
Über 870 Jahre Baugeschichte: Gerade deswegen haben jüngere Veränderungen wie eine mit Patina geschmückte Außentreppe aus den 1960er Jahren Anspruch auf Pflege. (Bild: Wilfried Dechau)
Die Zeit der Star-Architektur ist weitgehend vorüber, Bilbao-Effekte verblassen. Die eitle Selbstvermarktung von Architekten rückt hinter deren Werk – dermaßen paradiesische Vorstellungen gewinnen in Maulbronn eine neue Realität, wo Schülerinnen in jahrhundertealten Weltkulturerbe-Bauten leben und lernen. Und zwar zeitgemäß, mit allem, was ein Zuhause architektonisch bieten kann. Dabei gilt ein Anspruch, dem nicht zu entrinnen ist: Welterbe verpflichtet.
Evangelisches Seminar in Maulbronn, Sanierung und Ausbau
Architekten: Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Pforzheim
Der kleine Hans Giebenrath, Sohn eines alleinerziehenden Vaters in einem idyllischen Schwarzwald-Dörfchen, ist begabt, wird Zweiter im Landeswettbewerb in Stuttgart und kommt so ins protestantisch-theologische Seminar nach Maulbronn. Mit neun anderen Schülern teilt er eine Schlafstube. Aber, so lesen wir es bei Hermann Hesse: Es geht nicht gut aus. Der Knabe wird, weil die Sehnsüchte des Heranwachsenden mit der Drangsalierung seiner Altvorderen nicht zusammenpassen, Opfer alten Stammtischphilistertums und selbstgefälliger Schulmeister. Er hat sehr gern geangelt und treibt am Ende selbst wie ein toter Fisch „kühl und still und langsam im dunklen Flusse talabwärts“. Hesses Erzählung von 1903 gehörte zu meiner Schullektüre, doch weil wir in der Schule das Internat nur als Strafanstalt für die Aufmüpfigen kannten, färbte die literarische Finsternis darauf ab, wie wir uns die Klosterräume vorstellten.
„Verlockender Wohnsitz“ 1)
Doch vor Ort ist alles ganz anders in diesem einstigen Zisterzienserkloster, dessen Ursprünge in die Mitte des 12. Jahrhunderts zurückreichen und das seit 1993 zum Weltkulturerbe gehört, weil es das am besten erhaltene Zisterzienserkloster nördlich der Alpen ist. Nach der Reformation wird hier 1556 die evangelische Klosterschule eingerichtet, in der talentierter Nachwuchs – unabhängig vom sozial-ökonomischen Stand – ausgebildet wird. 1806 folgt die Säkularisierung des Klosters, das fürder mit unterschiedlichem Verständnis von Denkmalpflege erhalten, erweitert, umgebaut wird. Von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, wird das Seminar 1945-46 wiedereröffnet.
Passgenau
Seit 2007 wurden nun die Internatsräume, die in unterschiedlichen Gebäuden der Klosteranlagen untergebracht sind, sowie weitere Klosterbauten saniert und umgebaut – dunkelrot gekennzeichnet im Plan oben rechts. Es geht heute um ein Staatliches Gymnasium mit Internat, um insgesamt etwa 100 Schülerinnen. Träger ist die Evangelische Landeskirche Württemberg. Das Kloster ist Eigentum des Landes, das Baupflicht hat, weswegen das Amt Pforzheim von Vermögen und Bau Baden-Württemberg verantwortlich zeichnet, dessen Mitarbeiter Entwurfsverfasser sind und das mit zwei Architekten in Maulbronn, an Ort und Stelle, ständig präsent ist. Stück um Stück und bei laufendem Seminarbetrieb ist jetzt ein Zustand erreicht worden, der einem normalen Internatsdasein entspricht. Und daneben natürlich 200.000 Besucher jährlich zu verkraften hat.
Funktional ging es darum, Jungen und Mädchen adäquate Wohnverhältnisse mit neuen Sanitäreinrichtungen zu schaffen, die Unterrichts- und Aufenthaltsräume auf heutigen Standard – auch mit Barrierefreiheit und Brandschutz – zu bringen und dabei den einzigartigen Denkmalwert zu berücksichtigen. Außen lässt sich kaum erkennen, mit welchem Aufwand dabei die Bausubstanz zu erforschen und zu ertüchtigen war.

Wendeltreppe aus dem 19. Jahrhundert in der Bibliothek des Klostermühlengebäudes (Bild: Wilfried Dechau)
Werk auf Maß
Durch alle Klosterbauten zieht sich ein klares Gestaltungskonzept. Neues Interieur – Tische, Betten, Schränke – ist als modulares Mobiliar aus geölter Eiche funktional perfekt und atmosphärisch unspektakulär, tauglich für alle Bauten der Anlage entworfen worden. Es verträgt die Spuren des Schulalltags vorzüglich und passt in alle Gebäude und Räume, die teils aus verschiedenen Jahrhunderten stammen. Allein die Treppen lassen mit horizontal auskragenden Edelstahlstäben im Geländer so etwas wie Zeitgeist statt Zeitlosigkeit erkennen – doch in keineswegs störender Weise. Um Substanz, die ein Heiligtum der Denkmalpflege ist, zu schonen und keine Schlitze ins alte Gemäuer zu schlagen, sind Strom- und sonstige Leitungen in Zwischendecken und freistehende Säulen verbannt.

