Der am 20. November vergebene Schelling-Architekturpreis 2024 legte erstmals in seiner Geschichte, die 1992 mit den Preisen an Coop Himmelb(l)au und Werner Durth begonnen hatte, den Fokus auf die Landschaftsarchitektur. Das Büro LOLA Landscape Architects aus Rotterdam gewann den Preis der Jury, Bureau Bas Smets aus Brüssel erhielt den Publikumspreis.
Dass die diesjährige Verleihung der alle zwei Jahre vergebenen Schelling-Architekturpreise für Architektur und Architekturtheorie etwas anders verlaufen würde als die vorherigen, war schon bei der Bekanntgabe der Nominierten absehbar. Hatte sich die Jury bisher auf die Auswahl einzelner Architekturschaffender und deren Werk konzentriert (darunter sechs spätere Pritzker-Preisträger*innen), entschied man sich in einem eineinhalbjährigen Auswahlprozess dieses Mal für einen thematischen Rahmen, der das Schaffen aller Ausgewählten umfasst. Der Leitgedanke „Deep Transformations — Erde, Landschaft, Architektur“ richtete den Fokus dezidiert weg von der Objekthaftigkeit der Architektur und hin zu den Landschafts- und Zwischenräumen.
Ecological turn
Diese Würdigung des ecological turn in Zeiten des Klimanotstands kam zur rechten Zeit und spiegelt auch die zunehmende Aufmerksamkeit, die der Freiraum und seine Gestalter*innen in den letzten Jahren erfahren haben. Zu oft galt die Landschaftsarchitektur aus der hochnäsigen Perspektive vieler Architekt*innen als eine Sekundärdisziplin, mit der Aufgabe, die Lücken zwischen Bauwerken hübsch aufzufüllen, und im Grunde könne man das Gestalten von Freiräumen ja „irgendwie eh auch selbst.“ Heute hat sich die Profession der Landschaftsplanung – spät, aber immerhin – emanzipiert, und auch Architekturschaffende haben realisiert, dass hier weit mehr Expertise vorhanden ist als das Wissen um lateinische Namen von Gehölzen, die man in Wettbewerbspläne hineinschreibt. Die Zeitenwende der von der Schelling-Jury formulierten „Deep Transformations“ stellt die berechtigte Frage, ob nicht die Landschaft und alles was sie umfasst (Boden, blau-grüne Infrastruktur, Geografie, Geologie, Mikroklima, Biodiversität) überhaupt in der Planung Priorität gegenüber der Architektur haben sollte und sich das Gebaute in dieses lebendige Netzwerk einzuordnen habe.
Bei der Auswahl der Kandidaten wurde auf bekannte und etablierte Namen wie West 8 oder Topotek zugunsten der (etwas) jüngeren Generation verzichtet. Die drei Nominierten aus Belgien, den Niederlanden und Spanien haben vieles gemeinsam und doch ihr eigenes Profil.
Die katalanische Landschaftsarchitektin und Agronomin Teresa Galí-Izard und ihr Büro Architectura Agronomia (Barcelona) wendet ihr stetig durch Forschungsanordnungen erweitertes Wissen aus der Landwirtschaft auch im städtischen Raum an. Für den Parque de Los Cuentos in Málaga entwarf Galí-Izard einen Garten, dessen Bepflanzung sie aus dem Radius von Sprinklern heraus entwickelte, eine Ästhetik der intelligenten Sparsamkeit, und ein Beispiel ihres Prinzips der „regenerativen Empathie.“ Der von ihr geleitete und fast esoterisch benannte „Chair of Being Alive“ an der ETH Zürich spiegelt diese ganzheitliche Sicht auf die Umwelt als lebendiges Gesamtsystem wider, in dem die Trennung von Stadt und Land zur Nebensache wird, ebenso wie jene zwischen Menschen und anderen Lebewesen.
LOLA Landscape Architects aus Rotterdam sind Teil der langjährigen Tradition der niederländischen Landschaftsplanung, die in diesem sich stets neu erfindenden und Land mit seiner menschengemachten Natur in besonders großen Maßstäben denkt. Gleichzeitig haben die Gründer Erik-Jan Pleijster, Cees van der Weken und Peter Veenstra ihr Profil auch aus einer Unzufriedenheit mit genau dieser Tradition heraus geschärft. Ihr Büroname, eine Abkürzung von „Lost Landscapes“ inkludiert explizit auch die Stadt und deutet sie als verlorene und wiederzugewinnende Landschaft, in die sich das Gebaute einzufügen hat. Ihre Projekte umfassen Kleingärten mit Bürgerbeteiligung (der „Ring of Gardens“ im niederländischen Leiden, für die rund 1000 Ideen von Anwohner*innen gesammelt wurden), Dachlandschaften und Deichprojekte, Food Gardens, einige Kooperationen mit MVRDV, sowie riesige Parkanlagen in China, wie dem 128 Hektar großen Shenzhen Bay Park (Fertigstellung 2026) mit seinem viereinhalb Kilometer langen roten Steg. „LOLA bringt die verborgenen Schichten der Landschaft an die Oberfläche und arbeitet direkt von der Basis des Bodens aus,“ hieß es in der Laudatio. „Es gibt nur wenige Planer, die sich so breit aufgestellt haben und das große Ganze im Blick haben wie LOLA. Viele ihrer Projekte betreffen die Transformation nicht mehr genutzter Industrieareale oder großer Sportanlagen. Damit sind sie vermehrt Impulsgeber für komplexe Stadtumbauprojekte geworden.“
Das Bureau Bas Smets aus Brüssel wiederum verknüpft die immer noch für viele abstrakten Klimaszenarien der globalen und lokalen Erwärmung mit konkreten Maßnahmen und macht sie dadurch spür- und planbar. Für Paris entwickelte Bas Smets mehrere Szenarien von abgestuft dystopischem Gehalt: Bei 5 Grad Erwärmung wäre Paris im Jahre 2100 nur noch als „Paris Underground“ überhaupt bewohnbar. Die analytisch-forschende Kartierung von urbanen Hitzeinseln bricht diese Szenarien auf den kleineren Maßstab herunter und bildete auch eine Grundlage für die Planung des Umfelds der dieser Tage wiedereröffneten Kathedrale Notre Dame. Den Landschaftspark des LUMA in Arles entwickelte Bas Smets auf einem ehemaligen Industrieareal, dessen Fläche großteils mit Betonplatten belegt war. Um dieses weitgehend leblose, vom Mistral durchfegte Areal zu transformieren, wurde als erstes die topfebene Fläche zu einer Topografie mit schattigen, sonnigen und windgeschützten Bereichen geformt, in der sich quasi von selbst unterschiedliche mikroklimatische Zonen entwickelten. Die Vegetation und eine große Wasserfläche waren der nächste Schritt. Heute sind hier 37 neue Vogelarten heimisch geworden.
