Erinnerungskultur (II): Besserwissen ist einfacher als Bessermachen. Ging es im Beitrag Erinnerungskultur (I) analysierend um die »Amnesie der Wohlmeinden«, wenden wir uns jetzt dem zu, was zu einer konstruktiven Debatte gehört: Vorschlägen zur Amnesieprävention. Wie soll man also umgehen mit dem offensichtlichen, virulenten Wunsch nach Großreinemachen im öffentlichen Gedächtnis?
In den letzten Tagen haben die FreundInnen der Sauberkeit ein ganz neues, mutmaßlich hoch konsensfähiges Betätigungsfeld gefunden: So verschwinden die Borschtschkonserven aus dem Supermarktregal, Tschaikowski vom Konzertprogramm, und hier und da sind auch schon in Gaststätten Aushänge mit dem traditionsreichen Wortlaut »Russen sind hier unerwünscht« gesichtet worden. Die bewährte Methode ist somit beliebig auf alle plötzlich neu auftauchenden Feindbilder übertragbar – ein Allzweckreiniger, sozusagen.1 Um den eingangs angedeuteten konstruktiven Weg einzuschlagen, sind im folgenden sieben Thesen formuliert, die Widerspruch provozieren mögen – und das sollen sie auch.
1_ Beleidigtsein heißt nicht Rechthaben
Ältere wie der Verfasser werden sich noch erinnern, dass »offended« früher »betroffen« hieß. Es meinte aber dasselbe: Durch das Hervorkehren der starken, individuellen Emotionen sollte in einer öffentlichen Debatte der argumentative Hebel gegenüber denjenigen verlängert werden, die sachlich kühl, scheinbar »unbeteiligt« zuschauen. Natürlich haben Juden beim Antisemitismus und People of Colour beim Rassismus aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen eine andere Kompetenz, die Themen besitzen für sie eine höhere Dringlichkeit. Deshalb müssen sie bevorzugt, ausführlich und ernsthaft angehört werden, sie sind sozusagen Kronzeugen, aber keine Oberrichter. Wer meint, man könne sich überhaupt nur als Afrodeutsche(r) kompetent zur zukünftigen Existenzberechtigung »afrikanischer« Straßenviertel äußern, verwechselt Expertise mit Weisungsbefugnis. Mit demselben Recht könnte man fordern, dass über Lutherstraßen nur evangelische Theologen und über Richard-Wagner-Plätze nur ausgebildete Musiker entscheiden dürfen. Vielmehr müssen alle am Thema Interessierten gehört werden und mitreden dürfen, das ist in der freiheitlich-egalitären Demokratie nun mal so gesetzt. Wir sind ja auch sonst (zumindest de jure) keine Expertokratie.
2_ Spielregeln sind einzuhalten
Was für Corona gilt, gilt auch für Interventionen im öffentlichen Raum: Man kann sich bei Gesetzen nicht aussuchen, ob man sie mehrheitlich beachten will oder in diesem besonderen Falle mal nicht, weil man doch diesmal so recht hat und die andern das nur nicht einsehen wollen. Das Selbstankleben auf Autobahnzubringern, Beschädigen von Denkmälern oder Diskreditieren von Andersdenkenden muss im Rechtsstaat unabhängig davon betrachtet werden, wie gut und edel angeblich die Motive der jeweils Empörten sind: Deshalb ist Justitia blind. Das gilt auch dann, wenn man wie in meiner Heimatstadt Wiesbaden meint, das Regelwerk darüber, wer Straßenumbenennungen entscheidet – in Hessen die Ortsbeiräte – dann mal kurz aushebeln zu dürfen, wenn die störrischen Locals einfach nicht willens sind, einen nach dem (heftig rechts agierenden) Komponisten Hans Pfitzner benannten Weg an Johannes Brahms zu überschreiben.
3_ Damnatio memoriae sit ultima ratio!
Das Entfernen, Umbenennen und Abräumen, schon im antiken Rom als »Verbot der Erinnerung« eine ebenso scheinbar probate wie faktisch untaugliche Zwangsmaßnahme, sollte stets nur das allerletzte Mittel sein, und zwar dann, wenn die Rechtslage oder ordentliche Mehrheitsbeschlüsse nach ergebnisoffener Diskussion diese Neuorientierung ausdrücklich legitimieren. Noch besser wäre es aber, wenn dann der durchgestrichene alte Straßenname möglichst lange lesbar bliebe: Um den Prozess des kollektiven Umdenkens, also der Veränderung zu dokumentieren, nicht die Tatsache der vormaligen Denomination zu verschleiern. Das beste Denkmal der Anti-Colston-Proteste in Bristol 2020 ist nun mal das Colston-Denkmal, durchaus in seiner geschundenen Form. Wenn in Richmond erst alle Südstaatendenkmäler rückstandsfrei entsorgt sind, wird man auch nicht mehr drüber staunen können, wie monumental die unterlegenen Rebellen einst mitten in der siegreichen Union geehrt werden konnten. »War da was? Ich kann mich an nichts erinnern« ist in Deutschland allzu oft wiederholt worden, als dass man das als probates Motto erfolgreicher Vergangenheitsbewältigung empfehlen sollte.
