• Über Marlowes
  • Kontakt

Nach der Kernkraft: Ganz abgesehen davon, dass mit dem Atommüll Zeitbomben ticken, zeigt jetzt eine Ausstellung auf, wie mit den baulichen Hinterlassenschaften der Atomkraftwerksbetreiber verfahren werden kann. Stefan Rettich konzipierte mit Studierenden die denkbaren Szenarien.

Oben: Idee für die Umnutzung eines Kühlturms (Bild: Stefan Rettich, Studierende)

2303_AKW_Titel

Janke Rentrop, Stefan Rettich (Hrsg.:): Nach der Kernkraft. Konversionen des Atomzeitalters. 14 × 21 cm, 224 Seiten, 150 schwarzweiße Abbildungen. Jovis Verlag, Berlin 2022. ISBN 9783868597554. 32 Euro

Nur mal so gefragt: Welches Ereignis verbindet sich mit dem Namen Harrisburg? Wo liegt der Ort? Wann fand das fragliche Ereignis statt? – Die Rede ist vom Reaktorunfall im Kernkraftwerk (KKW) Three Miles Island, der infolge einer Kernschmelze am 28. März 1979 um ein Haar nicht nur den US-Staat Pennsylvania in eine atomare Wüste verwandelt hätte. 44 Jahre liegt das jetzt zurück. Wer erinnert sich noch wirklich?

In dem jetzt von Stefan Rettich und Janke Rentrop vorgelegten Buch „Nach der Kernkraft“1) geht es viel um Erinnerung, denn Ausgangslage für diesen zur rechten Zeit erschienenen Denkanstoß ist das Ende einer Epoche. Im Rahmen eines dreijährigen Forschungsprojekts am Fachgebiet Städtebau der Universität Kassel und nach einer lobenswert sachlichen Auflistung aller deutschen Kernkraftanlagen fragen Herausgeber und Autoren, wie es denn nun weitergehen soll nach dem „Ausstieg“, dem „Abschalten“. Schließlich wird hier Verzicht erklärt – auf eine Energiequelle, die, abgesehen von ihrem militärischen Ursprung und den daraus bis heute unentwegt wachsenden, unvorstellbaren Zerstörungspotenzialen, eben auch in erheblichem Maße zum Lebensniveau unserer Industriegesellschaften im globalen Norden beigetragen hat. Weltweit sind derzeit etwa 440 Kernkraftwerke in Betrieb, Deutschland hat es in der Summe auf 31 Leistungsreaktoren an 21 Standorten gebracht. „Die Euphorie darüber, die wachsende Energiefrage auf diese scheinbar einfache Art lösen zu können, muss derart groß gewesen sein, dass man sich auf eine Hochrisikotechnologie einließ – ohne Exitstrategie und ohne die Kosten eines späteren Ausstiegs auch nur im Ansatz zu kennen.“ (Rettich, Seite 8)

Doch auch kaum eine Technologie war schon seit ihrer Einführung so erbittert umstritten wie die Nutzung der Kernenergie. Letztlich handelte es sich um ein politisches Projekt. „Und weil für die Umsetzung der kommerziellen Nutzung die deutsche Energiewirtschaft benötigt wurde, waren die Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft deutlich enger, als die zwischen Politik und Zivilgesellschaft – was sich später als zentrales Problem herauskristallisieren sollte.“ (Seite 9) Zunehmend militante Auseinandersetzungen wegen der gewaltigen Risiken haben die deutsche Gesellschaft verändert, ihre Protestformen und zivile Streitkultur nachhaltig geprägt. Auch die Grundsatzentscheidung, unter dem Schock der Fukushima-Katastrophe den Pfad der Atomnutzung wieder zu verlassen, wurde von Politikern gefällt und dann zum allgemeinen gesellschaftlichen Konsens ausgerufen (das aktuelle Parteiengezänk um eine krisenbedingte Laufzeit-Verlängerung darf als Nachhutgefecht gelten).

4_2303_AKW_Fotoessay_Standorte_Kruemmel_Nils-Stoya_sw

Rastplatz vor Industriedenkmal: Krümmel (Bild: Nils Stoya)

