„Stadt für alle“ klingt gut und ist leicht gesagt. Im Alltag stellt das Konzept der Inklusion immer noch vor viele große Herausforderungen, auch Architektinnen und Architekten, Planerinnen und Planer. Diese Herausforderungen können nicht mit Normen bewältigt werden, auch nicht dadurch, dass die Verantwortung für eine inklusive Stadtgesellschaft an Spezialisten delegiert wird. Statt dessen muss ein anderes Verständnis von Inklusion entwickelt werden als das, mit dem derzeit operiert wird.
„Städtebau.Positionen“ (10) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.
„Inklusion meint das Recht jedes Menschen, in sozialen Bezügen leben zu können, also in allen Lebensbereichen dabei sein zu können.“ (1)
Eine inklusive Stadt, also eine sichere, gesunde, zugängliche, bezahlbare, widerstandsfähige und nachhaltige Stadt, an der alle Menschen ohne Diskriminierung irgendwelcher Art teilhaben können, ist ein weltweit anerkanntes Ziel der Stadtentwicklung. (2) Dennoch lässt sich für Deutschland feststellen, dass eine zunehmend differenzierte Gesellschaft dazu tendiert, sich in homogenen Gruppen aufzugliedern. (3) Diese Entwicklung wird auch im Stadtraum ablesbar – durch segregierte Stadtteile und einer Zunahme exklusiver Orte. Um so wichtiger ist es, das Konzept der Inklusion genau zu beleuchten. Das würde helfen, ko-produktive Planungspraktiken wertzuschätzen, sie durch Erkenntnisse aus den „Disability Studies“ (Studien zu Behinderungen) zu bereichern und zu erkennen, wie wichtig in diesem Zusammenhang Orte der Begegnung sind.
Für Architekten und Städtebauer scheint es auf den ersten Blick nachvollziehbar, sich auf die Themen barrierefreie Mobilität und bauliche Barrierefreiheit zu konzentrieren. Denn es kann nur jemand am städtischen Leben teilhaben, der überhaupt in der Lage ist, in die Stadt zu kommen, sich dort fortzubewegen, dort eine passende Wohnung zu finden und Gebäude zu betreten. Mit der DIN 18040 „Barrierefreies Bauen“ sind überhaupt erst Standards geschaffen worden, auf deren Einhaltung gepocht werden kann. Es gibt Beratungsstellen für Barrierefreiheit etwa in den Architektenkammern, meist ehrenamtliche Behindertenbeauftragte arbeiten in Stadtverwaltungen, Ideen wie „Universal Design“ werden vorangetrieben. Das sind wichtige Errungenschaften, und durch diese Initiativen sind bisher wertvolle Projekte entstanden. Dieses Denken stößt aber schnell an Grenzen, da unterschiedliche Behinderungen unterschiedliche und zum Teil gegenteilige Bedürfnisse erzeugen, wie das Beispiel der Bordsteinkante zeigt, die Sehbeeinträchtigte leitet, aber Mobilitätseingeschränkte behindert.
Die fatale Vorstellung einer Normalexistenz
Würde man bezogen auf barrierefreie Mobilität und bauliche Barrierefreiheit überprüfen, wie es um die Inklusivität europäischer Städte bestellt ist, käme man zwar zu dem Ergebnis, dass zwar inzwischen viel verbessert wurde, aber nach wie vor viel zu tun bleibt: Menschen werden durch bauliche Anlagen immer noch behindert und von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Warum ist das so? Warum verbreiten sich gute Ideen und Lösungen nicht besser, warum wird Inklusion nicht zum selbstverständlichen Bestandteil von Architektur und Städtebau und stattdessen lieber an Expertinnen und Experten delegiert?
