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Berlin, Las Vegas, Lissabon


Städte sind große Imaginationsmaschinen. Sie erzeugen Dramen und Komödien, sie lassen hoffen und träumen, sie konzentrieren Entwicklungen, die über ihre räumliche Ausdehnung weit hinausreichen, in ihnen aber konkret werden. Städte sind deswegen auch der Ort fortwährender Desillusionierung. Drei Buchempfehlungen.

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Florian Heilmeyer, Sandra Hofmeister: Berlin. urbane Architektur und Alltag seit 2009. 336 Seiten, 25 x 19,5 cm, 59,90 Euro
Edition Detail, München, 2022

Gerade erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Text über Berlin. In der Unterüberschrift hieß es, man dresche auf diese Stadt gerne ein, „weil hier angeblich nie was funktioniert. Aber will man woanders leben?“ Besser kann man die zusammenfassen, warum Berliner Selbstwahrnehmung für einen Nichtberliner so anstrengend sein kann. Opfermythos, wir und die anderen, Berlin, nur du allein. Gähn. Wie freut man sich über ein Buch, das Lust auf Berlin macht und in dem trotzdem Sätze wie dieser zu lesen sind: „Berlin hat einen Hang zum Provinziellen, das muss man einfach sagen.“ Gesagt hat es Matthias Sauerbruch im Interview. Dieses Interview ist einer der Texte, die die Präsentation von 30 Projekten begleiten und in denen außerdem die Großbauten der späten Nachkriegsmoderne, Berlins Bahnhöfe und Flughäfen, Baugruppenprojekte und der Berliner Klassizismus thematisiert werden – Hintergrundinformation und Einordnung der wichtigen Diskussionsthemen. Im Buch geht es um die Zeit seit 2009 – und das ist plausibel, denn nach der Bankenkrise wurde viel gebaut, wuchs der Druck auf die noch freien Flächen. Gleichzeitig sind einige der teils umstrittenen Prestigeprojekte fertiggestellt worden: Neues Museum, Neue Staatsgalerie, Humboldt-Forum, Flughafen BER. In den Essays beziehen die Autor:innen Stellung. Die Abfertigung am Flughafen BER nennt Jasmin Jouhar unzulänglich, das Humboldt-Forum, genauer dessen rekonstruierte Schlossfassade schimpft Sandra Hoffmeister eine „Fake-Idlylle, die keine Erinnerungsmomente zulässt.“ Und wieso es überhaupt Investoren im Berliner Wohnungsbau brauche, fragt Florian Heilmeyer, nachdem er die Erfolgsgeschichte der Baugruppen Revue passieren ließ.

Neben diesen Einblicken werden 30 Projekte anschaulich und übersichtlich vorgestellt. Die schon mehrfach publizierten ebenso wie die, die man vielleicht übersehen hat, von der Floating University und dem Gleispark über das Ausbauhaus und Walden48 bis zum Springer Medienhaus und zu dem mit präzisen und klugen Eingriffen sanierten Verwaltungsbau des Tierparks im ehemaligen Ost-Berlin. Ein Kompendium, das exemplarisch die interessanten Architekturentwicklungen Berlins aufnimmt. Diese Sammlung hätte im Einzelnen auch anders ausfallen können, doch die Beschränkung ist sinnvoll und die Auswahl plausibel.

Das Thema der Stadtplanung ist nicht als eigenständiges behandelt, ohne aber ignoriert zu werden. Dazu haben die Herausgebenden den klugen Schachzug gewählt, ein Projekt vorzustellen, das Berlin als „komplex gewachsene Geschichtslandschaft“ versteht: der Umbau des Geländes der DDR Wasserschutzpolizei. Im Interview berichtet die Architektin Tanja Linke, die die überzeugende Transformation des Areals mit ihrem Mann Anselm Reyle plante und realisierte, auch über das, was aus ihrer Sicht in Berlin schiefgelaufen ist, im Europa-Viertel und anderswo: Pläne in dieser Größenordnung sollten sich entwickeln und mit der Zeit verändern dürfen, so Linke: „Ich habe den Eindruck, die sind nur aus der Vogelperspektive geplant worden, nicht auf menschlicher Augenhöhe.“ Mit diesem Buch bekommt man beides. Die Vogelperspektive und die Augenhöhe.



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Günther Rösch (Hg.): Las Vegas Zeichen. Robert Venturi, Denise Scott Brown. 13 x 19 cm, 132 Seiten, 20 Euro
Verlag treppe b, Berlin, 2022

Vor kurzem hat in der Schweizer Zeitschrift Hochparterre Andres Herzog das Revival der Postmoderne ausgemacht. Da lohnt es sich, sich den maßgeblichen Protagonisten dieser Architekturauffassung zu widmen. Beim Berliner Verlag Treppe B ist ein kleines Buch über Robert Venturi und Denise Scott Brown erschienen, das komprimiert auf 130 Seiten einen guten Einstieg in deren Gedankenwelt gibt – oder auch geeignet ist, schon einmal Angeeignetes wieder aufzufrischen. Fünf Texte einschließlich eines Nachworts sind hier zusammengestellt worden. Sie drehen sich um die Stadt Las Vegas und deren so überbordende Art, mit Zeichen umzugehen – es geht um jene amerikanische Stadt, die schließlich auch durch die Veröffentlichungen von Venturi und Scott Brown zu einem Ort wurde, der jenseits seiner realen Existenz zum Inbegriff einer durch und als Zeichen überhaupt erst bestehenden Stadt wurde.

