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Unter dem Titel „retrotopia“ werden im Berliner Kunstgewerbemuseum erstmals Designobjekte von sechzehn Museen und Sammlungen aus dem östlichen Europa gezeigt, um nach der Rolle von „Gestaltung in sozialistischen Räumen“ zu fragen. Der Autor hat die zweiteilige Schau besucht und wundert sich, warum sie mit einem so negativ besetzten Titel (1) beworben wird.

oben: Retrotopia. Design for Socialist Spaces, Kunstgewerbemuseum + Kulturforum 2023 (© Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker)

SPHINX – Superfunktionale Informations- und Kommunikationseinheit, alternative Konfiguration, Sowjetunion, 1986–87, Reprints, 2023 (© Privatsammlung)

SPHINX – Superfunktionale Informations- und Kommunikationseinheit, alternative Konfiguration, Sowjetunion, 1986–87, Reprints, 2023 (© Privatsammlung)

Eigentlich ist allen klar, dass man Äpfel und Birnen nicht miteinander vergleichen kann. Trotzdem haben sie es im Berliner Kunstgewerbemuseum wieder einmal versucht. Sechzehn partnerschaftlich verbundene Design-Sammlungen hat das verwinkelte Haus am Berliner Kulturforum zu einem multinationalen Großprojekt eingeladen: „retrotopia – design for socialist spaces“. Aus ihren Beständen in Tallinn, Kaunas, Vilnius, Warschau, Budapest, Prag, Brünn, Bratislava, Kiew, Ushgorod, Chernihiv, Ljubljana, Zagreb und Eisenhüttenstadt durften Co-Kuratorinnen2) jeweils zwei prägnante Sammlungsthemen beisteuern, wobei eines eher dem häuslich-privaten Bereich, das andere der öffentlich urbanen Sphäre gewidmet sein sollte. Und so sind serientaugliche Möbel neben Stadtvisionen zu sehen, künstlerische Buntglasfenster neben urbanen Festivaldekorationen, Plakate von wegweisenden Designausstellungen neben phantasiereichen Apparaturen, die aus dem Fundus der Raumschiff-Enterprise-Filme stammen könnten.

Modell des ‘intelligenten Arbeitsraums’ in Originalgröße, Teil der ‘Heim-Informations-Maschine ‘(DIM), ausgestellt auf der Elektronik-Ausstellung, Moskau, Sowjetunion, 1971, Reprint, 2023 (© Privatsammlung Wladimir Papernyj)

Modell des ‘intelligenten Arbeitsraums’ in Originalgröße, Teil der
‘Heim-Informations-Maschine ‘(DIM), ausgestellt auf der Elektronik-Ausstellung, Moskau, Sowjetunion, 1971, Reprint, 2023 (© Privatsammlung Wladimir Papernyj)

Als verbindende Klammer für diese im Wortsinne „bunte Vielfalt“ dienen allein die politische Geografie und das Epochenfenster: Es geht um die Designkultur des „Ostblocks“3) in der Ära des Kalten Kriegs. Elf „Designkapseln“ sollen einen Überblick schaffen, von welcher Zukunft in den Ländern des Realsozialismus geträumt wurde. Nach dem verheerenden Weltkrieg galt es in allen hier genannten Ländern nicht nur Städte und Dörfer neu aufzubauen, sondern auch völlig neue Gesellschaftsmodelle zu konstruieren, weshalb neben der traditionellen Hochkultur vor allem an Architektur und Design hohe Erwartungen gestellt wurden. Jenseits staatlicher Konsolidierung und Repräsentation war man aber auch in der östlichen Hemisphäre mit einer globalen Modernisierung konfrontiert, sodass beiderseits des „Eisernen Vorhangs“ ähnliche Gestaltungsfragen anstanden, oft vergleichbare Visionen entwickelt wurden. Hier wie dort war Zukunft ein Hoffnungsbegriff, ihre Verheißungen sollten der ganzen Menschheit zugutekommen. „Das bis heute gültige Narrativ in der Nachkriegsmoderne lautete: Technologischer Fortschritt gleich sozialer Wohlstand gleich Glück für alle.“4)

Presidential Airport Lounge, Bratislava, Slovakia ( Lívia Pem?áková)

Presidential Airport Lounge, Bratislava, Slovakia (© Lívia Pemáková)