Ein Forschungsprojekt über Inklusion im Städtebau gab Anlass dazu, zu untersuchen, ob die Stadt inklusiv ist. Ausgehend von der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention deckten die Forscher*innen auf, dass allzu funktionalistische Planungen den Kern des Konzeptes Inklusion zu verfehlen drohen. (4) Die Theoretikerin Jos Boys liefert zu dieser These einen interessanten und provokativen Erklärungsansatz. Ohne die bisherigen Errungenschaften kleinreden zu wollen argumentiert sie, dass wahrscheinlich ungewollt und paradoxerweise genau diese auf Mobilität und Barrierefreiheit bezogenen Lösungsansätze dazu führen, dass Inklusion nicht zu einem Grundwert in der Architektur und im Städtebau geworden ist. (5) Denn die Vorgehensweise, sich auf barrierefreie Mobilität und bauliche Barrierefreiheit zu konzentrieren, basiert nach Boys auf der funktionalistischen Idee eines „Nutzers“, einer passiven „Phantomfigur einer Industriegesellschaftlichen Normalexistenz,“ (6) an deren Maßen und vermeintlichen Bedürfnissen sich die Planung ausrichtet. Behinderung ist eine Abweichung davon, die mittels technischer Lösungen korrigiert oder ausgeglichen werden muss. Durch dieses Vorgehen entwickelt sich die Arbeit an Inklusion nicht nur auf der Basis einer bereits in späteren CIAM-Kongressen kritisierten Vorstellung einer funktionalistischen Planung und damit abgekoppelt vom städtebaulichen Diskurs. Es ist noch viel schlimmer: Der Grundgedanke des Konzeptes Inklusion geht verloren.
Denn wenn man Inklusion wirklich ernst nimmt, gibt es keine Norm mehr, von der Einzelne abweichen. Dann ist Diversität der Ausgangspunkt der Überlegungen und schlichtweg gesellschaftliche Realtität. (7) Dass den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen mit dem Konzept des „Nutzers“ begegnet wird, führt hingegen dazu, dass Menschen mit Behinderungen entweder übermäßige Beachtung geschenkt wird – und zwar als Menschen, deren Bedürfnisse den Entwurfsprozess unglaublich kompliziert machen. Oder sie werden vernachlässigt – als „Nutzer“ wie alle anderen. Damit stehen sie immer außerhalb des alltäglichen sozialen Lebens und der räumlichen städtischen Entwicklung. (8) Und das betrifft nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen. Schon die Behindertenrechtskonvention weist über ein enges Verständnis von Inklusion hinaus: „Menschen [können] in vielfältiger Weise diskriminiert und ausgegrenzt werden, weil sie als ‚anders‘ wahrgenommen und daher nicht als zugehörig angesehen werden. Das betrifft Menschen mit Behinderungen ebenso wie Migrantinnen und Migranten, Schwarze Menschen, Lesben und Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und intersexuelle Menschen, aber auch alte Menschen, Arme oder Obdachlose.“ (9) Eine inklusive Stadt aus der Perspektive einer einzelnen Teilgruppe zu denken, wird dem Konzept Inklusion in keiner Weise gerecht, es muss vielmehr darum gehen, Stadt aus der Vielheit, der Diversität zu entwickeln.
In anderen Beiträgen dieser Reihe ist diskutiert worden, wie wichtig partizipative Prozesse sind, um Stadtentwicklung als Koproduktion vieler unterschiedlicher Akteure zu betreiben. (10) Da das Thema Inklusion – im oben dargestellten erweiterten Sinne der Behindertenrechtskonvention – viele mit ihrer persönlichen Unsicherheit im Umgang mit Menschen, die ganz anders sind als sie selbst, konfrontiert (Forscher*innen eingeschlossen), ist eine zentrale Frage, wie man persönlich lernen kann, mit Diversität umzugehen. Aus der Antwort lässt sich die städtebauliche Forderung nach Orten der Begegnung ableiten.
Begegnungen sind keine Zufälle
Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist alleine noch kein Garant dafür, jede Situation im städtischen Alltag erfolgreich zu bewältigen. Doch sie ist sowohl Voraussetzung für das Verständnis von anderen Lebenslagen als auch für eine konstruktive Kommunikation mit anderen. Zugleich ist Empathie riskant. Empathisch zu sein bedeutet, seine eigenen Vorstellungen zu verlassen, sich auf etwas Ungewisses einzulassen, um so zu versuchen, die eigene Position wieder zu finden. Letztlich kann aus Empathie Solidarität erwachsen, indem Einfühlung mit Engagement verknüpft wird. (11) Die Fähigkeit zur Empathie kann jedoch nur durch die Begegnung mit Menschen geschult werden, die ganz anders sind als man selbst. Darüber hinaus sind Begegnungen nicht konfliktfrei und bedürfen ständiger Anstrengungen. Die gesellschaftliche Tendenz, Umgebungen zu schaffen, in denen man unter sich blieben kann, führt daher nicht nur zu Ungerechtigkeiten, sondern auch dazu, dass wichtige Fähigkeiten zum Miteinander in einer heterogenen Gesellschaft verlernt werden oder gar nicht erst entwickelt werden. Daher sollte eine inklusive Stadt Begegnungen ermöglichen. Diese Forderung ist nur scheinbar trivial. Ein ganzes Bündel von Maßnahmen ist erforderlich, um die Möglichkeit zur Begegnung unterschiedlicher Menschen in der Stadt aufrecht zu erhalten und zu unterstützen, von preiswertem Wohnraum, sozialer Bodenwirtschaft, qualitätsvollen öffentlichen Räumen bis zur Möglichkeit der Erwerbstätigkeit.
