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Bild: Wikimedia Commens, Markus Unger

Warum gehen Menschen ins Stadion? Warum machen sie dort Dinge, die sie sonst nicht tun? Wieso jubeln sie dort einer Mannschaft zu, deren Spieler vor kurzem noch für eine gegnerische Mannschaft gespielt haben? Dieser Beitrag ist der Versuch, aus der Sicht eines Fußballfans eine Antwort zu geben. Der besondere Ort, das Stadion, nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein.


Seit einem Monat ist die Sommerpause der Fußball-Bundesliga zu Ende – die Saison hat begonnen. Die Fans machen sich Sorgen, aber vor allem Hoffnungen. Zwar scheint schon entschieden, wer Meister werden wird. Alles andere aber ist offen. Deswegen gab vor wenigen Jahren der Freiburger Trainer, Christian Streich, die Losung aus, dass der Abstieg die neue Meisterschaft ist. Und diese Meisterschaft ist oft tatsächlich dramatisch. Sie ist sorgt mitunter für harte Prüfungen. Christian Streich weiß, was das heißt, wenn man ihr unterzogen wird – und absteigen muss. „Heute geht‘s. Morgen ist es die Hölle. Und die nächsten zwei Wochen wird es auch die Hölle.“ (1)
Das gilt nicht nur für Spieler und Trainer. Für die Fans, und nicht nur für die, die ihrer Mannschaft auch in entlegene Winkel der Republik hinterherfahren, von denen wir in den Nachrichten hören, wenn sie sich daneben benommen haben, wenn sie sich geprügelt, Leuchtraketen gezündet haben oder, wie in Dresden in der letzten Saison, im Militaria-Look ins Stadion gingen, auch für die normalen Anhänger ist es die Hölle. Selbst wenn sich in deren Leben nichts, aber auch gar nichts durch einen Abstieg einer Mannschaft ändert. Dennoch fühlt es sich sehr, sehr schlecht an. Man weiß das vorher. Und geht trotzdem ins Stadion. Man könnte sich die Zuneigung zu einer Mannschaft gewiss abtrainieren, so wie man Phobien behandeln kann. So wie man Flugangst überwinden kann. Aber Fan zu sein ist nicht mit einer Phobie vergleichbar, mit Flugangst auch nicht. Der entscheidende Unterschied: Es ist nie ausgeschlossen, dass man gewinnt. Man leidet also bis zum Schluss, weil man am Schluss vielleicht nicht leiden muss, sondern jubeln darf. Die Eintracht Frankfurt stieg 2011 ab. Und spielte 2013 im Europapokal. Wenn der Abstieg die Hölle war, dann war der Europapokal der Himmel. Wer weiß, wie man sich im Himmel fühlt, der riskiert dafür auch die Hölle. Und wird sich weder etwas abtrainieren wollen, noch in eine Behandlung gehen, jedenfalls nicht, weil er Fan einer Mannschaft ist. Sich nur über Siege zu freuen, aber Niederlagen gegenüber gleichgültig zu sein, geht eben nicht. Und deswegen geht man ins Stadion, wo man nicht nur Siege am besten feiern kann, sondern wo man auch Niederlagen besser erträgt. Und das liegt nicht nur daran, dass man im Stadion nicht alleine ist. Das liegt auch an der Architektur. Und an den Ritualen, die dort möglich sind.

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Warum machen die das? (Bild: flickr.com / Angry Young Man / CC BY 2.0)