Neuer Alltag, neue Formen

Bis in die frühen 1960er Jahre waren es vor allem große Ausstellungen und populäre Publikationen, die nicht nur staatlichen Aufbauwillen feierten, sondern für eine neue ästhetische Kultur im privaten Alltag warben. Man muss sich die biedere Bürgerlichkeit damaliger Wohnstandards hinzu denken, um etwa den Mut slowenischer oder estnischer Designer zu ermessen, die mit atemberaubend modernen Raumschöpfungen vom Erneuerungswillen einer jungen Nachkriegsgeneration kündeten. Wie sehr dabei zwischen Tallin, Warschau, Prag oder Zagreb auch Unterschiede galten – gesellschaftlich wie kulturell – ist dem Nebeneinander der in Berlin versammelten Exponate nicht auf Anhieb zu entnehmen. So führte etwa in Jugoslawien das Prinzip der Arbeiterselbstverwaltung anfangs zu einer betont kollektiven Freizeitkultur. In den baltischen Republiken wehrten sich Grafiker und Designer schon frühzeitig gegen eine nivellierende „Allunions-Ästhetik“ nach Moskauer Norm. In der DDR erblühte gegen die Langeweile anonymer Plattenbauten eine rege Do-it-yourself-Wohnkultur, die durch Magazine und Ratgeberbücher kräftig befördert wurde. Solche und weitere Denkanstöße geben die Exponate durchaus her, sobald man etwas Ahnung von den jeweiligen historischen Kontexten mitbringt. Die Zahl entsprechend präparierter Betrachter dürfte indes gering sein, wird doch mit dieser Ausstellung gerade die „Erstbegehung“ eines im Westen weithin unbekannten Terrains versprochen.

Sirje Runge (Lapin), Proposal for the Design of Areas in Central Tallinn, 1975 (© Museum of Estonian Architecture, Foto/Photo: Tiit Veermäe)

Sirje Runge (Lapin), Proposal for the Design of Areas in Central Tallinn, 1975 (© Museum of Estonian Architecture, Foto/Photo: Tiit Veermäe)

Designgeschichte neu bewerten?

Eigentlich wollen die Kuratorinnen „mit ihren umfangreichen Recherchen und Forschungen entscheidend zu einer überfälligen Neubewertung der globalen und dekolonialen Designgeschichte beitragen“5). Umso verwunderlicher ist, dass die Objekte im Saal völlig ohne Hinweise auskommen müssen. Weder Ort noch Entstehungsjahr wurde ihnen beigegeben, sämtliche Basisfakten muss man sich aus kleinen Begleitbroschüren mühsam herausklauben – ein völlig dysfunktionales Arrangement, bei dem man sich fragt, wie Hauptkuratorin Claudia Banz vom gastgebenden Kunstgewerbemuseum Berlin sich wohl ihren Durchschnittsbesucher vorstellt.

Dass es auch anders geht, beweist das „Archiv“ – jener zweite, separat präsentierte Ausstellungsteil, in dem Mari Laanemets von der Kunstakademie Tallinn theoretische Grundlagen und das institutionelle Hinterland des osteuropäischen Designs auffächert. Mit kurzen Erläuterungen wird über Hochschulen und ihre kreativen Lehrprogramme, über aktive Designer- und Künstlerverbände, debattierfreudige Zeitschriften, internationale Messen und Symposien informiert. Sinnreich sortierte Fotos, Poster, Bücher und Filme lassen nachvollziehen, wie beruflicher Austausch gepflegt, Nachwuchs gefördert, fachliche Kompetenz gegen ideologischen Zugriff verteidigt wurden. Und als sicher überraschende Auskunft: Kollegiale Verbindungen mit der übrigen weiten Welt hatte es zu jeder Zeit gegeben. Also mitnichten so abgeschottet und von Ahnungslosigkeit geschlagen, wie der Westen sich den Osten bis heute vorstellt. War eigentlich „ganz schön bunt hier“. Bei so viel Optimismus bleibt der Besucher mit einer Frage bis zum Schluss ganz allein: Wo sollte es hier eigentlich zu suchen sein, „Retrotopia“, das Reich einer falschen Sehnsucht?


2319_Retrotopia_Katalog_TitelZur Ausstellung ist ein Katalog im Verlag Ketteler erschienen.
Retrotopia. Design for Socialist Spaces“ | Kunstgewerbemuseum Berlin | bis 16. Juli 2023
Kulturforum / Matthäikirchplatz, 10785 Berlin
Di-Fr 10-18 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr

https://www.museumsportal-berlin.de/de/ausstellungen/retrotopia


1) In seinem letzten Buch „Retrotopia“ geißelt der polnisch-britische Philosoph Zygmunt Bauman die verbreitete Sehnsucht moderner Menschen nach einer heimeligen Vergangenheit, die den euphorischen Utopismus der Nachkriegsjahrzehnte abgelöst hat.

2) Hier stimmt die Schreibweise: Bei der Eröffnungsfeier standen zum Begrüßungsapplaus (mit einer Ausnahme) nur Frauen auf der Bühne.

3) Die unerschütterliche Weiterverwendung dieser Abwehr-Vokabel aus dem Kalten Krieg gewinnt auch mit der punktuellen Ersetzung als „Zweite Welt“ nicht an Achtsamkeit. Für Umgangsformen „auf Augenhöhe“ sollten dringend weniger abschätzige Begriffe gefunden werden.

4) zit. aus der Ankündigung des Museums: https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/retrotopia/

5) ebenda