»Ich will Architektur zeigen, wie sie ist« – sagt Klaus Kinold über seine Herangehensweise an die Architektur. Das ist so ambitioniert wie irritierend. Denn so hätte es auch Alfred Meydenbauer, der Gründer der Königlich Preussischen Messbild-Anstalt formulieren können – und hätte doch etwas ganz anderes damit gemeint. Denn zwischen seiner schattenlos, dokumentarischen Messbild-Präzision und Kinolds Auffassung von Architekturfotografie liegen Welten.Sigrid Neuberts Credo war nicht so unnachgiebig apodiktisch. Sie ist „mit der Sonne durch den Tag gegangen, um die Verwandlungen zu beobachten.“ Der Schweizer Fotograf Hans Danuser geht noch weiter. Er ist der Auffassung, man könne Architektur erst dann fotografieren, wenn man sie mindestens ein Mal zu allen Jahreszeiten betrachtet habe. So radikal hat Sigrid Neubert nicht gearbeitet, zumal die meisten Auftraggeber nicht so lange auf ihre Bilder hätten warten wollen. Aber für sie stand fest, dass Architektur niemals nur ein Gesicht hat. Sie hätte Kinolds Grundsatz wohl abgewandelt in: Ich will Architektur zeigen, wie sie erscheint.
Wäre es nach dem Willen ihrer Eltern gegangen, hätte sie Medizin studieren sollen. Aber sie konnte sich durchsetzen mit ihrem Wunsch, Fotografin zu werden und studierte von 1948 – 1954 an der Staatslehranstalt für Lichtbildwesen in München. Nach dem Abschluss des Studiums begann sie zunächst als Werbefotografin, wechselte aber sehr bald zur Architekturfotografie. Das war mutig, denn diese Sparte war damals von Männern dominiert. Sie musste sich messen (lassen) an Fotografen des Kalibers Heinrich Heidersberger (1906-2006, Wolfsburg), Gabriele Basilico (1944-2013, Mailand), Martin Charles (1940-2012, London), Ezra Stoller (1915-2004, Chicago), Julius Shulman (1910-2009, Los Angeles)… und hat sich durchgesetzt. Mit einer klaren Bildsprache, die bald zu ihrem Markenzeichen wurde. Selbstverständlich schwarzweiß – ja, es gab Zeiten, in denen das in der Architekturfotografie selbstverständlich war –, mit kräftigen Schatten und tiefdunklem Himmel. Diese Art, Architektur leicht dramatisiert darzustellen, gefiel den Architekten – außerdem war die Bilderwelt in Fachzeitschriften und -büchern sowieso ausschließlich schwarzweiß.
Anfänglich hat sich Sigrid Neubert ihre Auftraggeber noch suchen müssen – doch sehr bald kehrte es sich um: Architekten suchten sie. Ihre Bilder waren gefragt. Mit ihren Bildern konnte man bei Fachzeitschriften reüssieren.
Sigrid Neubert hat für viele Architekten im süddeutschen Raum und in Österreich fotografiert. Die Liste ihrer Auftraggeber liest es sich wie ein »who is who« der »angesagten« Architekten: Günther Behnisch, Alexander von Branca, Bea und Walter Betz, Hans Maurer, Karl Schwanzer, Manfred Lehmbruck u.a.
Seit den frühen Neunziger Jahren hat sich Sigrid Neubert fast ausschließlich der Natur gewidmet. Sie hat dabei nicht nur ein neues Sujet entdeckt, sondern auch die für die Nachkriegs-Architekturfotografie so prägende, klassische Schwarzweiß-Technik hinter sich gelassen. So ein Schritt ist gravierender als es sich zunächst anhört. Fotografieren in schwarzweiß ist ein ganz anderes Metier als die Farbfotografie. Ungefähr so weit voneinander entfernt wie Stummfilm und Tonfilm. Viele Fotografen mit brillantem Schwarzweiß-Oeuvre sind beim Wechsel zur Farbe gescheitert (zum Beispiel Gerhard Ullmann, der seine Stadt Berlin in unvergesslichen Schwarzweißfotos porträtiert hat). Sie nicht. Mit ihren Farbfotos von Blumen hat sie eine ganz eigene Bildsprache entwickelt – näher an der Malerei als an der Fotografie. Näher an Emil Nolde als an Karl Blossfeldt.
Am 13. Oktober ist Sigrid Neubert im Alter von 91 Jahren in der Nähe von Berlin gestorben. Viele ihrer Bilder sind zu Ikonen geworden. Mit diesen Bildern wird sie in Erinnerung bleiben.