Die Ästhetik der Ozeanriesen in Le Havre: Viel ist in den Zeiten von Donald Trump von der Krise der transatlantischen Beziehungen die Rede. Dabei ist die Zeit, um den Atlantik zu überqueren, längst auf wenige Stunden zusammengeschnurrt. Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ganz anders, als die Überquerung des Ozeans mit dem Schiff mehrere Tage dauerte. Die Reise duftete nach Abenteuer, und sie schmeckte nach Luxus – sofern man sie sich leisten konnte.
Épreuve gélatino-argentique, 20 x 25 cm, Le Havre, French Lines & Compagnies, patrimoine maritime et portuaire (Copyright: MUMA Le Havre)
Einem besonderen Kapitel dieses Abenteuers widmet sich die sehenswerte Ausstellung „Paquebots 1913-1942“ im „MuMa“ in Le Havre (leider nur bis 23. September). In ihrem Zentrum steht die „Normandie“, das zu ihrer Zeit größte und schnellste der „Paquebots“. Ein Ozeandampfer, der als ein Fest maritimer Eleganz und des Komforts galt. Im Mai 1935 brach sie von der Küste der namensgebenden Normandie zu ihrer Jungfernfahrt nach New York auf. Schon bei der Hinreise gewann sie das legendäre Blaue Band für die schnellste Transatlantiküberquerung. Jedoch nur, um diese Rekordzeit auf der Rückfahrt erneut zu unterbieten.

Paul Iribe: Speisesaal in der ersten Klasse der „Normandie“; La Salle à manger de la première classe de Normandie, brochure publicitaire de la Compagnie Générale Transatlantique, vers 1935. Papier cartonné imprimé, 30,5 x 24,3 x 0,4 cm (Copyright: Collection Saint-Nazaire Agglomération Tourisme – Écomusé)
Maritimer Luxus
Mit farbmächtig stilisierten Werbeplakaten aus den 1930er-Jahren führt die Ausstellung ihre Besucher in die aufregende Welt der Atlantiküberquerungen ein. Damals herrschte zwischen den Nationen ebenso wie zwischen den Reedereien eine ausgeprägte Konkurrenz um jenes Publikum, das sich nach der Weltwirtschaftskrise 1929 solche Reisen leisten konnte. Die Schönen und Reichen, darunter auch etliche Filmstars, wurden mit Eleganz und Luxus auf ihrer Atlantiküberquerung verwöhnt. Legendär muss der Speisesaal der Normandie gewesen sein, der in der Ausstellung ebenso in zeitgenössischen Fotografien dokumentiert wird, wie das innenliegende Schwimmbad des Schiffes. Dessen Wanddekoration stammte von dem in Le Havre geborenen Raoul Dufy (1877-1953). Unnachahmlich sind die musikalisch anmutende Leichtigkeit seiner Pinselführung und die delikate Farbwahl, mit der Dufys Wasserwelt bezauberte. Was für ein Glück, dass das Museum auch jenseits der aktuellen Ausstellung eine ganze Reihe seiner Werke zeigt.
Die Ausstellung erweist sich als eine Feier der Schiffsästhetik, der stromlinienförmigen Sonderform des Art Deco, der „Style Paquebot“. Seit Mitte der 1920er-Jahre hatte er Architektur und Malerei ebenso ergriffen, wie Fotografie, Mode, Werbung und Kunsthandwerk. Beispielhaft dafür werden ein Sessel und eine kleine Kommode aus Haus E1027 von Eileen Gray vorgestellt. Vor allem aber sind es Fotografien, die die technische Schiffsästhetik in allen Facetten zeigen. Sei es mit einer dramatischen Untersicht des Vorderstevens der Normandie (Fotograf unbekannt), einem Blick in einen Maschinenraum (Fotograf Roger Schall) oder auf die Schiffschraube (Fotograf François Tuefferd). Zauberschön sind zudem die nächtlichen Schiffslichter auf dem Meer, die Amédée Ozenfant 1949 in seinem Gemälde „Lumières sur l’eau“ eingefangen hat. Der Spaziergang durch die Ausstellung lässt die Assoziationen nur so hervorpurzeln. Stammte das Pariser Atelier von Ozenfant doch von Le Corbusier, dessen technische Architektur jener Jahre gleichermaßen von der Schiffs- wie von der Automobil- und Flugzeugästhetik berauscht war. Zudem war Ozenfant mit Erich Mendelsohn befreundet. In dessen Berliner Haus an der Havel hing ein Gemälde Ozenfants und sein 1935 mit Serge Chermayeff verwirklichter De-La-Warr-Pavillon in Bexhill-on Sea war ebenfalls von maritimer Gestaltungslust durchdrungen. Doch der heiße Atem dieser see-seligen Avantgarde verrauchte vor den Salons der Normandie. An seine Stelle trat dort ein schwülstiges Dekor, das den Architekten Robert Mallet-Stevens zu scharfer Kritik anregte. Einzig die Küche der Normandie wusste er zu loben. Mallet-Stevens eigenes Werk war von seiner Faszination für die Formen der Schiffe durchdrungen, für Seezeichen, Reling und Kommandobrücke, wie der sensationelle „Dampfer“ seiner gewaltigen Villa Cavrois bei Lille zeigt, die vor einigen Jahren beispielhaft saniert wurde. Darüber hinaus zeigt der Katalog einen technisch anmutenden Entwurf von Mallet-Stevens für eine Schiffskabine dritter Klasse. Ergänzt wird die anregende Auswahl der Objekte und ihre gelungene Präsentation durch kurze literarische Zitate von Fernando Pessoa bis zu Blaise Cendrars, die der Ausstellung eine poetische Note verleihen.

