… nach dem Glück der Städte: Aldo Rossi gilt es als Zeichner ins Gedächtnis zu rufen, nicht zuletzt, um das Zeichnen als Mittel der Erkenntnis zu thematisieren. Aldo Rossi, der auch als „Vordenker der europäischen Stadt“ gilt, war ein glänzender Zeichner, wie eine Ausstellung mit erstmals gezeigten, originalen Blättern aus Privatbesitz beweist.
In den 1980er- und 1990er-Jahren gehörte der Italiener Aldo Rossi (1931-1997) zu den einflussreichsten Architekten, die in Berlin wirkten. Mit seinem zeichenhaften Wohnblock an der Kochstraße und der Stadtvilla in der Rauchstraße war er an der Internationalen Bauausstellung 1987 beteiligt. Nach der Wiedervereinigung entstand das Quartier Schützenstraße als Beitrag zur „kritischen Rekonstruktion“ der Berliner Mitte. Allerdings war es auch ausgerechnet die Wiedereinigung, die verhinderte, dass sein vielleicht bedeutendstes Museumsprojekt umgesetzt wurde: Der geplante Neubau für das Deutsche Historische Museum gleich neben dem Reichstag.
Autobiografisches
Nun lädt das Museum für Architekturzeichnung der Tchoban Foundation in Berlin unter dem Titel „Aldo Rossi. Insulae“ zu einer Wiederbegegnung mit dem Vordenker der europäischen Stadt als Spielart der architektonischen Postmoderne ein. Über 100 Blätter, die aus Privatbesitz stammen, sind hier erstmals öffentlich zu sehen. Einen der Schwerpunkte der Ausstellung bilden jene Positionen, in denen sich Rossi mit dem eigenen Werk retrospektiv erneut auseinandergesetzt hat. Dazu fotokopierte er frühere Entwürfe, um sie anschließend zu kolorieren, zu ergänzen und zu überarbeiten. So entsteht eine gezeichnete Autobiographie. In diesem Vorgehen spiegeln sich die Ideen des Fragments, des Palimpsests, der Schichtung sowie der Collage, die zentral für Rossis Denken waren.
Zugleich wird deutlich, welche große Bedeutung den Zeichnungen in seiner Arbeit zukam. Immer wieder tauchte Rossi dabei nicht nur tief in die Architektur-, sondern auch in die Kunstgeschichte ein. Nicht von ungefähr wecken manche seiner Zeichnungen die Erinnerung an die menschenleeren metaphysischen Stadtbilder Giorgio de Chiricos oder die monochromen Stillleben Giorgio Morandis. In der von Nadejda Bartels kuratierten Ausstellung setzen sich Werkserien Rossis ganz konkret mit Vorbildern von Claude Lorrain und Giovanni Battista Piranesi auseinander. Gerade der Bezug zu Piranesi erweist sich als interessant. Spielt der Großmeister der architektonischen Phantasien doch eine wichtige Rolle in der Ausstellungstätigkeit der Tchoban Foundation, die 2023 bereits ihr zehnjähriges Bestehen begeht (https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/tanzende-betonkuben-ld.787479?reduced=true).
Immer wieder tauchen aber auch ganz private Motive in Rossis Zeichnungen auf – wie jene Kaffeekanne, die er gerne auch mal in den Dialog mit einem Wolkenkratzer stellte, oder die Hand des für Rossi bedeutenden norditalienischen Heiligen Karl Borromäus.
Ambivalenzen
Rossis im Kern rationalistische Architektur ist durch ihre ambivalente Stellung zwischen Moderne und Geschichte geprägt. Meist aus stereometrischen Grundformen komponiert, bleiben seine Bauwerke trotz starker Farbigkeit jedoch meist spröde. Sie besaßen nie jene Sinnlichkeit wie die Arbeiten des eine Generation älteren Carlo Scarpa. Ganz anders verhält es sich dagegen mit Rossis Zeichnungen. Auch dort bedient er sich geometrischer Formen. Doch viele seiner Blätter entwickeln eine magisch anmutende Poesie. Das liegt sowohl an der delikaten Farbpalette, die er verwendet, als auch an der oft tastenden, suchenden Linienführung. Es zeigt sich in der spielerischen Addition der Motive sowie den zauberhaften Schraffuren, mit denen er gerne die gezeichneten Rahmen sprengte. So entstehen plauderige Bilderzählungen, in die man nur zu gerne eintaucht und sich verläuft, denen der phantastische Klang der Romane eines Italo Calvino innewohnt (der 2023 seinen 100. Geburtstag feiern würde). Ja, man fühlt sich bei Rossis Bildkompositionen gelegentlich an Bühnenbilder oder Kulissen erinnert. Nicht umsonst verweist Beatrice Lampariello in ihrem Essay für den – wie immer hochwertig gestalteten – Katalog, der die Ausstellung begleitet (https://tchoban-foundation-shop.de/p/aldo-rossi-insulae), auf den Einfluss Federico Fellinis auf Rossi. Nicht minder lesenswert ist die Verortung Rossis im Berliner Diskurs durch Silvia Malcovati. Mit seiner „Architektur der Stadt“ (1966; https://birkhauser.com/de/books/9783035601664) hatte Rossi seine Rolle als bedeutender Architekturtheoretiker begründet. Als Wegbereiter der Postmoderne bezog er dann in Berlin scharf Position gegen die Moderne, etwa das Hansaviertel. Damit trägt er freilich auch Mitverantwortung für jene „steinernen“ Blockrand-Trivialitäten, mit denen die kritische Rekonstruktion Berlin nach 1990 überzog. Rossis philosophisch-kompositorische Idee von Stadtschichtungen entwickelt auf dem Papier eine größere Intensität als in seinen Bauten. Besonders faszinierend ist seine Serie von 1979, als er in New York weilte. In ihr schiebt sich die römische Cestius-Pyramide vor die Twin-Towers, mal flankiert von einer Säule des Filarete (ein „fast zwanghaftes Motiv in Rossis Projekten“ (Malcovati)), mal von Palmen oder jenen bezaubernden Badehäuschen, wie sie Rossi gerne zeichnete. In diesen Blättern gewinnt Rossis Idee der vielfältigen Überlagerung von Bildmotiven und Zeitschichten eine eminente Kraft, einen postmodernen Reiz. Sie lädt zu einer gleichermaßen spielerischen wie ernsthaften, aber stets sinnlichen Decodierung der Motive ein – hier fand Herr Rossi das Glück der Städte.
Ausstellung in der Tchoban Foundation Berlin bis 14. Mai 2023