Sommerzeit ist Reisezeit – aber nicht immer muss die Fahrt weit sein, um Entdeckungen machen zu können. Manchmal reicht es, die Fantasie zu aktivieren, sich der Poesie der Fotografie hinzugeben oder hinzuhören. Vier Vorschläge für Erkundungen mit Büchern – und mit Musik.
In überarbeiteter Form kürzlich neu aufgelegt wurde der Architekturführer von Barbara Schlei, Uta Winterhager und Tobias Groß – 41 Projekte, Bauten, Quartiere sind der Erstauflage von 2015 hinzugefügt, 110 sind es insgesamt. Wobei nicht alle neu aufgenommenen seit 2015 errichtet wurden. Es wurde auch das ergänzt, was im ersten Anlauf übersehen worden sein mag. Mit Chorweiler wird so nun auch ein Stadtteil berücksichtigt, der bislang gefehlt hatte, nun sind alle neuen Stadtteile vertreten.
Auch wer schon des öfteren Köln als Exkursionsziel gewählt hatte, wird Neues entdecken. Je Projekt eine Doppelseite, die wichtigsten Informationen knapp und gut lesbar zusammengefasst, Ausnahmen wurden nur für die städtebaulichen Projekte mit mehreren bemerkenswerten Bauten gemacht – der übersichtliche Führer hilft, die neuen Perlen aufzuspüren, wie etwa eine Hofhaus von JSWD Architekten ganz im Süden (2019), das Feuerwehrzentrum in Kalk von Knoche Architekten (2019), die Erlöserkirche von Harris + Kurrle (2022) oder eben auch neu gestaltete öffentliche Räume in Chorweiler (2021). Letztere stehen für die neuen Schwerpunkte, die die drei Herausgebenden in der neuen Auflage gesetzt haben: der öffentliche Raum, die Konversion und das Weiterbauen sind nun mit bevorzugtem Augenmerk berücksichtigt. Und weiterhin die Fahrt nach Köln lohnen die vielen großartigen Bauten, die auch in der ersten Auflage zu sehen gewesen waren, die Kirche der katholischen Hochschulgemeinde von Heinz Buchmann (1969) etwa, das Haus Wefers von Karl Band (1956), das Wohnhaus Erich Schneider-Wesselings (1974) oder Museum für Ostasiatische Kunst (Kunio Maekawa, 1977). Fünf Empfehlungen für Spaziergänge und zwei für Radtouren ergänzen den kompakten Führer.
Die große Tour, die Bildungsreise für Adlige und gut begüterte Bürgerliche, war bis ins 19. Jahrhundert Maßstab für Bildung und Status. Was könnte ihr Äquvivalent im 21. Jahrhundert sein?, fragte sich Richard Weller, Professor für Landschaftsarchitektur und Stadtplanung an der Universität und Pennsylvania. Ihn interessiert dabei weniger, wohin sich zu reisen lohnt als vielmehr, welche Orte und Leistungen besonders charakteristisch für das sind, was unser Verständnis von Kultur, unser Verhältnis zur Natur repräsentiert und was geschaffen wurde im Glauben, den Weg zu einem guten Leben zu weisen. „To the ends of the earth“ ist also eindeutig doppeldeutig zu lesen, die Orte des 20. und 21. Jahrhunderts, die diesen Anspruch einlösen, sind nicht immer die erbaulichsten Orte, es findet sich auch einiges an Gescheitertem unter dem, was Weller in sieben Kapiteln aufführt.
Aber eben nicht nur: Die ersten beiden Abschnitte listen Paradiese und Utopien auf, reichen von großen Nationalparks in China oder Guatemala bis zum prototypischen (amerikanischen) Vorstadtgarten, von Umweltschutzinitiativen bis zur Black Lives Matter Plaza in Washington. Zwischen der Gartenstadt Welwyn und der Levittown, den für weiße Amerikaner:innen errichteten Einfamilienhausgebieten aus vorgefertigter Konfektionsware findet sich auch Puritt Igoe – für Jencks markiert der Abriss dieser Wohnanlage das Ende der Moderne. Die Brüchigkeit der Versprechen und ihre ausschließenden Voraussetzungen sind also auch Teil der nie in eine vereinfachende Schwarzweiß-Malerei verfallenden Auflistung. Maschine, Monster, Ruinen und Instrumente werden in die Sammlung aufgenommen, baumpflanzenden Drohnen ebenso wie die künstlichen Inselressorts von Dubai und der Atomreaktor Nr. 4 von Tschernobyl. Die leicht antiquarisch angehauchte Gestaltung entspricht dieser ironisch gebrochenen Auflistung, die eine anregende Lektüre bietet, um das Wirken des Menschen auf dem Weg zum Ende der Erde zu refklektieren.
