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1986 wurde Gottfried Böhm als erster Architekt aus Deutschland mit dem Pritzker Preis ausgezeichnet. Er war damals 66 Jahre jung und hatte unter anderem 1983-84 einen der schönsten Innenräume in Stuttgart geschaffen: den räumlich geschickt in den komplizierten Bestand eingefügten Pausenpavillon der Stuttgart Oper. Während das DAM Gottfried Böhm, der am 23. Januar 2020 hundert Jahre alt wird, mit einer Ausstellung ehrt, wird bekannt, dass der Stuttgarter Pavillon abgerissen werden soll.

Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“, Neviges 1963-68 (Bild: Inge und Arved von der Ropp / Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1968)

Gottfried Böhm, 2008 (Bild: Christian Schaulin)

Gottfried Böhm, 2008 (Bild: Christian Schaulin)

Der Hundertjährige, der nicht aus dem Fenster stieg

Gottfried Böhm, einer der großen deutschen Architekten der Gegenwart, hat ein kaum überschaubares Œuvre an unverwechselbaren Bauten geschaffen und wirkt noch immer skizzierend und beratend in den Ateliers seiner Söhne Pail, Peter und Stephan.
Gottfried Böhms Architektur lässt sich nicht in gängigen Kategorien rubrizieren. Dies mag der Grund dafür sein, dass er trotz seines umfangreichen Werkregisters in der Darstellung „Moderne und Postmoderne“ von Heinrich Klotz  (erstmals 1984 erschienen) nur mit seinem Rathaus in Bensberg Erwähnung findet. Allerdings mit dem achtungsvollen Hinweis, das Rathaus zeige, „wie weit ein Architekt im Bekenntnis zur eigenen Zeit und ihren Möglichkeiten gehen kann, ohne die bestehende Stadt und die landschaftliche Situation ignorieren oder ganz zerstören zu müssen“.

Gottfried Böhm: Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“, Neviges / 1963–68 (Bild: Inge und Arved von der Ropp /Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1968)

Gottfried Böhm: Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“, Neviges / 1963–68
(Bild: Inge und Arved von der Ropp /Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1968)

Es geht auch anders, immer

Wolfgang Pehnt, der die Arbeit von Gottfried Böhm jahrzehntelang publizistisch begleitet hat, sieht darin eine Verbindung „zum originären Expressionismus“, den er im väterlichen Büro kennengelernt hatte und nun bei seinen Kirchenbauten als Faltwerke in Stahlbeton weiterentwickelte. „Es entstanden hochindividuelle Lösungen … : kristalline Strukturen, riesige, höhlenhafte Räume, Großskulpturen.“ Sie waren geprägt von einer ausdrucksstarken Abwehrhaltung gegen die Profanisierung der Gesellschaft, gleichzeitig ein Gegenentwurf zum aufkommenden “Bauwirtschaftsfunktionalismus“ der Nachkriegszeit.

Gottfried Böhm: Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“, Neviges / 1963–68 (Bild: Inge und Arved von der Ropp /Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1976)

Gottfried Böhm: Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“, Neviges / 1963–68 (Bild: Inge und Arved von der Ropp /Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1976)

Im Zentrum seiner Sakralarchitektur steht die Wallfahrtskirche in Neviges, mit der das DAM in Frankfurt stellvertretend das Lebenswerk Böhms würdigt. Er hatte als einziger der 15 Wettbewerbsteilnehmer einen ansteigenden Pilgerweg vorgeschlagen, dessen Ziel ein brutalistischer Kirchenfelsen war. Von der Größe her konnte er es mit dem Kölner Dom aufnehmen: 800 Sitzplätze, 2200 Stehplätze, ein Gebilde aus einem Guss, Sichtbeton für Wände und Dachschrägen, mit Gottvertrauen geschalt und bereits einige Jahre nach der Fertigstellung (1968) ein Sanierungsfall für die Bauforschung – was die Bewunderung für diese hinreißende Raumschöpfung nicht mindert. Passend zum Thema hat man das Atrium des Architekturmuseums wandhoch als Pilgerweg mit der Geschichte des Gebäudes tapeziert, dazwischen Zeichnungen und ein Modell, schließlich eine fotografische Verschmelzung des Kirchenraums mit der rationalen Ordnung von Ungers Auditorium, als sollte ihm eine Seele eingehaucht und das Leben abgebildet werden.

