„Neu Denken“ – als adverbiale Ergänzung erscheint der Begriff „neu“ als qualitative Aufwertung des Denkens an sich. „Neu Denken“ wird aber derzeit mehr und mehr wie ein Marketingbegriff benutzt – und darin liegt ein gewaltiges Problem.
Alles und Jedes wird derzeit „neu gedacht“. Wer für ein Thema (zum Beispiel die Mobilität), ein Produkt (zum Beispiel den Bleistift oder ein Küchengerät) oder eine Werteorientierung (zum Beispiel die Empathie oder Solidarität) „neu denken“ einfordert oder für sich beansprucht, dies alles neu denken zu können, lässt das bislang Gewusste einfach mal außen vor. Das kann erfrischend sein.
Das Neue
„Neu“ zu denken lässt allerdings bei genauerer Begriffsanalyse des Adverbs das Wissen der Menschheit kategorisch hinter sich. Mit teils nervigen Randerscheinungen: Die vor geraumer Zeit in Angriff genommene Aktualisierung des Kultursenders SWR2 (Radio) wird zum Beispiel im jetzt „SWR Kultur“ immer noch mit dem nervigen Gesäusel „Kultur neu entdecken“ begleitet. Faktisch bleibt beim SWR sehr viel gegenwärtige Kultur auf der Strecke. Und was „neu entdeckt“ wird, erschließt sich mir bislang nicht.
Die aufs Neue ausgerichtete, gedankliche Herangehensweise ist ontologisch selbstverständlich, nähert sich proklamierend, selbstpositionierend aber dem Revolutionären, dem Umstürzenden, dem Sensationellen, dem Neuanfang in anderen Bereichen als Fantasie oder Einfallsreichtum auch aus sehr banalen Gründen an. Kulturhistorisch kommt dabei immer in den Sinn, dass „neuer Wein in alten Schläuchen“ die Menschheitsgeschichte seit jeher begleitet. Was also hat es mit dem „neu Denken“ auf sich? Was unterscheidet gegenwärtig zum Beispiel das neu vom anders Denken? Oder vom Originellen?
Historisieren – das Gewesene vergegenwärtigen
Das Neue im Denken zu proklamieren, setzt voraus, dass es etwas Altes im Denken gegeben haben muss. Historie (das Gedachte) wird also durch die Historisierung (durch gegenwärtiges Bewerten des Gedachten) voneinander unterschieden. Grundsätzlich kann das wertfrei sein. Gar nicht wertfrei wird beim „neu Denken“ jedoch ein Bruch, eine Zäsur, eine aktuell heiß debattierte „Zeitenwende“ oder was auch immer manifestiert, das seinen Reiz, seine Dringlichkeit aus dem vermeintlich „Neuen“ bezieht. Nun ist das „Neue“ in allen Denk- und Schaffensbereichen des Menschen längst eine Kategorie, die sich in der Wissenschaft als Erkenntnis, in Produktion oder Planung als Innovation, im politischen Extrem als Revolution, im Architektonischen als Originalität offenbart. Von Kant bis Groys manifestiert sich Skepsis gegenüber dem Neuen genauso wie die Begeisterung dafür.
Architektur „neu denken“?
Das „neu Denken“ beansprucht für sich eine Abkehr vom Veralteten und stattdessen eine Gegenwärtigkeit, die ihresgleichen nicht habe. Wer die Schularchitektur beispielsweise „neu denkt“, muss sicher sein können, dass es ihresgleichen noch nicht gegeben hat. Vertreter künstlicher Intelligenz, postkoloniale Theorien, Zukunftsvorstellungen aller Art rühmen sich des „neu Denkens“.
Die Abgrenzung zum „alt Denken“ suggeriert die Besonderheit des vermeintlich Neuen im Denken. Die Älteren erinnern sich vielleicht an das nette, aber banalpädagogische Experiment, die Funktionsweise eines Energieumwandlers zu erläutern. So populär karikiert in der „Feuerzangenbowle“, einem noch von Goebbels und Hitler freigegebenen Film von Helmut Weiss aus dem Jahr 1944. In rheinischem Dialekt erläutert Bömmel (Paul Henckels), ein Lehrer alten Schlages: „Heut‘ hammer de Dampfmaschin. Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mehr uns ma janz dumm.“1) Bemerkenswert ist die Voraussetzung des Erklärens, nämlich dass mit dem „dumm stellen“ kein Vorwissen gebraucht werde. Unwissenheit und keineswegs angeborene oder selbstverschuldete Dummheit charakterisieren in vielen – keineswegs allen! – Fällen das „neu Denken“ als unbeschwerte Naivität, als Befreiungsschlag im traditionell verhafteten Überlegen, mit dem die Gegenwart nicht zu meistern sei. Die Methode funktioniert auch als Variante des Vergessens.
Der Wettbewerb: Das Neue oder das Bessere?
Auch die alltagstaugliche Vorstellung, mal von vorn anfangen zu können oder zu müssen, wenn sich ein Wettbewerbsentwurf nach zwei durchgearbeiteten Nächten als Irrweg erweist oder nach einem misslichen Gestaltungsergebnis einen zweiten Anlauf zu versuchen oder – sehr hilfreich – die Sichtweise auf eine Bauaufgabe oder eine Umgebungsanalyse einfach mal zu wechseln: Das alles sind Varianten des Eingeständnisses, zuvor etwas falsch oder dumm oder unter fragwürdigen Voraussetzungen durchdacht zu haben.
„Neu Denken“ in der Art, wie der Begriff inzwischen marketingmäßig missbraucht wird, hat sich hoffentlich bald erledigt. Es genügt vollkommen, wenn man überhaupt mal denkt – und das auf der Basis wissenschaftlicher, überprüfbarer Erkenntnis oder beim Überprüfen fantastischer Ideen.
1) Die Szene im Film bei youtube: https://www.youtube.com/watch?v=7QWosNm5xV8