(Sommer-) Stilkritik (138) | Im aktuellen ZEITmagazin berichten der Autor Henning Sußebach und der Architekturfotograf Peter Bialobrzeski in einer großartigen Reportage über eine Reiseerfahrung. Sie sind eine Woche mit einem Wohnmobil gen Norden unterwegs gewesen, und in ihrem Beitrag finden Fotos und Geschriebenes in einer kongenialen Weise zusammen. Sie rufen eine Erinnerung ins Gedächtnis, die ich wiederum der heutigen Eröffnung der Bayreuther Festspiele mit „Tristan und Isolde“ verdanke. Also: eine Lese- und eine Musikempfehlung…
Skandal! Nicht etwa die Aufführung ist skandalös, sondern die Tatsache, dass nicht alle Karten für die Bayreuther Wagner-Festspiele schon im zweiten Jahr hintereinander total ausverkauft sind. Was haben nun Bayreuth und das Thema des Wohnmobils miteinander zu tun?
Ich hatte eine Tante, die – aus „kleinen Verhältnissen“ stammend – zur exzellenten Opernsängerin mit Solorollen gereift war. Wenn sie bei uns zuhause war und sang, machte uns ihre Stimme das Zuhause zum Musikhimmel auf Erden. Der dazugehörige Onkel war Tenor, der allerdings durch unvernünftig häufiges Singen seine Stimme ruiniert hatte und seitdem als Versicherungsvertreter unterwegs war. Er besaß ein Wohnmobil, mit dem er seiner Opernleidenschaft hinterherfuhr. Immer, wirklich immer bekam er in Bayreuth Karten für alle Aufführungen. In den Warteschlangen versorgte er Wartende im Morgengrauen mit Kaffee – und bekam als Dank dann irgendwie immer eine Karte. In den Foyers sang er mit seiner ruinierten Stimme bekannte Arien mit eigenen Texten – und bekam zum Trost oder um Ruhe zu geben, immer eine Karte. Mit dem Wohnmobil ist er nach Bayreuth, Berlin, Verona, Salzburg, Aix und Mailand gefahren, wir wussten: Onkel mit dem Wohnmobil on the road again…
Heute – am 25. Juli 2024 – werden die Festspiele in Bayreuth mit „Tristan und Isolde“ eröffnet, wer Zeit hat: >>> Mithören beim ARD-Radiofestival – bei BR Klassik Concert auch im Livestream mit Bild. Die Oper bietet einfach teils schöne Musik. Daniel Libeskind hatte im Jahr 2001 das Bühnenbild für die „Tristan-und-Isolde“-Inszenierung an der Oper in Saarbrücken entworfen – hinreißend einfach in der abstrakten Bildsprache. Regie führte Christian Pöppenreiter, es sangen Hedwig Fassbender und Stefano Algieri. In Bayreuth führt heute Thorleifur Örn Arnarsson Regie, Andreas Schager singt den Tristan, Camilla Nylund spielt und singt Isolde.
„Bunt und jung“? Unfug!
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich Claudia Roths Idee, Bayreuth „bunt und jung“ zu machen, Hänsel und Gretel zu spielen, nicht gutheißen kann. Bunt und jung und Humperdinck-tauglich sind viele Bühnen der Republik. Aber das Festspielhaus ist etwas anderes mit schwieriger, eigenartiger Künstler- und Politik-Geschichte, nicht zuletzt dank des Wohlwollens der Nationalsozialisten. Und mit seiner Architektur ist es spezifisch für eine bestimmte Nutzung entworfen, die für Musiker und RegisseurInnen nicht ganz einfach ist – um so besser für die Inszenierungsvielfalt. Die politisch korrekte Gleichmacherei von Allem und Jedem wird aber genau nicht Allen und Jeden in ihrer individuellen Interessenslage gerecht. Wenn alle Bühnen der Republik – auch die Bayreuther – bunt und jung sein müssen und Hänsel- und Gretel aufführen: Das ist autoritär verordnete Gleichartigkeit, die der Vielfalt der Kultur und ihrer föderalistischen Struktur nicht angemessen ist. Soll man beim „Rock am Ring“ Helene Fischer hören müssen? In Wacken Jonas Kaufmann beim Hinhauchen schöner Töne lauschen?
Ach nee, Alter, lass‘ mal gut sein… Setz Dich in Dein Home-on-wheels und fahr dorthin, wo es anders ist als dort, wo Du bist und wo Du das hören und sehen kannst, was Du dort hören und sehen willst.
Und damit zurück zum ZEITmagazin. Der Fotograf Peter Bialobrzeski gehört zu den herausragenden Architekturfotografen der Gegenwart, die Grenzen zur Reportage sind genau deswegen fließend (siehe Seitenspalte). Henning Sußebach schreibt unter anderem: „Wir begegnen überproportional vielen Deutschen – die den Wohnmobilismus vielleicht auch deshalb so schätzen, weil man selbst den Urlaub motorisiert verbringt, auf der Straße, am Lenkrad, die Füße im technoiden Tanz auf Kupplung, Gas und Bremse“.