Aus den Augen, aus dem Sinn

Als die Schriftstellerin Annett Gröschner um die Jahrtausendwende im brandenburgischen Rheinsberg Mitarbeiter und Anwohner von Deutschlands erstem KKW (1966-1990) interviewte, traf sie auf „eine Generation, die am Anfang ihres Arbeitslebens dorthin kam, den Reaktor aufbaute, am Ende wieder abbaute und nach Hause ging.“2) Der sonst so tröstliche cradle-to-cradle-Gedanke trägt aber in diesem Fall nicht. Mit den Problemen atomtechnischer Spurenbeseitigung müssen sich Strahlenschutzexperten und Rückbaufirmen hierzulande schon seit 1985 auseinandersetzen, verstärkt infolge der ad-hoc-Abschaltung der beiden DDR-Kraftwerke in Rheinsberg und Greifswald nach 1990. Der dabei erforderliche sicherheits- und bautechnische Aufwand hat schnell zu florierenden Geschäftsmodellen geführt, an denen allenfalls die Selbstverständlichkeit überrascht, mit der man für sämtliche Standorte die Rückkehr zum Status quo ante verspricht – die Grüne Wiese. Da scheint sich jener leidige Impuls zu wiederholen, der schon bei der Braunkohle-Rekultivierung mit dem sentimentalen Vorsatz antrat, aus „geschundenen“ oder „verwundeten“ Landschaften alle Spuren industrieller Nutzung zu tilgen. Als hätte es die IBA Emscherpark mit ihrer kulturellen Rehabilitierung des Industriezeitalters nie gegeben. Und als seien die harten Konfrontationen zwischen Staatsmacht und Anti-Atom-Bewegung kein geschichtlich relevanter, also zu erinnernder Sachverhalt.

120 Kilometer Widerstand: Menschenkette von Krümmel bis Brokdorf (Foto: Günter Zint, Stiftung Zint)

120 Kilometer Widerstand am 24. April 2010: Menschenkette von Krümmel bis Brokdorf (Foto: Günter Zint, Stiftung Günter Zint)

Doch gerade den reklamiert im Buch der Denkmalpfleger Michael Bastgen unter Berufung auf Gabi Dolff-Bonekämpers „Streitwerttheorie“, und zwar nicht bloß aus Gründen politisch-historischer Selbstvergewisserung: Er sieht nämlich „die Gefahr, dass die Hinterlassenschaften der Atomkraftnutzung – aus den Augen, aus dem Sinn – nach wenigen Dekaden vergessen werden. Ein sichtbares Denkmal könnte kommende Generationen auf die Existenz dieser Lagerstätten als negative Folgen der nuklearen Energieerzeugung hinweisen.“ (Seite 35)

Damit kommt jene Zahl ins Spiel, die an verschiedenen Stellen des Buches immer wieder aufzuckt wie ein Irrlicht: Eine Million! Für so viele Jahre werden Sicherheitsgarantien gefordert, wenn es um die Endlagerung radioaktiven Mülls geht. Und da wird nicht mal nach Materialfestigkeiten gefragt, sondern nach „einem Medium der Vermittlung und Verständigung mit nachfolgenden Generationen, die dann in der Verantwortung einer Technologie stehen, die sie nicht verantwortet haben“. (Rettich Seite 29) Wenigstens der Architekt Tim Edler hat den Mut zum Klartext: „Dafür fehlt mir die Fantasie. 100 Jahre, da kann man sich noch etwas ausmalen, aber schon 500 Jahre liegen außerhalb meiner Vorstellung …“ (Seite 49) Hantieren in völligem Nebel. Planungsentscheidungen für Zeiträume, die selbst mit KI-basierten Modellen nicht überschaubar zu machen sind. Wer sich auf solche Gedanken ernsthaft einlässt, dem kann leicht schwindlig werden.

Von der Angstdebatte zur Ressourcenschonung

Trotzdem muss nach Handlungsspielräumen im Hier und Jetzt gesucht werden. „Das Atomprojekt, das als politisches Projekt gestartet ist und zu einem gesellschaftlichen Projekt mutierte, soll am Ende wieder auf rein technologischer Ebene abgewickelt werden – unter Verschwendung ungeheurer Mittel und Massen an grauer Energie.“ (Seite 21) Zwei einfache Sachverhalte können die Suche erleichtern: Von den Baumassen eines KKWs sind nur etwa drei Prozent radioaktiv kontaminiert! Die muss man sorgfältig extrahieren, sortieren, reinigen und schutzgerecht deponieren, die Verantwortung dafür liegt beim Bund (unter Verwendung von Entsorgungsrücklagen der Betreiber). Die restlichen 97 Prozent werden erst „freigemessen“, dann aus dem Atomgesetz entlassen. Der damit ermöglichte konventionelle Rückbau ist Sache der Eigentümer, meist Energieversorger, die häufig regionalem Einfluss unterliegen.

Und an diese, für ihre jeweiligen Standorte auch in Zukunft wichtigen Akteure richtet sich der Appell: Denkt an die CO2-Bilanz! Wenn der Paradigmenwechsel im Bauwesen, der eine Reduzierung des Ressourcenverbrauchs, den Erhalt bestehender Baustrukturen und sinnvolle Materialkreisläufe fordert, jetzt Fahrt aufnimmt, darf er um die – womöglich von Scham oder Panik getriebene – „Tatortreinigung“ der Atomindustrie keinen Bogen machen. Allein für den Abtransport der Trümmer der beiden Reaktoren von Biblis würden 19.000 LKW-Fahrten gebraucht! Dabei bieten die grob veranschlagten 15 Jahre für jeden konventionellen Rückbau doch ein ordentliches Zeitfenster zum Nachdenken: Grüne Wiese soll keine Option mehr sein!

