Kommentare, die sie in die damalige und heutige Fachdebatte einbinden (Dierk Hausmann und Rudolf Hillebrechts »Wandlungen im Städtebau der Gegenwart«) oder ihn und seine Rezeption als besonders charakteristisch für die Zeit sehen, aus der der Text stammt (Uli Hellweg und Michel Foucaults »Die Heterotopien» und »Andere Räume«. Neben Erwartbarem – Texten von Dieter Hofmann-Axthelm, Jane Jacobs, Aldo Rossi etwa – sind aber auch Entdeckungen zu machen, etwa Friedrich Halstenbergs »Städtebau und Öffentlichkeit« von 1959, ein Text, der abgesehen vom Wandel der Medientechnik und -nutzung überraschend aktuell darin ist, dass sie die politische Bedeutung der Öffentlichkeit betont, die durch den öffentlichen Diskurs über Planungen hergestellt wird: »In das öffentliche Bewusstsein gestellte, im Austausch mit der Öffentlichkeit entwickelte Ortplanung wirkt als politisch und gesellschaftlich formende Kraft.«

Die Logik des Buchs führt zu einem abwechslungsreichen Reigen von Texten aus verschiedenen Disziplinen (Ökonomie, Landschaftsplanung, Geographie, Recht, Soziologie, Planung) von dem man aber nicht erwarten darf, dass er sich als Anthologie der wesentlichen Texte versteht. Das war nicht die Absicht. Es war auch nicht das Ziel, dass sich die Kommentator:innen in abgewogener kritischer Distanz zu den Texten, die sie sich ausgewählt haben, halten. Es geht um den individuellen Zugang zum Text – und gerade das ist die Qualität. Etwas überrascht hat mich dann aber doch, dass kaum Texte aus der linken Szene, die Kritik an der kapitalistischen Stadt üben, zu finden sind: Kein Lefebvre, kein Tafuri, kein Text vom „Büro für Stadtsanierung und soziale Arbeit“. Ob Zufall oder bezeichnender Umstand – das mögen Sie selbst entscheiden.



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Johanna Hoerning, Philipp Misselwitz (Hg.) in Kooperation mit graphicrecording.cool: Räume in Veränderung. Ein visuelles Lesebuch. 17 x 24 cm, 244 Seiten, 200 Abbildungen, 34 Euro
Jovis Verlag, Berlin, 2021

Ein Buch, wie es wahrscheinlich einfach mal versucht werden musste. Der Sonderforschungsbereich 1265 zur »Re-Figuration des Alltäglichen« wird hier in seinen 16 Einzelforschnungsvorhaben vorgestellt. Gearbeitet haben daran Menschen aus der Soziologie, der Geographie, der Kultur und Medienwissenschaft, der Stadtplanung, der Architektur und der Kunst.

Jedes der 16 Einzelprojekte erhält zwischen 10 und 16 Seiten, wird ohne Fußnoten beschrieben und von Johanna Benz und Tiziana Beck mit Cartoons, wie sie inzwischen im Graphic Recording in der Wissenschaftsvermittlung angekommen sind, pointiert und geistreich illustriert. Der Anspruch ist es, den wissenschaftlichen Zugang zu Raum, den wissenschaftlichen Diskurs, die wissenschaftlichen Erkenntnisse so zu vermitteln, dass sie eine Leserschaft jenseits der Expert:innen erreichen, Interesse wecken und auch das Verständnis dafür fördern, welche Relevanz die wissenschaftliche Arbeit jenseits von Spezialistenzirkeln hat.

Worum geht es? „Es geht darum, die Selbstverständlichkeiten des Alltäglichen in einer globalisierten, mediatisierten und zunehmend digitalisierten Welt neu zu entschlüsseln, die  Art und Weise zu dechiffrieren, in der sie uns alle in unserem Handeln begleiten.“ Dieser Satz aus der Einleitung macht deutlich: Nicht immer ist der Transfer in eine Sprache jenseits des Wissenschaftssprech so ganz geglückt. Tatsächlich geht es in diesem verschiedene Wissenschaftsbereiche verbindenden Projekt darum zu verstehen, wie soziale, ökonomische, kulturelle Praktiken darauf einwirken, wie Raum genutzt, verstanden und zugänglich sein kann – und wie das wiederum ganz praktische Wirkungen hat. Darauf, wie Mädchen im Gegensatz zu Jungen Nachbarschaft verstehen etwa oder wie unser Einkaufsverhalten durch globale Handelsbeziehungen beeinflusst wird. Wie Überwachung wirkt und wie digitale Medien die Nutzung der eigenen Stadt beeinflussen. Wie sich globale Migrationsbewegungen in lokaler Architekturproduktion niederschlagen. Von Ausnahmen abgesehen ist die Darstellung und Beschreibung gut zugänglich, verzichtet etwa auf sonst übliche Fußnotenlisten.

Dieses Buch ist ein Experiment – und deswegen sollte man es ihm auch gönnen, dass das, was hier getestet wurde, zu überprüfen. Kommt es wirklich an? Bei wem? Ist der Humor der Zeichnungen zugänglich? Und: Hätte man die Vorstellung der Projekte etwas deutlicher so gliedern müssen, damit man versteht, was die Frage, was die Methode – und vor allem: Warum das Ergebnis des Projekts relevant ist? Dass sich diese Fragen stellen, ist eine Qualität des Buchs – und kein Mangel. Dann dazu musste es einfach mal gemacht werden.


 

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