Für Wolfgang Pehnt sind die Böhms „ein in dieser Kontinuität rarer Familienverband von Baumeistern“. Gottfried Böhm hat nach dem Studium der Architektur und der Bildhauerei bis 1955 im Büro seines Vaters Dominikus mitgearbeitet. Auch seine Frau Elisabeth war Architektin, und mit dreien seiner Söhne setzt sich die Dynastie der Baukünstler fort: vier Kölner Büros in einem Haus. Neben den wieder aufgebauten und neu geschaffenen Kirchen, beginnend mit der Kapelle St. Kolumba („Madonna in den Trümmern“) umfasst sein Werkverzeichnis eine Fülle von öffentlichen Bauten, Büro-, Geschäfts- und Wohnhäusern, in denen er sich immer um einen einprägsamen Ausdruck bemüht, aber sich nicht unbedingt auf freie Formen kapriziert. So  behauptet sich das Diözesanmuseum in Paderborn als ein mit Bleibahnen verkleideter hermetischer Behälter, beim Amtsgericht in Kerpen sind die Ziegelwände wie mit Teppichornamenten geschmückt, und beim Saarbrücker Schloss faltet Böhm den neuen Mittelrisalit als gläsernen Klassizismus in die historische Fassade.

Gottfried Böhm baute Johann Joachim Stengels Schloss um, als Oskar Lafonatine noch Oberbürgermeister in Saabrücken war. (Bild: Wilfried Dechau)

Gottfried Böhm baute in den 1980er Jahren das von Johann Joachim Stengels gebaute Saarbrücker Schloss um; Oskar Lafontaine war noch Oberbürgermeister in Saarbrücken. (Bild: Wilfried Dechau)

Saarbrücken: Das Schloss, gebaut von Johann Joachim Stengel Mitte des 18. Jahrhunderts, um gebaut von Gottfried Böhm (Bild: Saarbrücken Marketing)

Saarbrücken: Das Schloss, gebaut von Johann Joachim Stengel Mitte des 18. Jahrhunderts, 1981-89 umgebaut von Gottfried Böhm (Bild: Saarbrücken Marketing)

Mit Glas schien er seit den achtziger Jahren seinen frühen Expressionismus zu kalmieren: bei der Züblin-Hauptverwaltung in Stuttgart, beim Kaufhaus Peek & Cloppenburg in Berlin oder gar bei der strengen Pyramide der Stadtbibliothek in Ulm. Aber auch ein wenig Romantik passte ins Repertoire (was gerne dem Einfluss seiner Frau zugeschrieben wurde). Dazu zählen sein Wohnquartier in Köln-Chorweiler, das Altenheim in Düsseldorf-Garath und das Hans Otto Theater in Potsdam.

Ob man es tragisch nennen soll, dass nicht wenige seiner Bauten von Bauschäden eingeholt wurden, was seine Studenten an der RWTH Aachen immer aufmerksam registriert haben? Besser in Erinnerung bleibt er als Lehrer, der mit seinem Brillenetui auf einen ausgestellten Entwurf klopft und fragt: Isses denn nett? Gottfried Böhm war kein Theoretiker, sondern einer, der spürte, ob sich Architektur sinnlich mitteilt.


https://dam-online.de/veranstaltung/boehm100/
https://www.boehm100.de/programm


Der Stuttgarter Architekt Hans Klumpp kommentiert.
Böhms 1983-84 gebauter Theater-Pavillon in Stuttgart (Bild: Karl Hugo Schmölz)

