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Organische Architektur: Architekturtheorie, wenn sie nicht von nüchternen Baufachleuten entwickelt wird, kann eine strapaziöse Angelegenheit sein. Das Philosophische entbehrt nicht einer gewissen Rabulistik. So nützlich diese Auseinandersetzung über organische Architektur und ihre semantische Verortung auch ist, ein wenig journalistische Ironie hätte dem tiefgründigen Diskurs als Lesehilfe gut getan.


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Mirco Limpinsel: Was ist organische Architektur? Topik & Semantik eines mehrdeutigen Begriffs. 116 Seiten, 15,5 x 22 cm, Neuss, Edition Staub, 2019 | ISBN 978-3-928249-79-9 | 12 €

Richtig, die gab’s auch noch. Aber gegenwärtig nach all den abgefeierten -ismen zählt „organische Architektur“ eher zu den weniger brisanten Kulturnotationen wie Minnegesang oder Bandkeramik. Ältere Kollegen werden sich noch an ihr Studium erinnern, als es nur unter endlosen Mühen möglich war, mit störrischen Kurvenlinealen sogenannte freie Körper zu zeichnen und mit „finiten Elementen“ ihr Volumen zu berechnen. Wie verführerisch schien es da, mit Reißschiene und Geodreieck seine Fantasie im Zaum zu halten – sofern man zuvor keine Waldorfschule besucht hatte.

Bildrätsel-Auflösung: bewährter Inselschutz aus Beton (Bild: Wolfgang Bachmann)

Bildrätsel-Auflösung: bewährter Inselschutz aus Beton (Bild: Wolfgang Bachmann)

Darum geht es allerdings nicht in diesem Buch, das kein Architekt, sondern ein Geisteswissenschaftler geschrieben hat. Weder hält sich der Autor mit der Geschichte noch der Wirkung organisch entwickelter Gebäude auf. Was den Leser erwartet, lässt sich absehen, wenn man entdeckt, dass Gerd de Bruyn die Publikation als Mentor und Lektor begleitet hat. Der ehemalige Leiter des IGMA an der Stuttgarter Uni hatte bereits mit seiner „enzyklopädischen Architektur“ in einem Begriffslabor hantiert, in dem nun auch Mirco Limpinsel zuhause ist. Leicht zu lesen ist das alles nicht, vermutlich haben wir als der Philosophie fern Stehende, die zwischen „topischen Plausibilitäten oder mit der Transformation einer Semantik“ herumirren, auch nicht die ganze Tiefe seiner Gedanken erfasst. So viel: Es geht um die Verwendung eines Wortes, um das Organische, dem man weder mit „Begriff“ noch mit  „Metapher“ gerecht werde.
Für Limpinsel ist es ein Topos, also eine stereotype Phrase, um eine Bedeutung ohne beweiskräftige Begründung zu liefern. „Organisch“ gilt als dankbares Beispiel, ein Lieblingswort im 19. Jahrhundert. Was sich damit beschreiben lässt, erhält die Aura des Natürlichen, des Gewachsenen, als sei es ein genuines Attribut vom Schöpfergott.

Irrelevant für die Bezeichnung "organisch": Substanz und Dekar (Bild: Wolfgang Bachmann)

Irrelevant für die Bezeichnung „organisch“: Substanz und Dekor  an einem Hundertwasser-Bau in Bad Soden (Bild: Wolfgang Bachmann)

Tücken der Sprache

Um der hinterhältigen Botschaft des Wortes auf die Schliche zu kommen, analysiert der Autor den Organismustopos und die dahinter stehenden Denkfiguren. In sieben Schritten dekliniert er sich durch beispielhafte Gegensatzpaare wie Haus / Umgebung, Form / Funktion oder Willkür / Notwendigkeit. Den dem organischen Bauen verpflichteten Architekten dient dieser Topos als selektiver Vermittler, der vorgibt, es sei unnötig, sich für eine Richtung zu entscheiden, da das „Organische“ letztlich eine synthetische Einheit in diesem Dualismus herstelle: „Ein guter Entwurf ist dann >organisch< und alle möglichen mit einem Entwurf verbundenen Entscheidungen können dadurch begründet werden, dass sie in einen inhaltlichen Zusammenhang mit einem >Organismus< gestellt werden.“ Um weiche, runde, gewachsene Formen geht es also gar nicht.

Grenzen des Ausdrucks

Nur am Rande wird die politische Reichweite des Topos berührt. Er gehört zu einem biologistisch getränkten Vokabular, das einmal mit Organismus, Wachstum, Gesundheit und Natur rassenhygienische Vorstellungen transportiert hat. Mit ihnen sollte sich ein homogener „Volkskörper“ gegen fremde „Parasiten“ behaupten, ein brauner „Vogelschiss“, auf dem man noch heute ausrutscht. Nach der Lektüre von Limpinsels architekturtheoretischem Traktat traut man seinem eigenen Sprachgebrauch nicht mehr. Insinuiert nicht sogar die Verwendung des Begriffs „Baukörper“, dass ein Gebäude aufrecht steht, symmetrisch angelegt ist und mit Haupt und Gliedern einem anthropologischen Leitbild folgt? Führt uns die organische Architektur also auf einmal in „rechte Räume“?

Ob das Herumgedenke um das Organische irgendetwas verändert, ist nicht die Frage. Aber diese Auseinandersetzung könnte eine Warnung für uns Schreiberlinge sein, sich der unfreiwilligen Katachresen und suggestiven Metaphorik bewusst zu sein, mit der wir in unseren Texten unterschwellig um Zustimmung buhlen.