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Der jetzt beim SPD-Parteitag beklatschte Exkanzler Olaf Scholz, gemeinhin nicht als Plaudertasche bekannt, betonte häufig, dass er die Sorgen der Bürger (und Bürgerinnen) ernst nehme. Das wollen wir hoffen. Und mit dieser politischen Proklamation, sich um die Sorgen der Bürger und Bürgerinnen zu kümmern, möchten auch alle anderen PolitikerInnen gleich welcher Parteien punkten. Aus jedem Munde tönt es: „Wir nehmen die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst“. Zur „Sorge“ gesellt sich das Verb „ernst nehmen“. Auch hier ist zu fragen: Sind diejenigen, die es bereits als politische Glanzleistung aussprechen, etwas „ernst zu nehmen“, im sonstigen Alltag Spaßvögel? Die ihre Arbeit nicht ernst nehmen?

Die Kümmerer

Die Reden von Sorgen und vom Kümmern charakterisieren eine fatale, dominante Emotionalisierung der Politik, die sich in einlullenden Versprechen jener manifestiert, die gewählt werden wollen. Sie wiegt die potenzielle Wählerschaft in einer Sicherheit, die ihr – der Wählerschaft – nichts abverlangt. So ist es folgerichtig, wie Bürger und Bürgerinnen in allem – auch in alltäglichen Planungsfragen um Parkplätze, Bauplätze, Energie – einfordern, dass ihrem Begehr stattgegeben wird. Von denjenigen, die sich „kümmern“. Zum Beispiel: Ein Baum statt eines Parkplatzes? Nicht vor meinem Haus! Eine CO2-ausstoßfreie Heizung? Die muss staatlich gefördert werden, sonst machen wir das nicht. Ich als Bürgerin soll begreifen, dass mein Wohlstand zur katastrophalen Erwärmung des Globus beiträgt? Und Konsequenzen daraus ziehen?
Wer primär von den „Sorgen“ der Bürger und Bürgerinnen redet, antizipiert deren schlechte Befindlichkeit beziehungsweise provoziert sie ohne faktische Grundlage.

Die Emotionalisierung

Die emotionale Kommunikationsebene zwischen Politik und Bürgerschaft erschöpft sich darin, Argumente auszublenden, die deutlich machen, dass Mitgliedern einer Wohlstandsgesellschaft, die über ihre Verhältnisse lebt, eine Menge zugemutet werden muss – und kann. Die Emotionalisierung trägt mit dem Vermeiden vernünftiger Argumentationen damit zu einer Verdummung bei, von der Extremisten aller Art mit dreisten Ideen, falschen Aussagen und Versprechungen profitieren. Denen glaubt man, weil Argumente und Begründungen nicht mehr wichtig zu sein scheinen und das Dreiste und Falsche gar nicht mehr hinterfragt werden. In den „Social Media“ verdichtet sich diese Verdummung, weil Emojis und Shortmessages zusätzlich einem vernünftigen Argumentationsaustausch entgegenwirken. CO2-Ausstoß-Kontingente schrumpfen zu einem nice to have, das den Bürgern nicht generell zuzumuten sei.

Die Umfrager

Die heute omnipräsente, pseudodemokratische Umfragerei, die sich in öffentlich-rechtlichen Sendern, Zeitschriften-Abo-Lock-Mails („beteiligen Sie sich an unserer Umfrage und Sie erhalten…“) und vielem mehr aufdrängt, manövriert Bürgers Geist in die gleiche Richtung. Fragen im „Deutschland Trend“ werden zur „Stimmung im Land“ gestellt. Fragen nach Sachverhalten, die ganz klar in Zahlen beantwortet werden können, werden im „Glauben“ der Bevölkerung zum Beispiel mit omnipräsenten Tortendiagrammen entsorgt.

Emotionalisierung und die Hau-den-Lukas-Logik von Umfragen schmelzen auf einer trüben Öffentlichkeitsebene zusammen, die jegliche, einer Demokratie würdige, vernünftige Austauschkultur unterbindet. Was auch den Medien anzulasten ist, weil sie die Umfragen in Auftrag geben, statt mit eigenen, gründlichen Recherchen zu informieren. So wird selten über Sinn und Unsinn von Einfamilienhäusern informiert, aber auf Umfragen beispielsweise des Kreditvermittlers Interhyp verwiesen: „Beim persönlichen Wohntraum steht bei 56 Prozent aller Umfrageteilnehmer das freistehende Einfamilienhaus auf Platz eins, das sind drei Prozentpunkte mehr als vor einem Jahr. Bei den Millennials (61 Prozent) ist der Wunsch sogar ausgeprägter als bei den Boomern (51 Prozent).“1 Und das Wochenmagazin Focus berichtet entsprechend einer Umfrage der Deutschen Reihenhaus AG: „Laut der Befragung unter 1000 Bürgern, die sich mit Wohnpräferenzen beschäftigte, wollen die Deutschen am liebsten in Einfamilienhäusern wohnen.“2)

Mit dem neuen Bau-Turbo wird es kein Halten mehr geben, wird der Raubbau an unbebautem Boden hemmungslos zunehmen. Mit vernünftigem, politisch weitsichtigem Handeln hat das nichts mehr zu tun. Und aus der selbst gewählten Nummer, sich um die „Sorgen der Bürger und Bürgerinnen“ zu kümmern, kommen PolitikerInnen kaum noch raus.

Sorge und Sorge

Sorge hat zwei Bedeutungspole: Man ist besorgt oder man sorgt sich aktiv um etwas. Es liegt also entweder die Stirn eines betrübten Menschen in Sorgenfalten – oder es krempelt jemand die Ärmel hoch, um dafür zu sorgen, dass ein misslicher Zustand zum Besseren gewendet wird.

Mit der Politfloskel soll ausgedrückt werden, dass man sich um das Wohlergehen der Menschen kümmert und damit das Dasein in guten, vertrauenswürdigen Händen ruht. Dem liegt eine Beruhigungsintention zugrunde, ohne dass erklärt werden müsste, wie denn konkrete Politik aussieht.

Also eine schnuckelige Emotionalisierung der schnöden Wohlstands- und Wählergesellschaft? Ein Hype auf Stimmungslagen, um von jeglichen sachlichen Notwendigkeiten abzulenken?

Weil kleine Geschenke die Wählerschaft bei Laune halten, werden nun wieder Mütterrenten, Pendlerpauschalen, Energiesubventionen und vieles mehr jene Schuldengelder aufsaugen, die in notwendigen Investitionen fehlen werden. Die Bahn hat schon mal angekündigt, dass die Sanierung der Strecken doch nicht so schnell vorankommen wird. Das macht mir als Bahnfahrerin wirklich Sorgen.


1) https://www.haufe.de/immobilien/entwicklung-vermarktung/marktanalysen/wohntraum-studie-wie-will-deutschland-wohnen_84324_498112.html

2) https://www.focus.de/immobilien/wohnen/umfrage-des-iw-koeln-das-eigenheim-bleibt-ein-sehnsuchtsort-so-wollen-die-deutschen-am-liebsten-wohnen_id_13109984.html