Böhms 1983-84 gebauter Theater-Pavillon in Stuttgart (Bild: Karl Hugo Schmölz)

Aktuell: Gottfried Böhms Pavillon in der Stuttgarter Oper soll abgerissen werden

Kaum zu glauben, aber wohl wahr: Im Zuge einer angedachten, mehr als fragwürdigen, wenn nicht sogar unsinnigen Sanierung des Stuttgart Opernhauses, soll der Böhm-Pavillon von 1984 geopfert werden. (…) Übrig geblieben von einem internationalen Wettbewerb zu Beginn der 1980-iger Jahre, bei dem es in erster Linie um die Neugestaltung des Innenraums des Opernhauses ging und den seinerzeit Tobias Scarpa gewann, realisierte Böhm in den Folgejahren diesen Pavillon. Bescheiden und von großer Selbstverständlichkeit steht seither in beengter Hofsituation dieser aufgeständerte Kuppelbau: klassisch in seiner Typologie, zeitgemäß und zeitlos in seiner architektonischen Haltung und meisterhaft in der Materialwahl und seiner feinen, höchst individuellen, typisch Böhm’schen Detaillierung. Einmal mehr hatte er bewiesen, welch großer Meister er war, wenn es darum ging, wertvolle alte Bausubstanz umzubauen, anzubauen oder zu erweitern. Nie suchte er den Gegensatz oder die vordergründige Konfrontation. Seine Interventionen waren dennoch immer als solche erkennbar, sie waren aber immer Teil eines neuen Ganzen.
Böhm hat einen zweigeschossigen Raum geschaffen, der mit zu den schönsten gehört, der in den letzten 60 Jahren in Stuttgart entstanden ist. Überwältigend seine fast sakrale und dennoch heitere und spielerisch anmutende Raumwirkung, die einen immer wieder aufs Neue fasziniert. Einmalig sind für Stuttgart seine Gestaltung der weiß verputzen Wand- und Pfeilerflächen sowie seine plastische, aber überaus feingliedrige Behandlung der ganz subtil bunten, bleiverglasten Fenster. Vielleicht eine der letzten Raumschöpfungen, bei der eine überzeugende Verbindung von Architektur und Kunst gelungen ist.
Vor kurzem erst ist das Haus Köster von Schmitthenner in der Eduard-Pfeiffer-Straße abgerissen worden. Es muss alles versucht werden, dem Pavillon, diesem Architekturkleinod, das gleiche Schicksal zu ersparen. Der Denkmalschutz sollte deshalb schnellstens aktiv werden.    Hans Klumpp


Den geplanten Umbau der Stuttgarter Oper kommentieren Arno Lederer und Thomas Rossmann.
Der Böhm-Pavillon vom Oberen Schlossgarten aus gesehen (Bild: Denkmalpflege Baden-Württemberg, Projekt Youngtimer – Denkmalwerte der 1980er Jahre

Der Böhm-Pavillon vom Oberen Schlossgarten aus gesehen (Bild: Denkmalpflege Baden-Württemberg, Projekt Youngtimer – Denkmalwerte der 1980er Jahre)

Über den Abriss des Böhm-Pavillons hinaus schlägt der Umbau der Stuttgarter Oper hohe Wellen.

Arno Lederer und Thomas Rossmann erläutern im Exkurs den Kontext der Entscheidung, den Pavillon von Gottfried Böhm abzureißen und kommentieren.