Ein besonders schön gestaltetes Buch hat sich (und uns) die Edition Hartmann gegönnt. Es ist Erieta Attalis Bildern von Kengo Kumas Bauten gewidmet: im Querformat, auf feinem Papier gedruckt, fadenknotengeheftet, in einen Portfolio-Karton eingelegt. Seit über 20 Jahren arbeiten die griechische Fotografin und der japanische Architekt zusammen.
Einfühlsam und mitunter atemberaubend werden die Bauten ins Bild gesetzt, ohne auf oberflächliche Effekte zu setzen. Eröffnet wird das Buch mit drei Bildern, die kein Gebäude zeigen – sondern das Meer, den Strand, bis das Tottori Takahama Cafe in drei weiteren Bildern zu sehen ist, wovon eines den Blick von Innen zum Strand gerichtet ist und wieder nur wenig vom Gebäude sichtbar macht. Es geht hier eben nicht um Dokumentation, nicht um Konstruktion und Technik, sondern darum, wozu Konstruktion und Technik letztlich dienen – unverwechselbare, poetische, kraftvolle Orte zu schaffen. So wie man einem Pianisten im Konzert nicht bei der Arbeit zusehen möchte, so wird auch hier das Werk Kumas in Szene gesetzt als eines, das wie Kunst genossen werden kann, ohne daran denken zu müssen, wie sie entstehen konnte.
Das Gleiche könnte man aber auch über Attalis Fotografie sagen – auch sie ist ausreichend Meisterin ihres Fachs, um diese Meisterschaft nicht mehr demonstrieren zu müssen. Und so entstanden Bilder, in denen es nicht mehr um das Haus als Objekt geht, sondern darum, was es auslösen, was es anregen, wohin es uns mitnehmen kann, auf eine Reise in die Welt zwischen Materie und Atmosphäre, zwischen Ort und Übergang, zwischen Abstraktion und Konkretion. Die Meisterschaft beider zeigt sich darin, dass die Publikation keiner aufdringlichen konzeptionellen Reduktion bedarf. Es werden Museen, Brücken, eine Bücherei, ein Studierendenwohnheim, große und kleine Häuser gezeigt, in der Stadt, in der Natur, in Schwarzweiß und in Farbe, deutlich erkennbar und in flirrende Strukturen aufgelöst. Wenige Zitate, zwei Essays, wenige Skizze ergänzen dieses publizistische Kleinod.
In den Liedern von Karoline Brombach geht es um Stuttgart – um die Halbhöhenlagen für die Priviligierten und die, die in der staubigen Stadt unten bleiben müssen. Mit ihrer Band „Die Konsequenz“ hat die promovierte Stadtplanerin ihr zweites Album aufgenommen, das sich den Eigenheiten der Stadt und dem Leben in ihr widmet. In einer Mischung aus Indie-Pop und Singersongwriter-Klängen, mit oft melancholischem Gesang, mal mit einem mehrstimmigen Lied, in dem die am 19. Jahrhundert geschulte Bildung durchklingt, wird die Realität der Stadt besungen, in der es im wörtlichen Sinne regelmäßig bergauf und bergab geht – die topografische Lage im „Kessel“ macht soziale Unterschiede unmittelbar räumlich manifest.
Da geht es um die Stationen einer U-Bahn-Linie, die nur – wie alle Stuttgarter U-Bahnen – einen Teil ihrer Strecke unterirdisch verläuft. Die originellen Texte sind zum Glück auch gleich auf der Internetseite abzurufen. Es lohnt sich genau hinzuhören. Mal werden die armen Reichen besungen – „und der Wein hat Kork, die Tochter ist bulimisch, muss morgen nach New York“ – mal die grillenden und grölenden Nachbarn, vor denen man nicht ins Zuhause entkommen kann, genausowenig wie dieser Stadt „aus der es kein Entrinnen gibt, wenn man einmal hier wohnt“, wie es im Ankündigungstext heißt. Und so ist das Leiden an Stuttgart immer auch eines, das nur zum Teil wirklich eines ist. Der Empathie für skurrile Typen und hässliche Gebäude lässt sich auch hier frönen und schließlich wird dann auch zugegeben, dass es eine gute Zeit in hässlichen Gebäuden gegeben habe. Eine Liebeserklärung ist das deswegen noch nicht und sollte es auch nicht sein, aber eine Art, die eigene Stadt zu erkunden und zu beschreiben, die außerhalb von den üblichen Verdächtigen wie Berlin oder Hamburg viel zu selten gemacht wird. Die meisten wohnen eben nicht in Berlin oder in Hamburg.