Rituale im Stadion

Von Ritualen im Stadion zu sprechen ist keine verwegene These. Die Fans singen immer wieder die gleichen Lieder, Fans kleiden sich auf eine Weise, die nur im Stadion nicht als lächerlich eingestuft wird. Sie halten die Schals hoch, wenn die Mannschaft einläuft. Sie wedeln mit ihnen, wenn eine Ecke oder ein Freistoß getreten wird. Im Stadion ist es gleichgültig, zu welcher sozialen Schicht man gehört, fällt ein wichtiges Tor, umarmt man Menschen, die man nicht kennt, ohne dass das irgendjemand merkwürdig findet.
Die Abläufe folgen genau festgelegten Regeln. Warmspielen, Verlesen der Mannschaftsaufstellung: Den Vorname spricht der Stadionsprecher – den Nachname brüllt das Publikum. Einlaufen, Aufstellen mit den Augen in Richtung Haupttribüne, als säße dort ein Monarch. Der Gruß ins Publikum, das Einschwören aufs Spiel. Der Anpfiff ist nicht gegen halb vier. Sondern um 15:30.
Und weiter: Die Rückennummer 12 wird in fast allen Vereinen schon eine ganze Weile nicht mehr vergeben. Denn die 12, das ist das Publikum – der 12. Mann. In Neapel wird die Rückennummer 10 nicht mehr vergeben. Sie hatte Diego Maradonna getragen. Rituale können auch für Missmuts- oder Solidartätsbekundungen genutzt werden. Manchmal schweigen die Fans aus Protest gegen eine Entscheidung des DFB oder der Vereinsführung demonstrativ eine gewisse Zeit. Im März 2017 starb in der ersten Halbzeit des Spiels Dortmund gegen Mainz ein Fan an einem Herztod. Das sprach sich im Stadion schnell herum. Fast die ganze zweite Halbzeit lang schwiegen die Fans beider Mannschaften. Kurz vor Schluss stimmte sie gemeinsam „You‘ll never walk alone“ an, das Lied das in einigen Stadien Europas, so auch in Dortmund, vor jedem Spiel intoniert wird. Und die Mainzer sangen mit. Stehend. Was für eine Geste!
„You‘ll never walk alone“– eigentlich gehört das Lied aber, wenn man das so sagen darf, dem FC Liverpool, in dessen Stadion an Anfield Road der eigentlich für ein Musical geschriebene Song seit den 1960er Jahren gesungen wird. Zu den eindrucksvollsten Solidaritätsbekundungen zählt wahrscheinlich das Finale des FA-Cup-Finale in England zwischen dem FC Everton und dem FC Liverpool, in dem Fans beider Mannschaften das Lied gemeinsam sangen. Einige Wochen zuvor, am 15. April 1989, war es zu einem der größten Stadionunglücke der letzten Jahrzehnte gekommen. Beim Halbfinalspiel zwischen Sheffield und dem FC Liverpool hatten die Ordner zu viele Fans in den Gästeblock gelassen hatten. Viele Fans wurden an den Zaun gedrückt, oder zu Tode getrampelt. Weil das Spiel schon begonnen hatte, wurde das spät von denen bemerkt, die etwas dagegen hätten tun können. 96 Menschen starben.


Das Spiel

 

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Bild: Wikimedia Commons, RudolfSimon, CC BY-SA 3.0

Das ist allerdings nicht der Grund, weswegen einige meinen, Fußball sei schon lange kein Spiel mehr, obwohl er doch eigentlich genau das sein müsse, um wirklich Fußball zu bleiben. Es sind zu viele Wirtschaftsinteressen, es ist zuviel Geld, im Spiel. Das stimmt einerseits. Das Geschäft wird auf glatten Mainstreaim getrimmt, Spieler werden entlassen, weil sie sich gegen den Rat des Mannschaftsarztes ein Tatoo haben stechen lassen. Andererseits ist ein Spiel, das man nicht mit allem Ernst betreibt, eben auch kein Spiel. Zum Spiel gehört es, die Distanz zu ihm zu verlieren, das sollte jeder wissen, der das Spiel von Kindern studiert. Ein Spiel ohne Ernst ist kein Spiel, auch wenn es dem Spiel nicht gut tut, wenn zuviel Ernst im Spiel ist. Das Gegenteil von Spiel ist nämlich nicht der Ernst. Es ist der gewisse Ausgang. Damit erscheint das Schillersche Diktum, der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, in anderem Licht – wer spielt, lässt sich auf Dinge ein, von denen er nicht weiß, wie sie enden. Und nur wenige Spiele werden durch so wenige Ereignisse entschieden wie das Fußballspiel – im Schnitt fallen weniger als drei Tore in einem Spiel. Was im Fußball noch möglich ist, dass eine drittklassige Mannschaft eine erstklassige schlägt, lässt sich von wenigen anderen Sportarten sagen. Dass genau das wiederum anscheinend immer weniger der Fall ist und immer gezielter ausgeschlossen werden soll, könnte das eigentliche Argument dafür sein, dass Fußball weniger Spiel geworden ist.
Mit dem ungewissen Ausgang ist man wieder bei beim Ritual angelangt. Das Ritual, so eine Annäherungsthese an die merkwürdigen Vorgänge rund um die Fußballspiele, ist eine Möglichkeit, mit seinen Handlungen Einfluss auf etwas zu nehmen, dessen Ausgang ungewiss ist. Rituale beschwören Kräfte, von denen man nicht weiß, wie sie wirken. Man hofft nur, dass man es zumindest ahnt. Im Fußball hoffen die Fans – vielleicht – und auch Spieler oder Trainer – vielleicht – mit ihrem Verhalten Einfluss auf etwas zu nehmen, auf das ihr Einfluss begrenzt ist. Sie hoffen, mit ihrem Verhalten den einen glücklichen Moment zu erzwingen, der das Spiel entscheiden kann. Von den Gesängen bis zu merkwürdigen Aktionen wie denen, dass der Pullover nicht mehr gewechselt oder der Bart nicht mehr geschnitten wird, bis man das Finale gewonnen hat. Oder eben ausgeschieden ist. Und Singen hilft bekanntlich immer. Der Autor und Liverpool-Fan Paul Tomkins schreibt:  „Meine schönste Erinnerung an „You’ll Never Walk Alone“ ist mit der Halbzeit im Champions-League-Finale 2005 im Atatürk-Stadion verknüpft. Ich war komplett am Boden, als wir mit 0:3 zurücklagen und habe ehrlich gesagt sogar befürchtet, dass wir uns noch ein paar Tore fangen würden. Aber dann haben die ersten Reds-Fans im Stadion „You’ll Never Walk Alone“ angestimmt, und das hat uns Fans irgendwie neue Hoffnung verliehen. Manchmal wird die Hymne bei Liverpool-Spielen angestimmt, aber ebbt genauso schnell wieder ab, weil es an dem Tag nicht so recht passen will. Doch an dem Abend wurden wir immer lauter und lauter. Welche andere Situation hätte sich auch besser für den Song angeboten als ein 0:3-Halbzeitrückstand in einem so wichtigen Spiel? Ich glaube, nichts anderes auf der Welt hätte den Fans wieder den Glauben an einen Sieg zurückgeben können. Und diese Stimmung hat sich dann auf die Spieler übertragen.“ (2)