„Das macht doch nichts, das merkt doch keiner“  – sang 1979 der Kabarettist und Satiriker Hans Scheibner. Vom Seitensprung über das Leck im Atomkraftwerk oder die Nachricht eines Engels an den Gott, die Erde habe sich gerade selbst verpufft, kommt die Antwort „Das macht doch nichts das merkt doch keiner“. Scheibner ergänzte die Strophen des Liedes im Laufe der Jahre um aktuelle Ereignisse.
Ob er wohl den Streit über das Opernhaus in Stuttgart als Strophe eingefügt hätte? Man erinnert sich sofort an die satirischen Verse angesichts des Sachverhalts, dass in Stuttgart ein Simulations-Video die Runde macht, in dem die Fassade des Littmann-Baus um 2,50 m schnell mal in Richtung Landtag verschoben wird. Vielleicht betrifft das auch die Kosten, also die für Sanierung und Erweiterung errechneten 1 000 000 000 Euro. Falls, wie manche Stimmen voraussagen, der zukünftige Bahnhof die Bausumme von 10 000 000 000 Euro übersteigt, dann sind es doch lediglich 10 % des Betrages, der für das Vorhaben aufzubringen wäre – ein Klacks.
Als vor ein paar Jahren in Aussicht gestellt wurde, das eigentliche Bauvorhaben sei mit 300 Millionen und das Interim mit 50 Millionen zu veranschlagen, mussten die Verantwortlichen sich kurz darauf korrigieren. Der Preis für die Interimsspielstätte war rasch auf mehr als 130 Millionen geklettert. Immerhin darf man davon ausgehen, dass der nunmehr geschätzte Betrag einigermaßen solide gerechnet ist und (endlich) einmal auf eine politische Zahl verzichtet wurde. Der Landesbetrieb Vermögen und Bau Baden-Württemberg hatte da keine leichte Aufgabe. Doch selbst die heutige Summe ist eine Grobkostenschätzung, keine nach DIN, denn eine konkrete, spezifische Planung liegt noch nicht vor.

Die Littmann-Oper

Sie ist das Opernhaus und einer der ganz wenigen Kulturbauten, die in Baden-Württemberg den 2. Weltkrieg ohne größere Schäden überstanden haben. Als Zeichen der Wertschätzung der Littmann‘schen Architektur hat man den von Paul Stohrer in den 1950er Jahren modernisierten Zuschauerraum in den 1980er Jahren beseitigt und in die ursprüngliche Fassung zurückgeführt. Keine Frage: Das Gebäude ist hinsichtlich seiner Bedeutung für Stadt und Land und weit darüber hinaus aufgrund seiner Architektur und seiner Geschichte zur oberen Kategorie denkmalwerter Baukunst zu zählen. Niemand käme auf die Idee, einen Teil der Fassade, etwa des Neuen Schlosses, des Königsbaus oder der Stiftskirche aus Gründen einer Nutzungsverbesserung abzubauen und in zwei bis drei Meter Abstand davor wieder aufzustellen. Auch dann nicht, wenn das ursprünglich erträumte Volumen aufgrund äußerer Umstände zu einer verkleinerten Form führte. Es wird behauptet, Max Littmann habe aus Rücksicht auf die Streckenführung der Straßenbahn eine Seitenbühne nicht gezeichnet, aber auch nicht wegen des von König Wilhelm II. gewünschten Treppenhauses zum heutigen Landtag hin. Denen, die dieses Argument im Munde führen, sei geraten, sich die Beiträge des damaligen Wettbewerbs genau anzusehen: Der 2. Preis hatte keine, der 3. Preis dagegen eine Kreuzbühne geplant. Das zur Verfügung gestellte Grundstück ließ das also zu.