Musiksaal im nördlichen Teil des Herrendorments (Bild: Wilfried Dechau). Auf der gleichen Ebene befinden sich schallgeschützte Einzelübungs-Räume.
Wohl gibt es nach wie vor Mehrbettzimmer, aber teilweise werden diese als Einzelzimmer genutzt. Aufenthaltsräume, Bibliotheksbereiche, kleine Kochzonen und Speiseräume bieten all das, was ein Zuhause ausmacht. Weil Musik ein Unterrichtsschwerpunkt am althumanistischen Gymnasium ist, stehen Einzelübungsräume und Aufführungssäle zur Verfügung.
Auch das legendäre Klassenzimmer im Erker am Kreuzgang ist so saniert, dass man nicht mehr friert und nicht geblendet wird. Ja, hier lässt sich leben und lernen. Es fehlt an nichts.

Gemeinschaftsbereich im südlichen Herrendorment mit Sitzstufen um einen Durchblick zum Grabungsbereich (Bild: Wilfried Dechau)

Der Küchen-Neubau war zunächst als „Blechkubus“ erkennbar und ist inzwischen patiniert. (Bild: Wilfried Dechau)
Weil die einstige Küche den Räumen für mehr Schülerinnen weichen musste, kam ein Neubau hinzu, an dem sich die Geister scheiden. Einer alten Denkmalsitte folgend, ist der Küchentrakt deutlich als Kontrast zur Altbausubstanz konzipiert, sollte eine Art Blechschachtel werden und wirkt, inzwischen patiniert, wie ein Quader aus Betonfertigteilen. Dieser Kontrasthabitus musste wirklich nicht sein und entspricht noch einem Denkmal-Weiterbauen-Verständnis des 20. Jahrhunderts. Ein schöner Holzbau oder ein erkennbar mit Steinplatten bekleideter Skelettbaukörper hätte unauffälliger, im wahrsten Sinne des Wortes angemessener ausfallen können.

Neuer Speisesaal in der Abt-Entenfuß-Halle, die durch einen Glasgang mit der neuen Küche verbunden ist. (Bild: Wilfried Dechau)
Jenseits des Wettbewerbs
Die behutsame, zum Teil sehr komplizierte Sanierung des Welterbes der Kultur ist keine Allerweltsaufgabe und setzt Erfahrung, klare Konzepte, Ausdauer und Kompetenz bei überraschenden archäologischen oder bausubstanziellen Entdeckungen voraus. Über all das muss eine vertrauenswürdige Bauverwaltung verfügen, die nicht dem teils absurden Wettbewerb unter Architekten ausgesetzt ist. Denn Wettbewerb ist kein Allheilmittel, wie Berufsverbände von Architekten immer wieder glauben machen wollen. Kehrseiten des Wettbewerbs kennen wir: Zwang zu eigener Formensprache, originellen Konzepten und Absonderlichkeiten – davon ist eine Bauverwaltung zumindest weitgehend befreit. Sie ist anderen Qualitäten verpflichtet, die über das Neue um seiner selbst wegen hinausweisen. Es wäre gut, wenn den Verwaltungen in diesem Sinne mehr Kompetenzen und mehr Mitarbeiterinnen zugebilligt werden könnten. So ließe sich das Vertrauen in eine Verwaltung stärken, der nicht nur ein Welterbe wie Maulbronn, sondern auch unsere gesamte Infrastruktur als baukulturelle Aufgabe zugetraut werden kann.
1) „Weitläufig, fest und wohl erhalten stehen die schönen alten Bauten und wären ein verlockender Wohnsitz, denn sie sind prächtig, von innen und außen, und sie sind in den Jahrhunderten mit ihrer ruhig schönen, grünen Umgebung edel und innig zusammengewachsen“. Hermann Hesse: Unterm Rad. Frankfurt, 1970, Seite 53

Übergang von der Seminar-Eingangshalle im nördlichen Herrendorment zum Treppenhaus. Barrierefreiheit in solcher Bausubstanz verlangt kleine Raumwunder mit Präzisionsarbeit. (Besichtigung mit Desinfektion und Maske im März 2021; Bild: Wilfried Dechau)
Bauherr
Land Baden-Württemberg, vertreten durch Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Pforzheim
Nutzer
Evangelisches Seminar Maulbronn
Architekten
Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Pforzheim
Projektleitung und Planung: Gerhard Habermann, Holger Probst, Rolf Creyaufmüller
Entwurf Mobiliar: Gerhard Habermann, Rolf Creyaufmüller
Bauleitung: Konrad Hess (+), Stéphane Castel, Rolf Creyaufmüller