Unbenannt-1

„Lebenskraftwerk“ für bedrohte Tiere und Pflanzen. Studentische Projektidee für das KKW Biblis von Rina Gashi, Theresa Heise, Christian Kern, Benedikt Wirzel (Uni Kassel)

Diskutable Nachnutzungen werden im Buch etliche genannt, einige durch studentische Ideenentwürfe illustriert (die leider zu blass, kaum werbewirksam sind). Der Standort Kalkar ist nicht dabei, wo tatsächlich schon mal ein „Wunderland“ 3) entstand mit Hotels, Kongresszentrum, Achterbahn und Riesenrad, am Kühlturm darf geklettert werden. „Gestartet als Reaktor, gelandet als Karussell“, so der süffisante Kommentar der SZ.4) Welche Tendenz den Autoren des Buches lieber wäre, macht Tim Edler deutlich, der auf die einstige Raketenstation Hombroich verweist, wo aus einer kaum weniger schreckensbesetzten Hinterlassenschaft ein höchst anziehender, geradezu poetischer Ort entstand – durch Liegenlassen, spontane Renaturierung, ganz allmähliche, schrittweise Entwicklung.

3_2303_AKW_Fotoessay_Standorte_Unterweser_Nils-Stoya

Ländliche Idylle mit „gutem Nachbarn“? KKU Unterweser, Stadland (Foto: Nils Stoya)

Wie schon Industriedenkmalpfleger warnen, kann nicht aus jedem verschlissenen Produktionsbau ein Kunstmuseum oder ein botanischer Mustergarten für die ökologische Agrarwende werden. Die Eigentümer der stillgelegten Werksanlagen bevorzugen Nutzungsideen mit Gewinnaussicht. In der langen Generatorhalle von Greifswald werden Kräne montiert. Für Standorte nahe der Elbmündung kommen Verteilung und Speicherung des Stroms von Offshore-Windfeldern in Betracht. Man darf gespannt sein, ob bei der Transformation der Atommeiler besser gelingt, was im Lausitzer Braunkohleland nur stockend vorankommt: die Ablösung alter zugunsten neuer Energien. Das wird, wie bei jedem Epochenübergang, auch eine Frage von Bildern sein. Sind die unheimlichen Stromfabriken erst einmal von ihrem „bösen“ Kern befreit, sollte es gelingen, sie zu „guten Nachbarn“ zu entwickeln: als Orte für neue Arbeit, für ökologische Produktion, für angemessenes Gedenken und fröhliche Experimente. Parametrisch geschulten Blicken dürften Kühltürme und Reaktorkuppeln mindestens so erhaben sein wie die gusseisernen Kathedralen des frühen Industriezeitalters. In den Kulturlandschaften des 21. Jahrhunderts, die sich weitgehend als Energielandschaften zeigen werden, sollten sie als Landmarken auf keinen Fall verloren gehen.

Camping-Freuden vor Energielandschaft: Grafenrheinfeld. (Foto: Nils Stoya)

Camping-Freuden vor Energielandschaft: Grafenrheinfeld. (Foto: Nils Stoya)

Bei der Ausstellungseröffnung (Bild: Uni Kassel)

Bei der Ausstellungseröffnung (Bild: Uni Kassel)

Zum Buch „Nach der Kernkraft“ entstand an der Universität Kassel auch eine Ausstellung, die das Bundesamt für die Sicherheit der Nuklearen Entsorgung (BASE) in Berlin noch bis zum 15. April 2023 zeigt. Nähere Informationen: https://www.base.bund.de/SharedDocs/Termine/BfE/DE/2022/nach-der-kernkraft-konversionen-des-atomzeitalters.html;jsessionid=23E5157C885656736F07D61C53647B50.1_cid374


1) Stefan Rettich und Janke Rentrop (Hrsg.): „Nach der Kernkraft – Konversionen des Atomzeitaltes“. Mit Fotografien von Nils Stoya und Günter Zint. Berlin (Jovis Verlag) 2022. 208 Seiten. 32 Euro.

2) Annett Gröschner: „Kontrakt 903. Erinnerung an eine strahlende Zukunft.“ Berlin (Kontext Verlag) 2003 (leider vergriffen).

3) Kraftorte zwischen Physik und Metaphysik, in: Bauwelt (Berlin) 2023, Heft 1

4) Gerhard Matzig: Neue Energie. Was soll aus stillgelegten Atomkraftwerken werden? In: Süddeutsche Zeitung vom 4. 1. 2023