Stilkritik (75) | In München wurde die Alte Pinakothek saniert, die Glyptothek bereits in Teilen. Eine energetische Sanierung hier, eine etwas weitergehende dort. Das Erbe der Nachkriegsmoderne scheint nicht in Gefahr. Doch der Schein trügt.
Mit biologischen Metaphern in der Architektur ist es so eine Sache. Je weniger man sich vergegenwärtigt, dass es Metaphern sind, dass sie Krücken der Deutung sind, desto problematischer werden sie. Werden sie nicht mehr als Bilder verstanden, die nicht identisch mit dem sind, was sie beschreiben sollen, die eine bisweilen gewaltige Lücke lassen zwischen dem Potenzial von Bedeutungen, der Kontingenz von Erscheinungen, der Vielfalt von Zusammenhängen einerseits und der durch sie fixierten Zuschreibung andererseits, bekommen sie den Charakter einer unumstößlichen Wahrheit, einer naturgesetzlichen Gültigkeit. Wir kommen nicht ohne Metaphern aus, aber hin und wieder ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Metaphern nicht wörtlich genommen werden dürfen. Das Herz der Stadt ist nicht der Muskel, der Blut durch Adern pumpt. Denn die Stadt ist kein begrenzter Organismus wie ein menschlicher Körper. Sie kann wachsen und mehrere Herzen bekommen, ohne dass sie deswegen „krank“ wäre.
Ein Haus hat keine Schmerzen
Eine beliebte Metapher im Umgang mit alter Bausubstanz ist die der Wunde. Sie unterstellt die Verletzung eines Organismus und potenzielle Gefahr, sie suggeriert, dass es ein Individuum gebe, dem Schmerzen zugefügt werden. Eine Wunde im Stadtgefüge unterstellt also, dass die Stadt so homogen sei, wie es der einzelne Mensch ist. Von der Störung einer errichteten und konstruierten Ordnung ist es damit nicht weit zur homogenen Stadtgesellschaft, die als Kollektivsingular einheitliche Interessen und Meinungen haben könnte.
Auf die Architektur bezogen ist die Metapher der Wunde nicht weniger problematisch. Ein Haus hat keine Schmerzen, wenn es umgebaut, verändert, wenn ihm Teile genommen werden, wenn Teile schadhaft werden oder verfallen. Schmerzen hat nur der Mensch, der sich nach Ordnung, Sicherheit, Kohärenz sehnt. Darf er. Aber die Metapher der Wunde unterstellt, dass das Haus gesund oder krank sein kann. Und dass es am besten ist, wenn es gesund ist, dass wir – als wären wir Ärzte – dafür zu sorgen hätten, dass sie gesund sind. Vergessen wir, dass die Metapher der Wunde ein Ausdrucksmittel für einen bestimmten Zusammenhang, einen bestimmten Moment sind, ist das gesunde Haus der Zustand, in dem sich seine Qualität und Funktionstüchtigkeit am besten entfaltet. Gesund muss das Haus entsprechend auch aussehen: ohne „Narben“, ohne „Geschwüre“. Wunden sollten nicht mehr gepflegt werden, wie es die damalige Bundestagsavizepräsidentin Antje Vollmer vor nun schon 17 Jahren gefordert hatte. Es ist sicher richtig, dass, wie Wolfgang Pehnt es in seinem großartigen Essay dargestellt hat, die Inszenierung des Bruchs beim Weiterbauen des Bestehenden nicht zum Dogma werden darf, dass es nicht konkurrenzlos sein darf, wenn Architektur ihr Potenzial entfalten können soll. Genau deswegen ist aber auch die Wunden-Metapher zu kritisieren, wenn sie nicht mehr als Metapher verstanden wird: weil sie dann zwingend vorschreibt, wie man mit „Wunden“ umzugehen habe. Und damit ebenfalls das Potenzial von Architektur einschränkt.
Der Fall München
Das Gebäude, das wie kein anderes für das Paradigma der Sichtbarkeit von Verletzung, von Reparatur und von „Wundpflege“ als Teil einer Erinnerungskultur steht, ist Döllgasts Alte Pinakothek in München. Döllgast ergänzte das im Zweiten Weltkrieg schwer geschädigte Gebäude durch Ziegelmauern, Stahlstützen tragen das Dach, in vielen Details wurde das, was der Krieg anrichtete, sichtbar gelassen worden. Bei der Sanierung in den 1990er Jahren waren Stimmen laut geworden, den als provisorisch empfundenen Wiederaufbau durch eine Rekonstruktion der Vorkriegszustands zu ersetzen. Nun ist eine weitere Sanierung abgeschlossen. Wenn auch die Wundpflege nicht beendet wurde, so hat man doch die Narben poliert und damit wenigstens ein bisschen Arzt gespielt.