Die zwei Körper der Mannschaft

 

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Bild: flickr.com /cchana / CC BY 2.0

Liverpool hat das Finale im Elfmeterschießen gewonnen. Vielleicht waren es die Fans. Andere meinen, dass es die Einwechslung von Dietmar „Didi“ Hamann war, die das Spiel gedreht hat. Ein bisschen Glück war eben auch dabei. Aber darum geht es ja: Um den Glauben, dass das Glück kein Zufall ist. Gute Trainer sind auch gute Spin-Doctors. Und die Statistik gibt dem Fanglauben durchaus recht. Auch wenn die Quote nicht mehr ganz so hoch ist, wie sie es einmal war – noch immer ist es für eine Mannschaft ein Vorteil, im eigenen Stadion zu spielen. In Dortmund, wo jedes Spiel ausverkauft ist und die Tribüne der Fans die gelbe Wand genannt wird, ist seit fast zwei Jahren kein Heimspiel mehr verloren worden. Andere Thesen sagen, dass es ein normales Phänomen sei: der Revierverteidigungsreflex und -instinkt, der dafür sorge, dass Heimmannschaften stärker sind.
Die Einflussthese steht also auf den wackligen Füßen der Spekulation. Man darf zudem auf einem Unterschied zwischen Ritual und Aberglauben bestehen, der dem Ritual eine über die Einflussnahme auf ungewisse Ausgänge hinaus die gemeinschaftsstabilisierende und sinnstiftende Komponente als wesentliche zuschlägt. Akzeptiert. Immer einen blauen Pullover anzuziehen, ist kein Ritual. Um Gemeinschaftstabilisierung und Sinnstiftung geht es aber im Fußball sehr wohl. Sie werden deswegen besonders wichtig, weil die Spieler meist bis vor kurzem ganz woanders gespielt haben.
Für Nichtfußballfans mag es befremdlich sein, wie wenig die Zuneigung zu einer Mannschaft davon abhängig ist, wer in ihr spielt. Das ähnelt der Theorie des Königs, der immer der König ist, gleich, wer ihm seinen Leib leiht. Die zwei Körper der Königs beschreibt nach Ernst Kantoriwicz die mittelalterlichen Vorstellung eines natürlichen, also sterblichen Körpers und eines übernatürlichen, also unsterblichen Körpers des Königs in der politischen Theologie. (3) Im Fußball finden wir die profane Variante. Der Körper des Teams ist demnach unsterblich, auch wenn die Spieler wechseln. Sie sind Teil einer Einheit, unabhängig von ihrer Individualität. Diese Eigenschaft verlieren sie, sobald sie das Trikot wechseln. Soziologisch könnte man das so formulieren: Das Narrativ der Gemeinschaft, das sich im Fußballstadion, im Stadion und der Anhängerschaft manifestiert, muss durch die kollektiven und ritualisierten Äußerungen im Sinne einer permanenten Kommunikation immer wieder aufs Neue vergewissert und gefestigt werden.