Umbaufragen

Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, preußisch kurfürstlicher Architekt, wollte das Schloss Sanssouci um ein Stockwerk höher errichtet wissen, da der Blick vom Fuß des Weinbergs, auf dem das Schloss seinen Platz fand, den Bau nur eingeschränkt frei gab. Friedrich der Große widersprach seinem Architekten, die niedrige Version kam zur Ausführung. Gleichwohl bedauerte er später, dem Rat des Baumeisters nicht gefolgt zu sein. Wer aber käme heute auf die Idee, diese Geschichte als Argument dafür zu nehmen, die Fassaden des Schlosses, aufgrund einer besseren Nutzungsmöglichkeit, oder der seitens von Knobelsdorff gewünschten Proportion zu vergrößern? Sanssouci war 1747 fertiggestellt, der Littmann-Bau erst 1912. Angenommen, das Operngebäude wäre im 18. Jahrhundert errichtet worden, was dann? Wie bemisst man den Wert der Architektur? Wie erklärt man das Vorhaben z. B. einem Hausbesitzer, der die Fenster seines Gebäudes aus den 1920er Jahren aus denkmalschutzrechtlichen Gründen in der ursprünglichen Farbgebung wiederherzustellen hat?
Der Einbau einer Kreuzbühne ist keine Petitesse und genau das ist der Unterschied zu einer reinen Sanierung. Denn der Abbruch wesentlicher (und nach dem Denkmalrecht schützenwerter) Bauteile ermöglicht erst den erforderlichen Raumgewinn, unabhängig von den Problemen, die sich aus neuen statischen und konstruktiven Bedingungen ergeben. Es ist, als wolle man eine Musik-Komposition teilweise durch eine neue ergänzen, ohne dass der Zuhörer oder Zuschauer etwas bemerkt. Etwa, die Arien der Carmen verdoppeln, die Ouvertüre des Fliegenden Holländers in die Länge ziehen.
Theaterstücke und Opern sind ein großes Kulturgut, die Architektur keineswegs weniger. Aber, Architektur ist keine Theaterkulisse für ein paar Stunden. Mag sein, dass der Mehrheit der Bevölkerung die Änderung des Gebäudes ebenso wenig auffallen wird wie eine verkürzte Version einer noch so berühmten Ouvertüre.
Die Mehrzahl der Theaterleute, denen die oben erwähnte Visualisierung gezeigt worden sein soll, also der Zustand des Gebäudes nach einer eventuellen Verschiebung der Fassade, hat angeblich die Veränderung gar nicht bemerkt. Es wäre besser gewesen, diesen Umstand nicht als Beweis für eine vorgeblich unwesentliche Änderung anzuführen, weil das nicht für ein über die eigene Profession hinausgehendes Verständnis von Architektur, von Proportionen und von Ästhetik dieser Personen spricht.
Aber, schnell geschnittene Visualisierungen sind ohnehin ein Teufelszeug. Erst ein ruhiger, bedachter Blick auf Grundrisse, Schnitte und Ansichten lässt den Unterschied tatsächlich zu Tage treten. Visualisierungen sind lediglich wie herausgegriffene Akkorde einer Komposition – das unterscheidet sie von der Partitur, also den Grundrissen, Schnitten und Ansichten.

Arglist

Es kommt einer arglistigen Täuschung der Öffentlichkeit nahe, von einer Sanierung des Opernhauses zu sprechen – korrekt wäre, von einem Teilabbruch und Teilneubau zu reden. Häufig wird die Semperoper Dresden als Beispiel angeführt, bei deren seinerzeitigem Wiederaufbau die Bühnenräume eine Verbreiterung erfuhren. Unabhängig von der damaligen Lösung dort, deren Architektur bei den hinzugefügten Teilen man mehr oder weniger als mittelmäßig bezeichnen kann, hat das Stuttgarter Haus im Gegensatz zu dem in Dresden drei Hauptfassaden. Zusätzlich zu der Öffnung zum Schlossgarten hin hat das Gebäude zwei weitere, wichtige stadtraumprägende Ansichten: die zur Neckarstraße und jene zum Landtag hin. Anders als seine Konkurrenten im Wettbewerb hat Littmann die Notwendigkeit erkannt, auf die städtebauliche Wirkung reagieren zu müssen. Der König wollte in der Querachse seinen eigenen Eingang mit einem schönen Treppenhaus haben. Auch gegenüber den Straßenbahninsassen, die vor dieser Seite vorbeifuhren, sollte das Gebäude einen entsprechend repräsentativen, architektonischen Auftritt haben. Eine Seitenbühne ist also nicht aus Platzgründen entfallen, wie manche glauben machen wollen. Es ist ganz einfach die Antwort auf die Aufgabenstellung: Zum einen dem Wunsch des Bauherrn nach einem repräsentativen Eingang nachzukommen, zum andern eine adäquate Antwort auf den Stadtraum zu finden. Insofern ist das Piano nobile, die Belétage in Form des Risalits zum heutigen Landtag hin eine Besonderheit – der Balkon, getragen von vier dorischen Doppelsäulen. Die Brüstung, ursprünglich durch zwei figürliche Plastiken rechts und links geschmückt, dann die gegenüber der restlichen Fassade doppelgeschossigen Fenster, zwischen Pilastern mit ionischen Kapitellen angeordnet, die auf einen repräsentativen Raum dahinter schließen lassen. Wer denkt, man könne diese Fassade einfach um ein paar Meter verschieben, weil er selbst die Veränderung nicht zu erkennen vermag, offenbart lediglich einen die Architektur betreffenden Bildungsmangel.

