• Über Marlowes
  • Kontakt

… ein Lindenbaum

213_REZ_1_c_Michael_p-Romstoeck


Selten hat mich ein Buch so irritiert und zugleich fasziniert. Da blättert man durch die ersten gut hundert Seiten, keine Bildunterschrift, keine Paginierung. Soll ich doch selbst zurechtfinden mit meiner Irritation, mit meinem Erschrecken über die spröde Haltung des Buches, mit dem Erstaunen als Leser so sehr allein gelassen zu werden? Mit den eher grauweißen als schwarzweißen Bildern?

oben links: Tann (Rhön), rechts: Sachsenbrunn (alle Bilder aus dem besprochenen Band von Michael P. Romstöck)

Michael P. Romstöck: zur Linde. 21,5 x 25,5 cm, 144 Seiten, nicht paginiert, 108 ganzseitige Schwarzweißfotos. Kettler Verlag, Dortmund 2021 ISBN 978-3-86206-882-1

Michael P. Romstöck: zur Linde. 21,5 x 25,5 cm, 144 Seiten, nicht paginiert, 108 ganzseitige Schwarzweißfotos. Kettler Verlag, Dortmund 2021
ISBN 978-3-86206-882-1

Immer wieder bleibe ich beim Durchblättern beim Bild einer riesigen, wohl viele hundert Jahre alten Linde hängen. Sie steht auf einem kleinen Hügel, die Straße heißt »Am Tumulus«, am Bildrand ein senkrecht mit Dachziegeln verkleidetes Giebelfeld, das muss irgendwo in der Braunschweiger Gegend sein. Ein paar Seiten später eine womöglich noch ältere Linde, deren hohler Stamm von Baumsanierern längst mit Beton verfüllt und von Gurten umschnürt ist. Dann eine komplett »eingehauste«, gekappte, beschnittene Linde – mit Treppchen zum Baumhaus, nein zur Baum-Laube. Der Eingang zum »Obergeschoss« wird gekrönt von dem fünfeckigen Schild mit der Eule, das diesen Ort wohl als Naturdenkmal auszeichnen soll. Wie gut, dass das da steht. Ich wäre sonst nicht darauf gekommen. Links daneben das Bild einer ausgewachsenen, ungezähmten, riesigen Linde auf einer Lichtung im Wald, mit einem Bänkchen in gehörigem Abstand davor. Faszination auf der linken Seite und Tristesse daneben – so nah‘ beieinander.

Evessen und Altenböddeken (Bilder: Michael P. Romstoeck

Evessen und Altenböddeken (Bilder: Michael P. Romstöck)

Soviel zur ersten Schicht dieses abenteuerlichen Buchs, das, wie bis jetzt beschrieben einfach »Linde« heißen müsste. Es heißt aber »zur Linde«. Also eine Schicht tiefer gehen. Wieder durch die Bildseiten blättern. Straßenschild »Dorflinde«. Man sieht den Eingang zu einem mehrgeschossigen Wohnhaus. Dann die Bushaltestelle »Zur Linde«. Zu sehen ist: ein biederes Doppelhaus. Dann der in Holz geschnitzte Wegweiser »Gerichtslinde 200 M«. Und das Schild »Einheitslinde gepflanzt zur Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 von der CSU Kelbachgrund«.

Evessen (Bild: Michael P. Romstoeck)

Evessen (Bild: Michael P. Romstöck)

Und natürlich das »Wirtshaus zur Linde«, das »Gasthaus zur Linde«. Die neben »Ochsen«, »Schwan«, »Adler«, »Wald« und »Mühle« hierzulande wohl häufigste Namensgeberin eines Gasthofs. Erstaunlich, da kann die vermeintlich so urdeutsche Eiche überhaupt nicht dran klingeln.

Ich habe Jonas Kaufmann im Ohr. »Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum….«. Kann man bei Youtube nachhören.1) Ja, und sehen! Der Video-Clip beginnt mit einem Baum, der von drei Männern nicht umfangen werden kann. So ein Bild hat man doch vor Augen, wenn ein Gasthof »zur Linde« heißt, oder? Doch meist ist das längst Geschichte.

Um herauszubekommen, vor welchen »zur Linde« genannten Gasthäusern überhaupt noch eine Linde steht, habe ich den Begriff bei Google eingegeben. Auf Seite vier von 31 Seiten, auf denen bei Google »die relevantesten Ergebnisse« zum Stichwort angezeigt werden (338 Treffer), habe ich beim 36. »Gasthof zur Linde« aufgehört. Bei sechs von 36 ließ sich auf der Website noch ein Bezug zum Namensgeber erahnen. Die anderen – von Achim-Bierden über Löffingen, Friesoythe, Leuna-Spergau bis Zeven-Brauel – schweigen sich auf ihrer Website über den Herkunft des Namens aus. Welcher Wirt möchte schon zugeben, dass die namensgebende Linde längst gefällt worden ist – aus welchen Gründen dies auch immer geschah. Und keine neue Linde folgte…

2113_REZ_Uebersicht_zurlindeNun zur dritten Schicht dieses eigenartigen wie merkwürdigen Buches: Die 108 Fotos erscheinen im Anschluss noch einmal – im Miniformat. Auf zwei Doppelseiten. Alphabetisch nach den als Bildunterschrift angegebenen Orten sortiert. Man könnte sagen: ein Inhaltsverzeichnis.

 

 

links: Burgstädtl (Dohna)

links: Burgstädtl (Dohna), rechts: Xanten (Bilder: Michael P. Romstöck)

Und dann ganz zum Schluss die vierte Schicht: Auszüge aus Chroniken, genaue Erläuterungen, Quellen, Zitate. Von Altenböddeken bis Zell. Da schließt sich der Kreis. Und ich kehre zum Anfang zurück: Selten hat mich ein Buch so verstört und zugleich fasziniert.