Besser als das Entfernen umstrittener Straßennamen wäre es somit, alle bisher nicht Involvierten erstmal mit dem Problem vertraut zu machen: Nicht jeder kennt Carl Peters oder Hans Pfitzner, Debatten sollten nicht nur unter »Eingeweihten« geführt werden. Also dann doch lieber eine nicht allzu tendenziöse Erläuterung drunter, zum Beispiel bei Pfitzner: »Deutschnational eingestellter Komponist (1869-1949)«. Da seine Hauptwerke mehrheitlich vor 1933 entstanden, aber schon dieselbe Gesinnung zeigten, trifft das vermutlich die Faktenlage besser als einfach »Antisemit“. Aber Vorsicht: Das verpflichtet dann zum wachsamen Aktuellhalten der Fußnoten, da weder Forschungstand noch Diskussionsdynamik in Emaille zu verewigen sind.
4_ Mut zum Grauschleier
Waschmittel, die »nicht nur sauber, sondern rein« oder »weißer als Weiß« waschen, gehören bekanntlich zu den realitätsfernen PR-Gags im Vorabend-Werbeblock. Die reale Welt ist leider oftmals nicht schwarz-weiß, sondern in Grautönen viragiert. Das gilt auch für die meisten Leute, denen einmal Denkmäler errichtet und öffentliche Räume namentlich zugeeignet worden sind. Solche Trübungen dürfen nicht geleugnet, aber genauso wenig zur unübersteigbaren Hürde für das Recht auf einem Ort im kollektiven Gedächtnis gemacht werden. Luthers Antijudaismus zu beschönigen ist genauso falsch, wie ihn darauf reduzieren zu wollen. Wagner hat sich ins europäische Gedächtnis nicht mit seinem argumentativ eher dürftigen Essay zum »Judentum in der Musik« eingeschrieben, sondern durch seinen Beitrag zur europäischen Theater- und Geistesgeschichte. Unter der Kanzlerschaft Otto von Bismarcks wurden zwar 1884 die ersten deutschen »Schutzgebiete« (vulgo Kolonien) ausgerufen, aber wahrlich nicht auf seine Initiative hin: Viel eher sollte man diskutieren, was von seiner machiavellistischen Blut-Eisen-Einigungspolitik vor 1871 zu halten ist. Wir müssen realisieren und aushalten, dass die Geschichte mehrheitlich keine scharf geschiedenen Engel und Teufel, Gretas und Adolfs hervorgebracht hat, sondern höchst gemischte Charaktere, über die man streiten darf und soll, aber eben auch muss. Und das kann man nur, wenn sie im öffentlichen Gedächtnis bleiben. Wird die Eroberung Amerikas dadurch ungeschehen oder harmloser gemacht, wenn es irgendwann mal keine Kolumbus-Denkmäler oder -Straßen mehr gibt? Macht Verdrängung aus dem Bewusstsein Bedenkliches wie die langandauernde kritiklose Verehrung solcher zwiespältiger »Helden« wirklich besser?
5_ Kreativität statt Destruktivität
Umhauen kann jeder. Es mag ja emotional guttun, die Bronzebilder ehemaliger Sklavenhändler vom Sockel zu zerren, auf ihren Nacken zu knien und sie dann im Hafenbecken zu versenken … aber es ist auch ein bisschen infantil. »Macht kaputt, was Euch kaputtmacht« intonierte schon Opa mit den »Scherben« 1971, also vor einem halben Jahrhundert. Noch früher skandierte man »Deutsche, wehrt Euch…«. Das Gesicht des von Elias Canetti in »Masse und Macht« (1960) beschriebenen Hetzmobs ist nicht freundlicher, nur weil sich seine Mitglieder (eigentlich immer) auf der richtigen Seite und der Siegerstraße wähnen. Da sind mikroinvasive Interventionen intelligenter, zum Beispiel die blutig gefärbten Hände Leopolds II. von Belgien, der bekanntlich »widerspenstig-faulen Kongolesen« in seiner Privatkolonie die Hände abschlagen ließ. Protestaktionen sollten originell, diskussionsfördernd und vor allem reversibel sein. Vielleicht hat ja jemand später eine bessere Idee und braucht dasselbe Standbild für eine noch wirkungsvollere Intervention?
Der Verfasser wird daher im Sommersemester zusammen mit Prof. Wolfgang Lorch am Fachbereich Architektur der TU Darmstadt ein Seminar anbieten, indem die Studierenden zu Vorschlägen für solche Interventionen an umstrittenen Gedenkorten aufgefordert werden: Nur rückstandsloses Entfernen und gar nichts machen wäre als Abgabeleistung unzureichend. Wir sind gespannt auf die kreative Füllung des weiten Raumes dazwischen.