Rettet Böhm!

Was in der Öffentlichkeit noch weniger diskutiert wird, ist der zur Umsetzung des Programms erwogene Abriss des kleinen Pavillons von Gottfried Böhm. Es handelt sich um eines der schönsten Kleinode der Raumkunst in Stuttgart. 1988 mit dem Hugo-Häring-Preis ausgezeichnet, gehört es mit den farbigen Verglasungen zu den ganz wenigen Gesamtkunstwerken im Land. Gottfried Böhm ist der zweite Deutsche, der mit dem Pritzker-Preis, dem „Nobelpreis“ für Architektur 1986 ausgezeichnet wurde. (Frei Otto erhielt den Preis 2015 posthum). Am 23. Januar 2020 feiert der weltberühmte Architekt seinen 100sten Geburtstag. Wie kulturfern muss man sein, überhaupt auf die Idee zu kommen, den Abriss des Stuttgarter Pavillons in Aussicht zu stellen?  Im Übrigen ist auch die Ansicht zur Konrad-Adenauer-Straße ein Zeugnis einer absoluten Ignoranz im Umgang mit dem Öffentlichen Raum. Nicht nur, dass das Vorfeld mit dem Seufzer-Brunnen zugunsten des Verkehrs aufgegeben wurde. Wie blamabel Verwaltung und Politik mit dem städtischen Raum in Stuttgart umgehen, zeigt sich anschaulich an der – ursprünglich – hervorragenden Achse der Eugenstaffel hinauf zum Eugensplatz – völlig verstellt mit Baumpflanzungen.  Aufrichtiger könnte es sein, an Stelle eines Abrisses und Wiederaufbaus des Littmann-Baus an Stelle der abgetragenen Bauteile keine faule Rekonstruktion zu errichten, sondern konsequent eine Architektur mit den perspektivbezogenen Mitteln unserer Zeit zu entwickeln. Man geht – ohne genaue Planung derzeit – von einer zusätzlichen Gebäudetiefe von ca. 2,5 Meter aus. Dabei weiß jedes Planungsbüro, dass dieses Maß nur eine Schätzung sein kann und erst bei der Umsetzung der präzisierten Planung eine zufriedenstellende Genauigkeit vorliegt. Was ist, falls aus Gründen, die heute nicht bekannt sind, der Abstand zur alten Gebäudeflucht größer sein wird? Wäre es nicht viel vernünftiger, für die Seitenbühne gleich mehr Volumen bereit zu stellen? Und ist dann die Fassade, die man hälingen noch weiter zu verschieben suchen müsste, nicht endgültig eine peinliche, beschämende Verklitterung der bestehenden Architektur? Dann doch lieber eine neue und hochwertige Weiterentwicklung des Altbaus, entworfen von einem der weltbesten Büros. Beide Verfahren helfen jedoch nicht, den Stadtraum zu verbessern. Sie dienen, falls man ehrlich ist, dem Kunstgenoss einer schmalen, kulturellen Elite. Dies aber ist nur dann sinnvoll, falls der Umbau zu einer wesentlichen Verbesserung des Öffentlichen Raums beiträgt, damit die teure Maßnahme für alle Bürgerinnen und Bürger mit einem Zugewinn an wirklicher Urbanität verbunden ist.
Das Vorhaben impliziert aber die Gefahr, damit das Gegenteil zu erreichen, dass nämlich das Gesicht der Oper verschandelt wird und letztlich der Stadtraum darunter leidet. Wie die bekannte Schlange auf das Kaninchen, so starren Stadt und Land auf den Säckel mit 1 000 000 000 Euro für die Oper. Mit diesem Geld in der Hand sollte man vorrangig auf das verhunzte Areal entlang der Konrad-Adenauer-Straße und der beiden Plätze, welche sie begrenzen, schauen, um sich dann zu fragen, welchen wesentlichen Beitrag der Littmann-Bau bei der Entwicklung dringend notwendiger Verbesserungen des Stadtraums beitragen könnte.
1912, das Jahr der Einweihung der Staatstheater, hatte Stuttgart rund 300 OOO Einwohner. Heute sind es mehr als doppelt so viel. Im Einzugsbereich von Oper und Theater, also der der Region, wohnen ca. 2,5 Millionen Menschen. Eine dritte Spielstätte könnte also durchaus sinnvoll und Ertrag bringend sein. Zumal sich die Frage stellt, welche Räume für zeitgemäße und bislang noch nicht bekannte spätere Aufführungsformate und deren (immateriellen) Medien geeignet wären.

