Kann man die Architektur einer Region hilfsweise auf Merkmale reduzieren? Auf Details, Material und Farbe? Zwar ein laienhafter Versuch, aber die Auflistung des emotional Wahrgenommenen prägt sich nachhaltiger ein als jede Theorie. Wir versuchen es.
Dienstreisen nach Vorarlberg galten für Architektur-Redakteure immer als Incentive. Natürlich ging es zuerst um die Architektur. Aber die Landschaft roch nach Urlaub, da war es nicht verkehrt, im Winter die Langlaufskier mitzunehmen und im Sommer noch einen kurzen Segeltörn auf dem Bodensee einzuplanen. Als obligate Anlaufstation diente immer das Hotel Martinspark in Dornbirn (Baumschlager Eberle), aber auch die weitere Gastronomie, vulgo Hirschen, Ochsen, Adler, Taube oder Krone, war nicht zu verachten. Bisweilen machten die behäbigen, sorgfältig restaurierten oder ungeniert modernisierten Wirtshäuser bereits mit dem gesuchten Thema vertraut: dem neuen Bauen in alter Umgebung. Die formidable Küche unterstützte bissfest jede Exkursion.
Vorarlberger „Schule“
Wenn man sich heute – eindeutig urlaubshalber – im Bregenzer Wald herumtreibt, sieht man, dass diese Architektur, die vor zwei Generationen von der Neuen Vorarlberger Bauschule abseits des akademischen Establishments auf den Weg gebracht wurde und die man schon einige Jahre lang verfolgen durfte, weiter floriert. Gerade weil sich infolge der Realerbteilung das „Los Angeles in der Rheinebene“ (Dietmar Eberle) durch eine in die hügelige Landschaft geschüttete Besiedlung auszeichnet, trägt die schon von weitem erkennbare Bebauung eine besondere Verantwortung. Die bereits veröffentlichten Häuser begrüßt man jetzt wie alte Bekannte, am Nachwuchs zeigt sich die Zugehörigkeit zur Familie.
Doch was zeichnet das Bauen hier aus? Woran spürt man, dass man sich nicht im Saarland oder in der Lausitz befindet, wo doch die Globalisierung auch architektonisch alle Unterschiede gnadenlos einebnet?
Zunächst fällt ein ungeniertes Nebeneinander zwischen den vorhandenen traditionellen Häusern und den modernen Neuankömmlingen auf. Vielleicht sollte man Herrn Kickl von der FPÖ einmal darauf hinweisen, dass beim Bauen die Migration längst mustergültig gelöst wird. Und während man in Deutschland einen Sichtbetonwürfel in einer dörflichen Ortsranderweiterung als Fremdkörper betrachtet, auf einen intellektuellen Bauherrn aus der Stadt tippt oder das eigene Haus eines Architekten und fragt, wie denn „sowas“ genehmigt werden konnte, ist es im Bregenzer Wald der Normalfall.
Heißt konkret?
Die unveränderlichen Kennzeichen eines Neubaus ließen sich aufzählen: die Vorliebe für eine unbestechliche, kantige Geradlinigkeit. Sie kann sich aber auch als enigmatische Skulptur gebärden wie das Haus M in Lochau (Albrecht Bereiter) oder als organisches Geschling wie das Kulturhaus Montafon (von den Berliner Kollegen Hascher Jehle mit Mitiska Wäger Architekten, Bludenz).
Öffnungen spielen dabei immer eine besondere Rolle. Von Fenstern zu sprechen wäre untertrieben; man kapriziert sich gerne mit raumhohen Festverglasungen, die von einem Lüftungsflügel begleitet werden. Das Wunderbare ist, es handelt sich nicht um Löcher, sondern um spannungsvoll kalkulierte, bildartige Aussparungen. „Fenster sind das Lob der Wand“, schrieb Ulrich Conrads 1977 in der Bauwelt, hier folgt der Beweis, etwa beim Atelier von Bernardo Bader in Bregenz.
Eine andere häufig zu sehende Lösung sind liegende Fensterbänder, die die Fassade nicht zerschneiden, sondern durch ihre schlanke Dimension der tragenden Wand aus Brüstung und Sturz den Vorrang lassen und sie als puristisches Ornament rhythmisieren. Ein Klassiker bereits: die umgebaute Raiffeisenbank von Baumschlager Eberle in Bregenz. Man darf diese Fenster-Lösung als gelungenes Gegenstück zu den bei uns populären Barcode-artigen Naturstein-Schraffuren betrachten, die unter der Schirmherrschaft von Max Dudler entstanden sind.