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Das Bremer Weserstadion. Ja, das heißt noch so. Und nicht Jacobs-Krönungs-Stadion oder so. (Bild: flickr.com / Benjamin Radziun CC BY-SA 2.0)

Das Stadion

Damit diese Dinge ihre Wirkung entfalten, braucht man aber vor allem: das Stadion. Wie in einer Kirche oder in einem Tempel betritt man mit dem Stadion einen eigenen Bezirk, einen, der von der Außenwelt meist so gut es geht, abgetrennt ist und seine eigene Atmosphäre entfaltet. Mehr noch. Man betritt das Stadion oft durch eine Unterwelt, die den Kontrast nur noch verstärkt. Durch einen Schleußenraum, der den Unterschied betont. Einen eher unwirtlichen, vielleicht funktionsmäßig geordnet, aber nicht liebevoll gestalteten. Am deutlichsten wird das bei sogenannten Flutlichtspielen, wenn man aus dem normal beleuchteten Vorbereich in den strahlend und überwältigend erhellten Innenraum des Stadions tritt. Hier gelten andere Regeln. Andere Gesetze. Andere Rituale. Hier wird man Teil einer anderen Gemeinschaft. Das Stadion ist der Flucht- und Zielpunkt der Aktivität. Hier geht es um Fußball. Einerseits. Aber es geht vor allem darum, dass sich eine Gemeinschaft hier vor sich inszeniert. Sie bringt sich selbst zur Erscheinung. Sie feiert nicht das eine Spiel, das hier zufällig stattfindet, sondern das Spiel an sich. Den Fußball. Die Fanfreundschaft und Fanfeindschaft. Den Ernst des Spiels. Seinen ungewissen Ausgang. Die Unabhängigkeit von Politik, ja auch das, sogar in Dresden. Dort wollte Lutz Bachmann die Fans mit ihren rechten Gesängen und den Militarialook instrumentalisieren. Die Antwort war eindeutig – „Bachmann, halt‘s Maul.“ Es ist ein Fest des Festes, das gefeiert wird, immer und immer wieder. Und deswegen sollte man die Einflussthese noch mal überdenken. Die Rituale des Festes dienen nicht dem Sieg. Man feiert, um sich gegen die Ungewissheit des Spiels zu immunisieren. Erst wenn man das Spiel an sich feiert, ist es gleichgültig, wie dieses eine Spiel ausgeht. Und nun macht noch etwas Sinn, was man vielleicht als Nichtfußballfan merkwürdig finden kann: Dass man seine Liebe zum Verein erst beweist, wenn er verliert. Man hält nicht zum Verein, auch wenn er mal verliert, man definiert seine Treue erst dadurch, dass er verliert. Die Ungewissheit des Spiels ist der Prüfstein für den Fan. Zu einem Sieger halten kann jeder. Zu einem Verlierer halten nur die echten Fans.
Dieser Treue muss sich der Verein erst einmal würdig erweisen. Deswegen sind Fans durchaus kritisch gegenüber der zunehmenden Kapitalisierung des Geschäfts, pfeifen Helene Fischer aus, verachten Mannschaften, die sie Plastikvereinen nennen: Red Bull Leipzig, TSG Hoffenheim, Bayer Leverkusen, Vfl Wolfsburg. Leider hat bislang derartiges Protestieren nie als besonders nachhaltig erweisen, aber wer weiß, ob die Stimmung vielleicht nicht doch einmal kippt. Dann ob sich die Fans wirklich alles bieten lassen, ist fragwürdig – irgendwann können weder die Atmosphäre in einem noch so schönen Stadion, können auch die Gesänge nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass Robert Lewandowski recht hat: Fußball ist Kapitalismus pur. (4) Nix Werte, nix Tradition, nix regionale Bindung.In Ländern, in denen die Kommerzialisierung weiter vorangeschritten ist, sind die Zuschauerzahlen niedriger als hier. Im Interview erklärte Cristiano Ronaldo zum Ausgang der Championsleague: „Es sind jedes Jahr die gleichen Mannschaften.“ (5) Wird das Unerwartete immer unwahrscheinlicher, ist der Fußball kein Spiel mehr. Und dann wird es auch nichts mehr zu feiern geben.


(1)Christian Streich am 13. Mai 2017 nach dem 1:1 zischen dem SC Freiburg und dem FC Ingolstadt >>>
(2) Zitiert nach: Graham Ruthven: Wie „You’llnever Walk Alone“ zur globalen Fußballhymne wurde. >>>
(3) Ernst Kantoriwicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1994 (Das englische Original erschien 1957)
(4) Spiegel 37/2017. Siehe auch kicker.de, 9. September 2017 >>>
(5) Interview auf kicker.de am 24. August 2017 >>>