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Stilkritik (125) | Kaum ein Begriff hat eine so lange Existenzgeschichte und einen so holprigen Bedeutungswandel hinter sich wie „Wohlstand“. Hierzulande ist Wohlstand sowohl ein gesellschaftspolitischer Kampfbegriff als auch ein wirtschaftspolitisches Mantra. Beide Politikfelder kulminieren im Bauen, in dem es nach wie vor um Weltanschauung und sehr viel Geld geht.
oben: Wohlstand? Überfluss im öffentlichen Raum (Bild: Ursula Baus)

Die gebetsmühlenartig vorgetragenen, beruhigenden Worte von Kanzlerin Merkel und Kanzler Scholz sind omnipräsent zitiert. Angela Merkel sprach gern vom „Wohlstand für alle“, und Kanzler Scholz meinte in seiner jüngsten Regierungserklärung vom 22. Juni 2023, ohne Sicherheit könne es keine Freiheit und keinen Wohlstand geben. Aber was heißt gegenwärtig „Wohlstand“? Wohlstand ist einmal mehr ein Determinativkompositum aus „Wohl“ und „Stand“ und seit dem 18. Jahrhundert belegt. Im Grundsatz unterscheidet man inzwischen materiellen und immateriellen Wohlstand,1) wobei materieller Wohlstand sich auf Wirtschaftswachstum bezieht und mit dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beziffert wird. Der Nettoverdienst ist in Deutschland über einen Zeitraum von 60 Jahren deutlich schneller gestiegen als die Preise – und mehr Freizeit vervollständigt die Wohlstandssteigerung. Längst werden Wachstum und diese quantitative Wohlstandsdefinition kritisiert, weil beispielsweise Umweltverschmutzung, Lärm und Verkehrsunfälle sowie der Klimawandel unbestritten mit beidem verbunden sind.2) Dass der „Earth overshot Day“ immer weiter nach vorne rückt, indiziert, dass wir über unsere Verhältnisse leben, und dass sich Lebensstile, Verhaltensmuster und Wertesysteme ändern müssen, stellt kaum jemand infrage.3) Nichts Neues. Aber wahrhaben will es doch niemand. Im politischen Alltag wird es deswegen ungemütlich, wenn zum Beispiel die heilige (Bau-)Kuh Einfamilienhaus geschlachtet werden muss oder die warme Stube teurer und teurer wird.

Auszuweichen auf den immateriellen Wohlstand liegt nun nahe. Platz sei in der kleinsten Hütte, es kommt auf das Wohlfühlen an, schließlich ist das Glück doch auch eine Währung. So betonen PolitikerInnen gern, dass sie auch in wirtschaftlich schweren Zeit „die Menschen nicht allein lassen“, man „die Sorgen der Menschen ernst nehme“ und die Versorgung womit auch immer „gesichert“ sei.

Bauen und Konsum

Materieller Wohlstand in Deutschland wird primär durch die Exportwirtschaft geschaffen, und mit welchem immensen Aufwand und mit welchen befremdlichen Winkelzügen dieser materielle Wohlstand innerlands erkauft wird, zeigt sich dieser Tage in der Causa Intel. Ein pumperlgesundes amerikanisches Chip-Unternehmen bekommt 10 Milliarden deutsche Steuergelder, damit es sich in Magdeburg ansiedelt: auf 400 Hektar bislang unbebauter Fläche, wobei laut Koalitionsvertrag bis 2030 weniger als 30 Hektar in Deutschland bebaut werden sollen – pro Tag! So sieht Stadt- und Landesplanung aus, wenn materieller Wohlstand seine Prämisse ist. Wirtschaftsexperten kritisieren diese Subventionspolitik scharf, weil nur Unternehmen und Aktionäre davon profitieren, „thank you guys“. Nicht die tollen Arbeitskräfte, die Infrastruktur oder die Exzellenz der Verwaltung lockten nach Deutschland, sondern irrwitzige Subventionen.4) Während Finanzminister Lindner angeblich keinen Cent für die Kindergrundsicherung hat und offenbar keine Idee hat, wie man dafür ein „Sondervermögen“ schaffen könnte.

Materieller Wohlstand ist ein ökonomischer Imperativ, der hinreichend kritisiert, aber von der Politik aufgrund ihres kurzfristigen Agierens nicht hinterfragt wird. 5) Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst mahnt an, dass die Politik „ihre soziale Gestaltungsmacht zurückerlangt und (…) sich nicht darauf beschränkt, einen nationalen Platz an der Sonne der globalen Ökonomie zu ergattern“.6) Das stimmt, aber wie soll das gehen?

Wer hat welche Bedürnisse?

