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Wortwahl: Achtsamkeit

2419_AZW_VideoMan hat derzeit wirklich nicht den Eindruck, dass Menschen andere Menschen mit Samthandschuhen anfassen. PolitikerInnen im Wahlkampf werden beschimpft, angegriffen, zusammengeschlagen. Der öffentliche Raum ist zu einer Gefahrenzone mutiert, in der Jeder vor Jedem geschützt werden muss. So scheint es. Denn andererseits fordert jeder für sich: Achtsamkeit. Mit Konsequenzen für den individuellen und den öffentlichen Raum.

oben: Ausstellung im Architekturzentrum Wien, April bis September 2019

Care – von der Pflege zur Achtsamkeit

Bevor Corona die Weltbevölkerung dazu zwang, individuell Abstand zu halten und mit distanzierenden Verhaltensweisen Rücksicht auf andere Menschen mit Selbstschutz zu verbinden, zeigte das Architekturzentrum Wien 2019 die Ausstellung „Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“. Im Planungsbereich bezog das AZW „Care“ auf den gesamten Planeten, dessen Grundlagen für menschliches Leben bedroht und vernichtet werden: vom Diktat des Kapitals, der Ausbeutung von Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft.1) Die Krisen sollten erst, Schlag auf Schlag, noch kommen: Pandemie, Kriege, Fluten und mehr. „Care“ ist ein Anglizismus, der ins Deutsche übertragen mit bemerkenswerter Bedeutungsvielfalt überrascht: Pflege, Sorgfalt, Versorgung, Vorsicht, Zuwendung – und auch Achtsamkeit. Diese Bedeutungsvielfalt weist auf eine Emotionalität, die Werte und Tugenden priorisiert. Achtsamkeit manifestiert sich dabei in Fürsorge und Vorsorge – was hierzulande an Helikopter-Eltern und Krankenkassen-Appelle denken lässt. Die eingeforderte Achtsamkeit widerspricht allerdings krass den Phänomenen des Alltags, in dem sich kaum noch ein Wertekonsens erkennen lässt und inzwischen Normen und Gesetze infrage gestellt werden. Dabei ließe sich an Bürgertugenden denken, an „die Fähigkeit und Bereitschaft der Bürger, ihre eigenen Interessen und ihr Handeln bewusst mit dem in Einklang zu bringen, was dem politischen Zusammenleben zuträglich ist“.2) Aber daran zu erinnern, grenzt an lächerliche Naivität, wenn – wie gegenwärtig – sogar innerhalb einer staatstragenden Regierung einzelnen Parteien wie der FDP ihr Parteiprofil wichtiger ist als das Wohlergehen des Staats.

Titel des Leitfadens

Titel des Leitfadens „wertschätzende Kommunikation“ der Stadt Köln (hier als PDF >>>)

Rede achtsam

Dabei wird allüberall die Achtsamkeit eingefordert, auch für die Sprache. So hatte der Schriftsteller Hilmar Klute den „Leitfaden für wertschätzende Kommunikation der Stadt Köln“ erwähnt3) und als Indiz dafür gewertet, dass „mit der achtsamen oder wertschätzenden Sprache … eine Konsenssprache hergestellt worden (ist), lustigerweise in einem Land, das so weit vom Konsens ist wie selten zuvor“.4) Dahinter steckt natürlich die Frage, wie es im Land um die politische Ethik bestellt ist, welche Basis sie für eine demokratische Grundordnung überhaupt noch bieten kann. Die dauernden Appelle an die Achtsamkeit deuten auf eine Re-Moralisierung des Staatsbürgerlichen, das in seiner mühsam zustande gekommenen Normativität nicht mehr hinreichend akzeptiert wird.5)

Beim Neubau wurde weder auf Materilität, Proportionen, Erdgeschossfunktionen und formale Ansprüche der Nachbarschaft geachtetet. (Bild: Ursula Baus)

Beim Neubau wurde weder auf Materialität, Dachfarbe, Proportionen, Erdgeschossfunktionen und formale Ansprüche der Nachbarschaft geachtet. Es ist das hässlichste Haus in der Straße entstanden – wen kümmert’s? (Bild: Ursula Baus)

Baue achtsam

In den Planungs- und Architekturbereichen sind von diesen Entwicklungen grundsätzliche Prämissen betroffen – wie beispielsweise in der Bodenfrage. Von einer ästhetischen Achtsamkeit wagt man kaum noch zu reden, wenn man die baulichen Veränderungen in sprichwörtlichem Stadt und Land-Erscheinungsbild blickt. Ein Jeder macht was er / sie will, nirgends manifestiert sich das Desinteresse an Nachbarschaften und öffentlichem Raum, also das Fehlen jeglicher Achtsamkeit, deutlicher als beim privaten Bauen und Nutzen öffentlicher Räume. Nahezu überall, wo der Gesetzgeber Lücken oder Spielräume im guten Glauben an eine vernunftgeleitete Akzeptanz normativer Festlegungen lässt, geht es: schief. Einer Forderung nach Achtsamkeit könnte also konkret beim Bauen und Gestalten des öffentlichen Raumes einer deutlichen Verschärfung von Ver- und Geboten entsprechen.

Da hört man schon den Aufschrei aller am Bau beteiligten Kreativen!
Denn die sehen in Ge- und Verboten eine Bevormundung, zumindest eine unzulässige Einschränkung des wettbewerblichen Konkurrierens guter Ideen. Diesem Selbstverständnis von Architektinnen entspricht nach wie vor und pars pro toto, dass eigene Bauten von Fotografen doch bitte ohne Umgebung fotografiert werden sollen.

So dürfen wir bis auf weiteres nicht erwarten, dass sich an den Grundfesten des Planens und Bauens irgendetwas ändert. Es wäre schon geholfen, wenn in den kleinen Dimensionen – in einzelnen Straßen oder Quartieren – etwas mehr Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für das Gemeinsame, das Nebeneinander zu erkennen wäre.


2) Rainer Forst: Bürgertugenden. In: Grundbegriffe der Politikwissenschaft. Stuttgart 2022, Seite 31 f.

4) Hilmar Klute: Auf die Fresse, Herzblatt. Überall und immer sollen Menschen achtsam und empathisch minteinander kommunizieren. Muss das sein? In: Süddeutsche Zeitung, 9. Juli 2022

5) Aspekte deliberativer Demokratiekonzepte zu erörtern, führt hier leider zu weit, siehe Dieter Fuchs: Modelle der Demokratie: Partizipatorische, Liberale und Elektronische Demokratie. In: André Kaiser, Thomas Zittel (Hrsg.): Demokratietheorie und Demokratieentwicklung, Wiesbaden 2004