6_ Toleranz statt Wellness
»Toleranz« ist ein beliebtes »Hochwertwort« der Demokratie, die man meist sich selbst zuspricht, den Vertretern anderer Meinungen aber ab. Dabei wird meist vergessen, was es bedeutet: »Tolerare« heißt dulden, aushalten, ertragen, nicht gutfinden, oder um mit Rosa Luxemburg zu sprechen: »Die Freiheit der Andersdenkenden«. Es gilt also, auszuhalten, dass man Luther und Bismarck einst so viele Denkmäler gesetzt hat, dass es noch allenthalben Hindenburgufer und Richard-Wagner-Festspiele gibt, auch wenn man deren Ehrung vielleicht persönlich ablehnt. Es ist aber ein Unterschied, ob heute eine Straße nach einer zweifelhaften Figur neu benannt wird oder man das historische Faktum akzeptiert, dass andere Leute früher anders dachten und handelten. Nichtmuslime müssen Minarette ebenso akzeptieren wie Demokraten die Reiterbildnisse absolutistischer Fürsten. Unsere Städte sind Abbilder ihrer Geschichte, Vielfalt, Konflikte und Dissonanzen, mit Ecken, Kanten und Reibflächen, nicht nach jeweils wechselnder Mode sedativ ausgeschäumte Wohlfühloasen. Es ist gut, dass es in Weimar das Nietzsche-Archiv, einen Buchenwaldplatz, Hitlers Lieblingshotel »Elephant« UND das Gauforum gibt – nicht deshalb, weil das konsensfähige Werbeträger fürs Stadtmarketing wären, sondern weil sie die komplexe Geschichte der Bauhaus- und Klassikerwelterbestätte tradieren, die eben AUCH so war. Nicht schön, nicht nett, aber widerspruchsvoll und wahr.
7_ Wettstreit der Argumente statt Cancel Culture
Was uns fehlt, sind also nicht Listen für Straßenumbenennungen, sondern Foren und Formen der ergebnisoffenen, unaufgeregten Diskussion. Wenn am Ende einer solchen der mehrheitlich geteilte, demokratisch gefasste und rechtlich abgesicherte Beschluss steht, eine Kaserne zukünftig nicht mehr nach einem Wehrmachtsgeneral oder eine Straße nach einem sogenannten Afrikaforscher zu benennen, dann spricht natürlich nichts gegen eine Umbenennung. Es ist aber unzulässig, solchen Diskussionen mit dem Argument des angeblich »Unerträglichen« und »nicht mehr Zeitgemäßen« vorzugreifen, das lautstarke Gruppen stellvertretend für sich reklamieren. Vor allem dann, wenn Gegenargumente gar nicht mehr gehört werden, sondern Andersdenkende vorschnell einknicken, weil sie den Shitstorm mehr fürchten als den offenen Austausch lieben. Leider geben unter dem öffentlichen Druck der »sozialen« Netzwerke eben allzu oft die Klügeren nach.
Dafür ein letztes Beispiel: Das Augsburger Nobelhotel »Maximilian’s« bewirbt sich selbst so: »Unser traditionsreiches Haus blickt auf eine eindrucksvolle Geschichte von mehr als 300 Jahren zurück.«2 Allerdings hieß es mindestens 298 Jahre anders, nämlich »Drei Mohren«. Eine berühmte Adresse, die letzten Vertreter des 1866 aufgelösten Deutschen Bundes fanden hier zum Beispiel kurzzeitige Zuflucht vor der preußischen Expansion. Warum trägt ein solches Haus eigentlich über Jahrhunderte einen Namen, der doch in den Augen von White Suprematists nicht gerade werbewirksam scheint? »Der Name >Drei Mohren< gehe demnach auf drei abessinische Mönche zurück, die im 15. Jahrhundert in der damaligen Herberge Zuflucht gefunden haben sollen.«3 Somit ein historisches Zeugnis der uralten deutschen Willkommenskultur avant la lettre, nur dass man damals blöderweise noch nicht People of Colour sagte. Das wollte die am Lech sehr aktive Amnesty-Jugend aber nicht so genau wissen oder zumindest nicht gelten lassen. Dann doch lieber »Maximilian«, ein lupenreiner Autokrat auf dem Kaiserthron, dessen Sohn zeitgleich das spanische Welt(kolonial-)reich mitbegründete.
Fazit: Sobald das demonstrative Ignorieren historischer Zusammenhänge als probates Mittel gilt, um eine scheinbar vorurteilsfreie, weltoffene Gesellschaft zu befördern, ist Vorsicht geboten. Wenn schon, dann sollten wir uns bemühen, Weltmeister im Gedenken, Zuhören und Argumentieren, nicht im Vergessen, Weißwaschen und Verbieten zu werden – auch wenn woke gerade hip ist.
1 Vergl. hierzu die PM des deutschen PEN-Zentrums: https://www.pen-deutschland.de/de/2022/03/06/the-enemy-is-putin-not-pushkin/, vom 06.03.2022.
2 https://www.hotelmaximilians.com/#, 13.02.22
3 Frankfurter Rundschau, 05.08.22, https://www.fr.de/panorama/rassismus-streit-drei-mohren-hotel-augsburg-name-umbenennung-90018559.html, 13.02.22