Also konkret zum Bauen. Wie die Kleiderindustrie schafft die Bauwirtschaft großteils Bedürfnisse, die keiner hat und degradiert Architektur allzuoft zum Konsumgut: Abstruse Fertighauskataloge locken zur Kreditaufnahme, Standards definieren das Zuhause als Wohlfühloase und erstaunliche Richtlinien bestimmen den behaglichen Arbeitsplatz. Lobbyisten wissen, wie sich baurelevante Bedürfnisse in Gesetzte, Richtlinien und Normen integrieren lassen, und Begehrlichkeiten darüber hinaus lassen sich mit Hochglanzmagazinen wecken. Von Singapur aus die Waschmaschine anstellen können, T-Shirt-taugliche Temperatur in der Sekunde des Nachhausekommens vorfinden – die Grenzen zwischen lebensnotwendigen Raumverhältnissen, Behaglichkeit und Bequemlichkeit sind fließend. Wer kann dann noch fixieren, was Wohlstand sein soll?

15. Immobiliendialog Stuttgart, 10. und 11. Juli 2023

15. Immobiliendialog Stuttgart, 10. und 11. Juli 2023 (Anm.Der Link kann evtl. nach der Veranstaltung nicht mehr funktionen.)

Es liegt nun eine Einladung im Postfach, und man staunt, wie geschickt die Immobilienwirtschaft ihre Fähnchen in den Wind zu hängen weiß. So heißt es in der Ankündigung des „Immobilien-Dialog Region Stuttgart “ für den 10. und 11. Juli 2023: „Klimaschutz ist uns eine Herzensangelegenheit!“7) Das kann ja wohl nicht wahr sein! Es ist vielmehr ein dringend aus dem Verstand gebotenes Handeln, dass die Immobilienwirtschaft hier mit lächerlichem Edelmut umschifft, und das Programm der Veranstaltung liest sich obendrein wie von einem anderen Stern8): Die traditionellen Wirtschaftswachstums-Experten dialogisieren, Pausen heißen „Zeit für Business und Kommunikation“.9) Es werden Personen zugegen sein, die zu Immobilien-Kapitalverwaltungsgesellschaften, Immobilien-Kreditbanken, Immobilien-Anwaltskanzleien, Flughafen-Zweckverbänden und anderen Branchen gehören, die mit Klimaschutz herzlich wenig am Hut haben. Dahinter steht die Wirtschaftsförderung, die ja auch die IBA Stuttgart mitinitiierte, weswegen deren Direktor Andreas Hofer und der Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold nicht fehlen dürfen, wenn es um den „Dreiklang: Entlastung, Beschleunigung und Förderung“ geht. Bauen, Bauen, Bauen: Solang das Bauen in den enormen, althergebrachten, finanzgesteuerten Wohlstandssteigerungsspiralen verankert bleibt, wird sich an unnötigem Flächenverbrauch, an abstruser Flächenversiegelung, an unnötiger Zersiedelung kaum etwas ändern.

10 Milliarden? „…kriegst Du nicht, Alter“

Politik agiert zum Machterhalt mit den wahlperiodenkurzen Versprechen materiellen Wohlstands. Im Interesse eines immateriellen Wohlstandes, der à la longue der gesamten nationalen und Weltbevölkerungen zugute kommt, kann mit einer Politik, die nur materiellen Wohlstand versprechen kann und diesen auch noch immateriell verbrämt, nicht glaubwürdig agieren. Zu einer Prämie als Energiesparanreiz sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck 2023 noch etwas flapsig: „Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem man sich nur noch bewegt, wenn es Geld dafür gibt. (…) Wenn jemand sagt, ‚Ich helfe nur, wenn ich nochmal 50 Euro kriege‘, dann würde ich sagen: ‚Die kriegst du nicht, Alter.'“ Nun könnte man 2023 zu Robert Habeck sagen: „Wenn Du Intel die 10 Milliarden hinterherwirfst, sage ich: ‚Ich wähl Dich nicht, Alter.“


1) Georg von Wallwitz: Mr. Smith und das Paradies. Die Erfindung des Wohlstands. Berlin 2013

2) Niko Paech: Vom grünen Wachstum zur Postwachstumsökonomie. Warum weiteres wirtschaftliches Wachstum keine zukunftsfähige Option ist. In: Boris Woynowski et al. (Hrsg.): Wirtschaft ohne Wachstum? Notwendigkeit und Ansätze einer Wachstumswende. 2012

3) Umfassend: Thomas Wiedemann, Manfred Lenzen, Lorenz T. Keyßer, Julia K. Steinberger: Scientists‘ waning on affluence. In: Nature, 2020 (https://www.nature.com/articles/s41467-020-16941-y.pdf)

4) Kolja Rudzio: Der Milliarden-Acker. In: Die Zeit, 22. Juni 2023, Seite 19

5) Niko Paech s. Anm. 2

6) Rainer Forst: Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant. Berlin 2021. Rezension: Thomas Meyer: Gegen das ewige Eigeninteresse. In: Süddeutsche Zeitung, 21. 6. 2022

9) ebda., Seite 2