Klaus Kinold, ein Liebhaber der Alten Pinakothek, in dessen Werk sie eine wichtige Rolle spielt, zeigt die Änderungen als zusätzlichen Diskussionsbeitrag in der Münchener Ausstellung seiner Arbeiten („Schöpferische Wiederherstellung“, dazu auch das Foto-Essay dieser Woche) und ist dabei auch auf die Veränderungen eingegangen, die man bei der benachbarten Glyptothek vorgenommen hat. Deren Wiederaufbau durch Josef Wiedemann ist vom gleichen Geist getragen – Wiedemann war Döllgast-Schüler: „Waren die Eingriffe, die hier nach Auskunft durch die Museumsleitung unter dem Sammelbegriff – „energetische Ertüchtigung des Gebäudes“ – legitimiert werden sollen, überhaupt alle und vor allem in dieser Form notwendig? Hätte vieles nicht behutsamer ausgeführt und im Detail besser gestaltet werden können? Insbesondere auch im Hinblick auf weitere Sanierungen, die sicherlich nicht ausbleiben werden, wie etwa die jetzt laufenden Sanierungsarbeiten an der Glyptothek am Königsplatz“, so schreibt Kinold auf einer der Ausstellungstafeln. Und tatsächlich sind Wiederherstellung ursprünglicher Elemente teils geplant, teils wieder durchgeführt. Deren Direktor Florian Knauß plant so unter anderem die Klenze-Fassade wieder mit dem zerstörten Figurenprogramm zu rekonstruieren.
Wenig Verständnis für Döllgast
Man muss nun nicht die Befürchtung des Dammbruchs mit der Rekonstruktion der ursprünglichen Klenzebauten an die Wand malen, um das Heikle des Geschehens zu verdeutlichen. Es besteht vor allem in dem, was dem Denken Döllgasts widerspricht: die Vorstellung vom Haus, das geheilt werden könne. Und das man auch heilen soll, es wäre sonst ja unterlassene Hilfeleistung. Das schränkt die Architektur auf die Vorstellung eines Idealzustands ein, der nicht mehr verändert werden muss, ein ungeschichtlicher, der auch nicht mehr von Geschichte, von deren Glück wie Versäumnissen und Wirrnissen erzählen muss, und dies in einem Gestus des Selbstverständlichen – es geht ja „nur“ um die energetische Sanierung –, der zeigt, wie wenig man noch versteht, was Döllgast einst geleistet hat. (Er hat um Übrigen die Alte Pinakothek gerettet: sie wäre nämlich abgerissen werden, hätte Döllgast nicht mit seinem Vorschlag des preisgünstigeren Wiederaufbaus überzeugt.) Es geht nicht darum, dass Döllgast sakrosankt und – ausgerechnet er – von einer Käseglocke überwölbt werden müsse. Im Gegenteil: Es geht darum, nach Wegen zu suchen, seine Provokation, sein Denken anschaulich zu machen, hervorzuholen, damit es nicht unter der Routine erstarrt, die seiner Zerstörung erst Vorschub leistet – genau so wie es mit dieser Sanierung begonnen wurde. Hier zeigt sich, welch bedenkliche Wirkung die ins Unhinterfragbare eingesickerte Vorstellung der „Wunde“ leistet, von der man vergessen hat, dass sie nur Metapher ist.
Metaphern haben die Eigenschaft, dass sie vielfach eingesetzt werden können. Wenn eine buddhistische Weisheit sagt, „die Wunde ist die Stelle, an der das Licht in den Körper dringt“, dann ist nicht gemeint, dass man sich Schnitte zufügen solle, damit endlich Licht an die im Dunkeln leidenden Organe kommt. Die Wunde ist hier die Metapher dafür, dass Leiden angenommen werden darf, weil es dann Potenziale der Erkenntnis bietet. Auch so könnte man einmal die „Wunden“ an Gebäuden verstehen. Man könnte zum Beispiel verstehen, dass die Wunden an Häusern eben keine Wunden sind.