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Vorschubleistung

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Ulm ist unter anderem für seinen weitsichtigen Rückbau einer innerstädtischen, stark befahrenen Straße bekannt geworden. Die „Neue Mitte Ulm“ wies auf den Umbau der autogerechten Stadt. Bedeutend umfangreicher gestaltet sich der Umbau an Ulms Bahnhof: Die Bahnstrecke im Kontext von Stuttgart 21 einerseits, der Bau einer neuen Tiefgarage andererseits und zusätzlich die Entwicklung des ÖPNV bescheren den Ulmern eine riesige Baustelle. Fertig wurde jetzt eine Straßenbahn-Brücke, die das Ergebnis eines der seltenen Ingenieurbauwettbewerbe ist.

Westliches Vorfeld des Hauptbahnhofs Ulm. Straßen, Schienen, Brücken, Tiefgaragen (Bild: Arnim Kilgus)

Brücke mit Aussicht (Bild: Wilfried Dechau)

Brücke mit Aussicht (Bild: Wilfried Dechau)

Vorrang für öffentliche Mobilität

So günstig es ist, einen zentralen ICE-Bahnhof zu haben, so schwierig und aufwändig ist es, Gleisanlagen dafür nicht als unüberwindliche, das Stadtnetz zerreißende Schneise zu belassen. In Stuttgart – aber eben nicht nur dort – weiß man um die Kalamität, die dritte Dimension im Sinne von Ausweichebenen in Angriff zu nehmen. So einfach ist es eben nicht, eine Verkehrsart komplett unter oder über die Erde zu legen. Und was Technik-Freaks gerade als Luft-Taxis für jedermann über unsere Städte und Landschaften schicken wollen, möge der Menschheit erspart bleiben, wenn sie, die Luft-Taxis, nicht ausschließlich als Ergänzung des ÖPNV genutzt werden. Sonst wiederholte sich die Fehlentscheidung der autogerechten Stadt, die dem Individuum Vorrang vor der gesamten Gesellschaft einräumte.

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Weiterbauen

In Ulm galt es nun, gleich zwei Großbaustellen miteinander zu koordinieren: den Neubau der schnellen Bahnstrecke und den Neubau einer 270 Meter langen Brücke über eben alle alten und neuen Gleise neben einer denkmalgeschützten, gestalterisch und konstruktiv eindrucksvollen Bestandsbrücke, der Neutorbrücke. Die neue Kienlesbergbrücke dient Fußgängern, Radfahrern und der Straßenbahnlinie 2, um zum Kienlesberg zu kommen, wo die Wissenschaftsstandorte Ulms liegen.
2016 wurde mit dem Brückenbau begonnen, im September 2018 war sie fertig. Den Hut darf man allein dafür ziehen, dass ein Verkehrsbauwerk dieser Dimension und Komplexität termingerecht in Betrieb genommen werden konnte.

Krebs+Kiefer Ingenieure hatten mit Knight Architects aus England den Wettbewerb gewonnen – mit einer Stahlfachwerkkonstruktion, die wellenförmig anmutet. Brückenpfeiler ließen sich wegen der Bahngleise weder in regelmäßigem Abstand, noch rechtwinklig zur Brückenachse anordnen, was zu einem asymmetrischen Brückenquerschnitt führte. Vollwandträger hätten verhindert, dass man von der Brücke auf die Stadt schauen kann – und nun sind in den Fachwerkfeldern sogar Sitzgelegenheiten integriert.

Eröffnung der Brücke im Herbst 2018

Eröffnung der Brücke am 12. September 2018 (Bild: Wilfried Dechau)

Vorschub

Aus Kindertagen erinnere ich mich an eine Cartoon-Szene: Tick, Trick und Track, Donald Ducks pfiffige Neffen trauen sich so ziemlich alles zu, auch den Bau einer Brücke: »Pah, kinderleicht!« (Daniel Düsentrieb hätte gesagt: »Dem Ingeniör ist nichts zu schwör«).
Mit der Baubeschreibung aus einer Pionier-Dienstvorschrift machen sie sich ans Werk. Alles easy! Die Spannweite der Fachwerk-Pionierbrücke muss gut doppelt so groß sein, wie der Abstand von einem Ufer zum anderen. Dann kann man sie am Ufer bauen und auf Rundhölzern rollend von einem Ufer aus über die Schlucht schieben. Gesagt, getan. Selbstverständlich haben sie den unter Boy Scouts ausgetragenen Brückenwettbewerb gewonnen.

Vorschub im Februar 2018: Stück um Stück geht es bei laufendem Bahnbetrieb voran. (Bild: Wilfried Dechau)

Vorschub im Februar 2018: Stück um Stück geht es bei laufendem Bahnbetrieb voran. (Bild: Wilfried Dechau)

Dieses Bild hatte ich immer vor Augen, wenn ich in Ulm auf die Baustelle der Kienlesbergbrücke ging, um den Baufortschritt in Fotos festzuhalten. Herausforderung und prinzipielle Lösung waren sehr ähnlich: Wie kommt man von A nach B, wenn dazwischen eine tiefe Schlucht ist oder – wie in Ulm – ein Gewirr von Bahngleisen, deren Betrieb während der ganzen Bauzeit nicht unterbrochen werden darf? Man schiebt die Brücke einfach von A nach B rüber. Bei einer Länge von insgesamt etwa 270 Metern natürlich nicht am Stück, sondern Stück für Stück.
Im Bereich des ersten Brückenfeldes wurden die dort mit Schwerlastern »just in time« angelieferte Überbausegmente auf einer Montageplattform zusammengebaut, verschweißt und als vom Auflager her immer vollständiger werdende Brücke mit hydraulischen Pressen entlang der Brückenachse verschoben – in elf »Schüssen«. Das heißt, wenn ein etwa 30 Meter langes Teilstück fertig und verschoben war und auf den wenigen endgültigen und zusätzlichen Hilfsstützen vorläufig auflag, konnten die nächsten Überbausegmente montiert und mit der bereits fertigen Teilbrücke verschweißt werden. Und so weiter. Bis die Brücke ihre volle Länge und damit – im Grundriss – ihre endgültige Position erreicht hatte. Dort allerdings musste sie »nur« noch um 3,50 Meter abgesenkt und in die endgültige Höhe gebracht werden.
 Alles nicht ganz so »kinderleicht« und fix wie in Entenhausen. Was im Prinzip so einfach scheint, ist im Detail eben doch sehr komplex und anspruchsvoll. Für so viel gelungene Ingenieurbaukunst wurden die Architekten und Ingenieure aber auch mit einer Auszeichnung beim renommierten Finsterwalder-Preis belohnt. Gratulation.

Baustelle, Sommer 2018 (Bild: Wilfried Dechau)

Baustelle, Sommer 2018 (Bild: Wilfried Dechau)

Größenordnungen von konstruktiven Details und funktionaler Ergänzung passen. (Bild: Wilfried Dechau)

Größenordnungen von konstruktiven Details und funktionaler Ergänzung passen. (Bild: Wilfried Dechau)


Architekten: Knight Architects

Ingenieure: Krebs+Kiefer