Sinn der Oper

Sind es die traditionellen Zuschauerräume der Oper, ihre Funktion, ihr repräsentativer und auch konservativer Auftritt? Oder sind es vielmehr Räume, die sich für ganz unterschiedliche Aufführungspraxen eignen – auch mit einer Kreuzbühne, aber auch mit der Wirkung eines Rundumtheaters? Ein Haus, das nicht nur hinsichtlich der Blickbeziehungen, sondern auch der Akustik wandelbar wäre? Könnte in Stuttgart damit ein Raum-Angebot entstehen, das ähnlich fortschrittlich ist, wie das Littmann‘sche Haus zu seiner Zeit? Welche Häuser wollen wir den nächsten Generationen errichten, die diese dann für ihre, dann zeitgemäßen Zwecke nutzen können? Könnte ein solches Gebäude nicht entscheidend dazu beitragen, die sicht- und erlebbaren Mängel des Kulturquartiers entscheidend zu mindern? Was tut die Stadtgesellschaft, die Politik und die Verwaltung in diesem angesprochenen Sinne für die nächsten Generationen, was für die Zukunftssicherung des Standorts Stuttgart?
Seit jeher haben gerade solche Bauten Städte weitergebracht, sie verbessert, sie zu begehrenswerten und lebenswerten Orten gemacht. Von den Öffentlichen Bauten der Klassik, über die des Mittelalter, der Renaissance, des Barock, des Neunzehnten Jahrhunderts bis in die Moderne: Es sind jeweils diese Bauten, die die Städte prägen, die sie attraktiv machen, welche sie lebendig machen. Das Centre Pompidou in Paris, des Guggenheim Museums in Bilbao, die „Elphi“ in Hamburg: Glücklich sind diejenigen Städte und deren Bürgerinnen und Bürger, die über solche Sehens- Erlebniswürdigkeiten verfügen. Sie sind der Grund für das Ansehen einer Stadt und die damit verbundene Wertschöpfung, deren ökonomische Bedeutung ebenso wertvoll ist wie der kulturelle Gewinn – ein Standortvorteil. Der Bau der Staatsgalerie von James Stirling, Eröffnung 9. März 1984, hatte einen derartigen Effekt für Stuttgart. Das ist, sieht man vom eher peripher gelegenen Mercedes-Benz-Museum ab, sehr lange her. Es kommt unter diesem Aspekt gerade dem Schildbürgerstreich gleich, ein Opernhaus teilweise abzureißen um eine Kreuzbühne einzubauen, also eine Summe von 1 000 000 000 Euro in ein Gebäude zu stecken, dessen Bauch erheblich dicker wird, aber nur so, dass es keiner merken soll, also hälinge. Diese Methode, die in der Modewelt vielleicht Erfolg hat, schadet der Stadt und ihrer Entwicklung auf Dauer.