Katalog, hrsg. vom Musée d’arts de Nantes, MuMa et In Fine, 2024. 280 Seiten, 230 × 290 mm, 32 €
ISBN 978-2-38203-205-3
Klägliches Ende
Der Glanz der Normandie leuchtete nur wenige Jahre auf den Titelseiten der Magazine und auf dem Atlantik. Ihr Ende mutet wie ein bitteres Omen dessen an, was der Stadt Le Havre kurz darauf widerfuhr: Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lag das Paquebot in New York, um sicher vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu sein. Die USA verweigerten seine Rückgabe an die Vichy-Regierung und beschlagnahmten den Ozeanriesen, um ihn zu einem Truppentransporter umzubauen. Bei den Arbeiten fing das Schiff Feuer und brannte vollständig aus. Nicht besser erging es Le Havre: Die von den Nationalsozialisten besetzte Stadt wurde im September 1944 von den Alliierten bombardiert und das Zentrum nahezu vollständig zerstört. Doch während man die Normandie nach dem Brand nur noch abwrackte, wurde Le Havre nach den Plänen von Auguste Perret wieder aufgebaut. Das neue Zentrum der Stadt, das sich zwischen den Türmen des Hôtel de Ville und der atemberaubenden Betonkirche Saint Joseph mit den von Marguerite Huré geschaffenen farbigen Glasfenstern erstreckt, gehört inzwischen seit 20 Jahren zu den UNESCO-Welterbestätten. Das „MuMa“ selbst, in dem die Paquebots gezeigt werden, ist ein später Baustein dieses Wiederaufbaus, entstanden nach einem Entwurf von Guy Lagneau und Raymond Audigier. Mittlerweile trägt es den Namen André Malrauxs, des verdienstvollen französischen Schriftstellers, der unter Charles de Gaulle Kulturminister war und die französische Tradition der Kulturhäuser begründete.
Nachklang
Vor dem Museum breitet sich eine entspannte Hafenatmosphäre aus. Am Kai hat ein gewaltiges Kreuzfahrschiff festgemacht. Es ist viel größer, als es die Normandie war, so dass es Perrets Hochhäuser am Hafen überragt. Immerhin: Für diejenigen, die wollten, eröffnet sich ab und an noch einmal eine Gelegenheit, mit einem Ozeandampfer den Atlantik zwischen Le Havre und New York zu überqueren. Doch die große Zeit der Paquebots ist ebenso vorbei wie die der einzigartigen Ästhetik, die sie einst begleitete. Den schönen Ausstellungskatalog im Gepäck, spazieren wir zu den umgenutzten Docks der Stadt und erfrischen uns in Jean Nouvels Schwimmbad, das mit Schiffsassoziationen ebenso spielt wie mit Durchblicken in die Stadt Le Havre. Anschließend brechen wir auf, überqueren die Seine über die Pont de Normandie und gelangen kurz hinter dem trubeligen Honfleur zu einem ganz anderen „Paquebot“. Es ist ein kleines Hotel, das 1937 nach Entwurf von Louis Lemaire als Casino von Villerville entstanden war und 2020 von Hemon architects umgebaute wurde. Seine Balkone und Bullaugen spielen mit dem „Style Paquebot“. Von der Terrasse aus öffnet sich der Blick auf den Strand mit Resten von alten Nazi-Bunkern des Atlantikwalls und hinüber auf die eindrucksvolle Silhouette Le Havres. Hier ist ein guter Ort, um bei einer „Assiette de fruits de mer“ über den Untergang der Ozeanriesen nachzudenken und über den steten Wandel der transatlantischen Beziehungen.
https://www.muma-lehavre.fr/fr/expositions/paquebots-1913-1942-une-esthetique-transatlantique