Ein Interview mit den beiden, das Stanislaus von Moos 1975 führte, und ein Text von Scott Brown von 1976 stehen am Beginn. Im Interview äußern sich die beiden über Ihr Konzept, ihr Vorgehen, das „Learning form Las Vegas“ zugrunde liegt. Sie sprechen über ihr Denken und ihre Arbeit, die im Sozialen verwurzelt sei und auf soziale Verbesserungen ziele. Sie reflektieren den Begriff der Ironie, sprechen über Big Business, das Selbstverständnis messianischer Architektur, über die Hoffnung vieler Architekt:innen auf einen Endzustand sozialen Glücks. Sie erläutern ihr Anliegen, zu verstehen, was Menschen an Architektur interessiert, wie Städte zu dem geworden sind, was sie sind. Im zweiten Text erläutert Scott Brown, inwiefern sich die ineinander verwobene Struktur von Gebäuden, städtebaulicher Struktur und Zeichen als eine zeitgenössische Form der historischen Stadt interpretieren lässt. In einem Text von 1996 messen Scott Brown und Venturi das damals aktuelle Las Vegas an dem, das sie 1968 vorgestellt hatten. Hier tritt eine gewisse Melancholie zu tage, die sich am besten äußert in der von ihnen diagnostizierten Entwicklung „von der lebendigen, vulgären und kraftvollen Volkskunst zur nicht überzeugenden Ironie.“

Ein Interview mit Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist aus dem Jahr 2000 schließlich offenbart eine gewisse Distanz zwischen dem fast schon schwärmerischen Menschenzugewandtheit der Älteren und der kühlen Analytik der Jüngeren. Hier sprechen Scott Brown und Venturi auch über ihr Scheitern, über ihre Herkunft und linkspolitisch geprägte Sozialisierung. Im Nachwort bilanziert Günther Rösch, Koolhaas könne das Theatralische, das Künstliche als authentisch ansehen und als neues Paradigma verstehen, Venturi könne das nicht. „Es muss noch etwa anderes geben, das authentisch, nicht künstlich ist – das ist das Leben selber, die Möglichkeit zur Erkenntnis, die Erkenntnis durch Ikonographie, die Aufdeckung von Rhetorik.“



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Ute Mahler, Werner Mahler, Wolfgang Kil: Lissabon ’87/88. 16 × 21,2 cm 192 Seiten, dt./engl., 28 Euro
Hartmann Books, Stuttgart, 2022

Einen wunderbaren Schatz haben die späten 1980er Jahre hinterlassen: den eines umfangreichen Konvoluts von Bildern Lissabons von 1987 und 1988. Es entstand im Rahmen eines Buchprojekts, das nie verwirklicht wurde. Es sollte ein in 10.000er Auflage erscheinendes Reisebuch des Leipziger Brockhaus Verlags werden – beauftragt damit waren das Fotografenpaar Ute und Werner Mahler sowie Wolfgang Kil für den Textteil. Nach zwei je sechswöchigen Aufenthalten der drei in Lissabon brachte zunächst der verheerende Brand im Chiado in Lissabons Zentrum das Buchprojekt ins Stocken. Es bestand die Gefahr, „die Stadt in Ansichten zu präsentieren, die mit der Realität gar nicht mehr übereinstimmten“, so Wolfgang Kil im Bericht über die Geschichte des nicht realisierten Buchs. Die Rekonstruktion des Chiado war nicht absehbar, eine weitere Reise nicht finanzierbar. Und dann kam die Wende, 1991 das Aus des Leipziger Verlags, dessen Rechtsnachfolger das Projekt nicht mehr weiterverfolgte.

Bei Hartmann Books ist nun ein Buch erschienen, das eine Auswahl der damals entstandenen Bilder zeigt, „ein hinreißend naher, zwischen Empathie und Skepsis changierender Blick auf ein Land mitten in seiner großen Zeitenwende“, so Kil. Schwarzweiße Bilder voll intensiver Vitalität, die die Menschen der Stadt in den Mittelpunkt stellen. Arme, reiche, junge, alte, traurige und fröhliche, betende und trinkende, spielende und diskutierende. Eine wunderbares Panoptikum einer Stadtgesellschaft zwischen Lebenshunger und Melancholie, zwischen einer überwundenen Diktatur und einem Aufbruch in eine andere Zukunft, die noch von der Hoffnung auf ein Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen ohne Rassendiskriminierung getragen war. Viele Menschen der ehemaligen Kolonien hatten sich in Portugal einbürgern lassen „es war nicht zuletzt diese grundlegende Anwesenheit der verschiedenen Hauttönungen quer durch alle soziale Schichten, die uns das Leben so anziehend machte“, so Wolfgang Kil im zweiten Text des Buchs, der zuerst 1990 erschienen war.

1986 war Portugal Mitglied der Europäischen Union geworden und die Zeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs zeichneten sich ab, aber genauso auch die Spaltung der Stadtgesellschaft, Segregation, Boden- und Immobilienspekulation. Die Spannung zwischen Gewinnern und Verlierern des Aufbruchs ist noch so erträglich, dass sie im Nachhinein wie eine Idylle erscheint, weil sie noch eine andere Zukunft hätte ermöglichen können. Im Text von 1990 blickt Wolfgang Kil bereits mit zwiespältigen Gefühlen auf das, was er in Lissabon gesehen und genossen hatte, weil er vor dem Wandel, der sich im Südwesten Europas abzeichnete, die mögliche Zukunft Ostdeutschlands erblickte. Das Lissabon der Mahlers und Kils ist auch eine Imagination über das, was Stadt sein könnte, hätte sein und werden können. Und deswegen so aktuell, weil darin sich so viele der Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte von heute wiederfinden lassen.