Architektur, Theorie und Politik
Für den Architekturtheoriepreis 2024 war einstimmig Künstler*, Theoretiker* und Autor* James Bridle (UK) gewählt worden. Bridles Werk, insbesondere „Ways of Being: Animals, Plants Machines: The Search for a planetary intelligence” (2022) verbindet die vermeintlich konträren Themen von Technologie, KI und Big Data mit der komplexen Intelligenz von Lebewesen, von der wir noch viel zu wenig wissen. Ein (Noch-)Nicht-Wissen, dass laut Bridle durchaus ermutigend ist, weil es die Allmacht des Menschen über seine gebaute Umwelt in Frage stellt. Ein theoretisches Komplementär zur Deep Transformation des Planens, das auch den Determinismus der planenden Zunft und ihrer Szenarien provokativ in Frage stellt.
Eine solches thematisches Ineinandergreifen gab es beim Schelling Architekturpreis selten, doch zwei Tage vor der Preisverleihung in Karlsruhe fiel es wieder auseinander. In einer Pressemitteilung gab die Schelling-Privatstiftung am 18. November 2024 bekannt, keinen Theoriepreis zu vergeben und schickte tags darauf noch eine zusätzliche Erklärung nach. Man war darauf aufmerksam gemacht worden, dass James Bridle unter den über 5.500 Unterzeichnenden eines offenen Briefes war, in dem sie bekanntgaben, ab sofort nicht mit jenen israelischen Kultureinrichtungen zusammenzuarbeiten, „that are complicit or have remained silent observers of the overwhelming oppression of Palestinians“.
Man kann sich natürlich fragen, inwiefern ausgerechnet Kulturinstitutionen eines Landes verantwortlich sind für politisch-militärische Aktionen seiner Regierung, und wie die Position dieser Institutionen verifizierbar wäre. Die eher defensiv aus ihrer eigenen Rolle heraus argumentierte Entscheidung der Schelling-Architekturstiftung und Jury war zwar nachvollziehbar, gleichzeitig aber auch Teil eines Klimas von sich in der deutschen Kulturlandschaft inzwischen verselbstständigt habenden, quasi-rituellen und vorhersehbaren Distanzierungsperformances, die dazu dienen, sich präventiv Beschuldigungen zu erwehren. Die elementare historische Verpflichtung, aufmerksam gegenüber antisemitischen Tendenzen zu sein, steht außer Frage, doch mündete dies in den letzten Monaten nicht selten in eine sehr deutsche Beschäftigung mit sich selbst, die sich für die realen Geschehnisse in Palästina kaum zu interessieren scheint. Die Reaktionen auf die Nichtvergabe des Preises an James Bridle waren so heftig wie erwartbar – auch Bridle selbst veröffentlichte am 19. November 2024 ein Statement.
Das eigentliche und wichtige Thema der „Deep Transformations“, um das es beim Schelling-Architekturpreis gehen sollte, geriet dabei in den Hintergrund und die anderen Nominierten in die Zwangslage, sich binnen weniger Stunden ebenfalls politisch positionieren zu müssen, wo sie doch einfach für ihre Arbeit geehrt werden sollten. Tereza Galí-Izard hatte sich am Abend vor der Preisverleihung aus beruflichen Gründen entschuldigt und war nur in Form des von den Nominierten geforderten Präsentationsfilms präsent, wodurch Bas Smets und LOLA mit Eric Jan Pleijster und van der Veeken als einzige in Karlsruhe anwesend waren. Deren gemeinsam formuliertes Statement, das sie bei der Preisverleihung verlasen, traf in seiner ruhigen Ausgewogenheit mit klaren Worten genau den richtigen Ton.
Der Preis der Jury ging nach der Präsentation und kurzen Podiumsdialogen an LOLA, der Publikumspreis an Bas Smets – ein ebenso angemessenes und ausgewogenes Ergebnis. Und die globale Verantwortung für die gewachsene und gebaute Umwelt und das Überleben im Klimanotstand geriet so wieder in den Mittelpunkt, wo sie auch hingehört.