Und wieder: die Stadt

Es gibt zwei Regeln, die klar machen, dass es beim Bauen nicht im Stadtgebiet, sondern um Bauen am Stadtkörper geht. Denn die Stadt ist die übergeordnete Struktur, die sich ständig ändert, und, falls es gut geht, sich Stück für Stück zum Guten hin entwickelt. Wir haben daran teil, weshalb wir vom Bauen an der Stadt sprechen. Es gibt klassische Regeln: Der ein Innen baut, baut auch ein Außen. Das Außen ist es, was den Öffentlichen Raum mitbestimmt. Wer immer beabsichtigt, Bauherrschaft, Investor, Architekt: Sie bauen mit am Öffentlichen Raum, an den Straßen und Plätzen, die allen gehören. Die andere Regel: Man darf nur dann Bauen, falls die Architektur des Neuen besser ist als das Alte. Nur dies kennzeichnet den Weg zu einer schönen und lebenswerten Stadt, auf die wir alle einen Anspruch haben. Wer diese Regeln missachtet, fügt der Stadt einen immensen Schaden zu. Wer Gebäude ändert oder in Teilen zerstört, im Vorsatz, das macht doch nichts, das merkt doch keiner, begeht ein Verbrechen an der Stadt, deren Gesellschaft.
Mit dem Kulturquartier besitzt Stuttgart ein bislang unterbewertetes Kulturgut. In keiner anderen Stadt kann man fußläufig auf einer Fläche von gerade mal 400 auf 500 Meter eine solche Dichte an hervorragenden Kultur- und Bildungsbauten bewundern. Die Bewunderung kann nicht stattfinden, weil es an der Qualität des Öffentlichen Raums mangelt. Nicht nur wegen des Verkehrsaufkommens, auch wegen der Hilflosigkeit und des Dilettantismus, wie mit den Straßen und Plätzen umgegangen wird. Auch mit der Unfähigkeit, eine positive Perspektive dafür zu entwickeln. Unfähig, das große Ganze zu erkennen und zu handhaben, nur die einzelnen Objekte sehend, die ohne Bezug zueinanderstehen.
Angenommen, Gebäude und Freiräume könnten sprechen; angenommen, wir würden die Staatsgalerie fragen, wem sie gerne gegenüberstehen, in die Augen blicken, wen sie anlächeln würde. Was würde die Straße sagen, welche Gebäude sie gerne als ihre Begleitung hätten? Was würde der Akademiegarten sagen, dem der Mantel fehlt, der ihn gegen Lärm und Schmutz der Straße und dem Verkehrsbauwerk Charlottenplatz schützt? Was würden die drei Verblichenen im Himmel sagen, deren Namen für eine unwirtliche Straße und zwei Plätze missbraucht wurden?

Warum schämen wir, die Stadtgesellschaft, uns nicht dafür?

Die Oper wäre der Schlüssel für die bessere Zukunft des Quartiers, würde man so mit der Aufgabe umgehen, dass es jeder nachvollziehen und merken kann. Dass die Menschen im In-und Ausland von Stuttgart reden, wie sie es von Sidney, von Hamburg oder bald von München tun und wie sie es bei dem Bau von Stirlings Staatsgalerie getan haben. Nicht für eine kleine Elite der Opernbesucher ist das Haus da: Es muss ein Baustein in der Stadt sein, der alle Bürgerinnen und Bürger mit Stolz erfüllt. Sie sollten merken, dass die Stadt besser wird, denn erst wer mitbekommt, dass die Stadt besser wird, wird sie lieben.