Neben dem erwähnten Sichtbeton gehört Holz zu den bevorzugten Baumaterialien. Damit lassen sich nicht nur geschlossene Flächen verschindeln oder verbrettern, sondern wie mit einem abstrakten Maschrabiyya vollständig umschließen, so beim Hotel Johann in Lauterach (Ludescher + Lutz Architekten). Für Holzlamellen scheint eine besondere Leidenschaft zu herrschen, sie begrenzen häufig als quadratischer Rost ein Fensterband oder schützen als schmale horizontale Rhombus-Leisten spalierartig einen Freiraum.
Auch Farbe gehört zu den charakteristischen Vorarlberger Merkmalen: Schwarz! Man trägt es in Schiefer, Blech, Glas, Klinker und eingefärbtem Sichtbeton, Holz verwittert nach einiger Zeit solidarisch mit dieser herrschenden Kleidervorschrift. Das Schwarz wirkt nie finster, es präpariert ein Gebäude aus seiner Umgebung heraus, etwa das Head Office der Spedition Gebrüder Weiss in Lauterach (Cukrowicz Nachbaur Architekten). Die aufgeständerte lamellierte (!) Fassade lässt sich hermetisch verschließen. Es gibt kein Firmenschild, nur ab und zu verrät ein beschrifteter orange leuchtender LKW, wer hier arbeitet. Die anonyme Architektur steht als unverwechselbares Signet, das man nicht mehr vergisst.
Selbst die Supermärkte, die man als festzeltartig aus Fertigteilen errichtete Warenlager kennt, erfahren in Vorarlberg eine besondere Zuwendung. Die architekturaffine M-Preis-Kette ist nur viermal vertreten, aber auch viele Spar-Filialen können sich sehen lassen. Sie stehen als individuell entworfene Kubaturen in den Orten, mit großen Fenstern und vergrautem Holz zeigen sie ihre regionale Legitimation; innen gibt es keine billigen Weichfaserplatten-Decken, ihr hoher Verkaufsraum ist rundum mit Seekiefertafeln ausgeschlagen. So wird man belohnt, wenn man beim Wareneinsammeln und Preisevergleichen das Gehäuse spürt.
Gegenwart statt Kitschromantik
Die Entdeckungen ließen sich fortsetzen, man findet sie unerwartet und beiläufig wie das Gasthaus Seibl (Juri Troy) beim strapaziösen Anstieg zum Pfändergipfel, das einen mit seiner nächtlichen Lichterkette schon seit Tagen gelockt hat. Es zeigt mit seiner schmucklosen handwerklichen Ausstattung, dass man Touristen nicht mit Bauernstuben-Kitsch in abwaschbarer Nussbaumoptik täuschen muss. Und dann parkt man in Hittisau zufällig neben dem neuen Schulzentrum (Matthias Bär), eigentlich wollte man doch nur das benachbarte Frauenmuseum (Cukrowicz Nachbaur Architekten) besuchen, aber die guten Beispiele überwältigen geradezu. Gibt es im Bregenzer Wald denn keine PVC-Fenster und Aluminium-Haustüren aus dem Baumarkt, keine beige Thermohaut und Waschbetontreppen? Wahrscheinlich doch irgendwo.
Man könnte erwarten, dass das überschaubare Repertoire an moderner Architektur, die gerne salopp mit dem Kistenattribut deklariert wird, eine einfallslose Monotonie erzeugt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Einfachheit der bis in abgelegene Winkel verbreiteten Interventionen wirkt wie ein anregendes Gegengift. Man freut sich über jede gerade Latte, jede scharf geschalte Kante, jede Isolierglasscheibe ohne falsche Sprosse – und die Abwesenheit von närrischer Farbe, wenn man durch die Dörfer stromert. Architektur ist Hintergrund, definierte Hermann Czech einmal die Bedeutung des Bauens. Hier wird sie zum kulturellen Gerüst.
Und man beneidet die Architekten um ihre Bauherren, die bei ihnen angemessene, klare Räume und solides Handwerk bestellen. Denn ohne Akzeptanz in der Gesellschaft wäre diese Baukultur nicht möglich.
Reiseempfehlungen für Architekturinteressierte:
https://www.vorarlberg.travel/aktivitaet/architektouren-vorarlberg/
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