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Eine Lücke im Wissen um die Berliner Bauakademie ist mit einem „Opus Magnum“ geschlossen: Was wir zu wissen glaubten, wird in einem meisterhaften Werk in Sachen Architekturgeschichte und Architekturtheorie korrigiert und ergänzt. Ein Muss für alle, die Architektur lehren.

Christian Salge: Baukunst und Wissenschaft. Architektenausbildung an der Berliner Bauakademie um 1800. 496 Seiten, 33 Farb- u. 46 sw-Abbildungen, Format 24 x 28 cm, Gebr. Mann, Berlin 2021, 79 Euro. ISBN 978-3-7861-2855-7

Christiane Salge: Baukunst und Wissenschaft. Architektenausbildung an der Berliner Bauakademie um 1800. 496 Seiten, 33 Farb- u. 46 sw-Abbildungen, Format 24 x 28 cm, Gebr. Mann, Berlin 2021, 79 Euro.
ISBN 978-3-7861-2855-7


Ungeachtet aktueller politischer oder personeller Implikationen der Bauakademie in Berlin glaubten wir, den schon zu DDR-Zeiten abgebrochenen Altbau von Karl Friedrich Schinkel ausreichend gut zu kennen. Wie wir auch das zu kennen glaubten, was in diesen heiligen Hallen und vorausgegangen Institutionen gelehrt wurde. Selbst die Namen der wichtigsten Lehrer und Absolventen schienen uns einigermaßen geläufig. Allerdings nur bis zu diesem alles in den Schatten stellenden Buch: Christiane Salges epochale Arbeit »Baukunst und Wissenschaft-Architektenausbildung an der Berliner Bauakademie um 1600«, jüngst erschienen im Gebrüder Mann Verlag  Berlin. Wobei der Titel reines Understatement ist. Denn Salge präsentiert uns in ihrem von der DFG geförderten Projektbericht zunächst einmal ein schier atemberaubendes Panorama aller europäischer Architekturschulen inklusive deren Didaktik aus dem Zeitraum des 17. Jahrhunderts bis etwa 1825.
Der Schwerpunkt von Salges Arbeit liegt dann aber vor allem auf der Architektenausbildung an der Berliner Akademie der Künste und der mechanischen Wissenschaften (1696 bis 1780), gefolgt von ersten Reformbewegungen (1770 bis 1799). Daran schließt sich eine detaillierte Darstellung weiterer Reformen bis zur Gründung der Bauakademie im Jahre 1799 an sowie eine genaue Erfassung und Analyse des Lehrbetriebs bis zum Jahre 1825.

Lohn der Präzision

Und dann bringt Christinane Salge etwas eigentlich fast Unvorstellbares zuwege, nämlich eine lückenlose Aufschlüsselung aller Lehrenden, Studierenden inklusive der jeweils zugrunde liegenden Lehrpläne. Wobei das eigentlich Unvorstellbare darin liegt, dass dies nicht etwa tabellarisch geschieht, sondern dass auch das gesamte sozialökonomische Umfeld erschlossen wird. Gehälter und Arbeitsbelastungen der Lehrenden werden dabei ebenso berücksichtigt wie detailliert aufgeschlüsselte Stundenpläne oder die soziokulturelle und regionale Herkunft der Baueleven.
Im vorletzten großen Kapitel stellt uns Salge ganz präzise die einzelnen Räumlichkeiten der Bauakademie sowie alle nach Unterrichtseinheiten und Professoren aufgegliederten Theorien und Lehrkonzepte der Akademie vor. Das letzte Kapitel schließlich vergleicht die Bauakademie von ihren Inhalten her mit wahlverwandten Institutionen in Wien, München  und Karlsruhe.

Wer, wie, warum

Als wäre all das nicht schon mehr als genug folgt ab Seite 313 ein sogenannter Anhang, der vermutlich die Untertreibung des Jahres 2021 verkörpert. Denn sein Inhalt hätte locker ein weiteres Grundlagenwerk zum Thema Bauakademie erschöpfend füllen können. Hier ist es Salge nämlich sage und schreibe gelungen, alle, aber wirklich auch alle Lehrenden einzeln zu erfassen, biografisch vorzustellen und ihre Bauten, Lehrbücher, Ehrungen, Nachlässe und Weiteres dingfest zu machen, jeweils untermauert mit entsprechenden Literaturangaben. Mit gleicher Akribie werden des weiteren wirklich alle Schüler der Vorgängerinstitution und der Bauakademie nicht nur tabellarisch erfasst, sondern in alphabetischer Reihenfolge ebenfalls einzeln biografisch vorgestellt bis hin zu den von ihnen belegten Fächern und ihrem späteren beruflichen Werdegang. Schülerlisten der Münchener Kunstakademie aus der Fachrichtung Architektur von 1808 bis 1824 und statistische Auswertungen des Lehrbetriebs der Berliner Bauakademie runden das Ganze erschöpfend ab. Selbstredend wird das alles auf kohärente Weise wissenschaftlich unterfüttert mit einschlägigen Fußnoten, Querverweisen, Quellenangaben und bibliografischen Hinweisen, in welchen es hin und wieder regelrechte Trouvaillen zu entdecken gibt.
Christiane Salge hat uns mit dieser Arbeit ein „Opus Magnum“ im wahrsten Sinne des Wortes vorgelegt. Denn schließlich verkörpert ihr Werk das Resultat jahrelanger, wenn nicht gar jahrzehntelanger akribischer wissenschaftlicher Recherchen und Analysen in Sachen Architekturausbildung um 1800. Herausgekommen ist dabei nicht nur  ein erheblicher Mehrwert an Erkenntnis, sondern ein regelrechtes Kabinettstück in Sachen Architekturgeschichte und Architekturtheorie.

Seiten aus dem besprochenen Band

Seiten aus dem besprochenen Band

Vermittlungslust

Zu guter Letzt gilt auch dem Grafiker des Bandes ein große Lob. Weil es ihm zweifelsfrei gelungen ist, 496 Seiten komprimierte Hard-Core-Wissenschaft in einem großformatigen Band so ansprechend aufgelockert unterzubringen, das sich trotz wissenschaftlicher Aureole ein Hauch von bibliophiler Anmutung einschleicht. Dennoch sei eine letzte Warnung angebracht: Das Buch ist wahrhaftig kein Coffeetable-Book für bildverliebte Leserinnen und Leser; kein Buch, das man mal eben ins Reisegepäck verstaut. Christiane Salges Buch erfordert Zeit, Muße und Konzentration, weil es Architekturgeschichte vom Feinsten verkörpert. In keiner öffentlichen Bibliothek sollte es fehlen. Darüber hinaus ist Salges Werk ein Muss, weniger für eingefleischte Architekten als vielmehr für jeden neugierigen Architekturforscher, vor allem aber für alle Architekturlehrenden.