Ein zusätzliches Mittel ist, Institutionen der Begegnung zu schaffen und zu fördern. Begegnung stellt sich nicht einfach automatisch ein, es müssen Anstrengungen unternommen, Kompromisse eingegangen und Positionen immer wieder verhandelt werden. Gleichzeitig vollzieht sich Begegnung nicht ohne Anlass, sondern im gemeinsamen Handeln. Institutionen der Begegnung fördern eine Auseinandersetzung mit gemeinsamen Anliegen: Welche Aktivitäten können an welcher Stelle verbindend wirken? Hierbei werden Institutionen nicht als starre Materialisierung von Autoritäten verstanden, sondern als Prozess und Form, mit deren Hilfe Gesellschaften versuchen, ihre Zukunft zu gestalten und zu organisieren. (12) Das schließt sowohl die Transformation bestehender öffentlicher Institutionen ein, um einer veränderten Gesellschaft gerecht zu werden, als auch die Gründung und Etablierung neuer. Diese entstehen nicht nur „von unten“, sondern in einem Zusammenspiel aus staatlichem und städtischem Handeln sowie bürgerschaftlichem Engagement. Insgesamt spannt sich ein weites Handlungsfeld auf, in dem Kultur eine wesentliche Rolle spielen kann.
Katalysatoren für den inklusiven Alltag
In München lassen sich hierzu einige interessante Entwicklungen beobachten, die zeigen, welche zukünftigen Institutionen möglich sind. So sollte mit Beginn der neuen Intendanz der städtischen Münchner Kammerspiele 2020/21 das Projekt „Townhall“ entstehen. Nach den Vorstellungen des Regisseurs Malte Jelden und des Dramaturgen Björn Bicker hätte sich ein großer Teil des Theaters in einen offenen Ort aller Bürger verwandelt. (13) Sie bauten hierfür unter anderem auf ihre Erfahrungen aus dem gemeinsamen Projekt „New Hamburg“ auf. Für 2020/21 war der Vorschlag zu radikal, das Projekt wurde nicht realisiert. Gleichzeitig engagieren sich die Münchner Kammerspiele auf vielfältige Weise für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, wollen bestehende Strukturen aufbrechen und sich in einen Veränderungsprozess begeben, der Künstler*innen mit Behinderung auf allen Ebenen gleichberechtigt die Münchener Kammerspiele mitgestalten lässt. (14) Die Stadt als Raum, in dem sich gesellschaftliche Entwicklung vollzieht, wird dabei – teilweise auch mit Bezug auf München – in einer Reihe von Sonderveranstaltungen thematisiert.
Als Nebeneffekt der Corona-Krise gibt es jetzt mitten in München zumindest vorübergehend eine ungenutzte Brache: die Theresienwiese. Maßvoll und wie selbstverständlich entstand hier im letzten Sommer das Festival „Kunst im Quadrat. Kulturelle Teilhabe auf der Theresienwiese“ mit einem Werkstatt- sowie einem offenen Kulturprogramm in einer Koproduktion mehrerer öffentlicher Institutionen und freier Initiativen, gefördert von der Landeshauptstadt München. Ein Angebot für alle, jung oder alt, mit oder ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Behinderung, alles mit strikt eingehaltenem Hygienekonzept. Jeder war willkommen, konnte sich ohne Konsum- oder Teilnahmezwang aufhalten, umsonst und draußen. Handlungsanlässe boten Werkstätten wie Fahrradwerkstatt, Druckwerkstatt sowie die Veranstaltungen. Es könnte der Beginn einer dauerhaften Institution der Begegnung sein.
Doch letztlich kommen die konsequentesten Schritte zur inklusiven Stadt von Menschen mit Behinderungen selber. Die inklusive Open Stage „Mit Alles!“ (15) betreibt Inklusion im umfassenden Sinne und veranstaltet seit einigen Jahren inklusive offene Bühnen, auf denen alle auftreten können, Menschen mit und ohne Behinderungen ebenso wie Migrantinnen und Migranten, Schwarze Menschen, Lesben und Schwule, Bisexuelle, Transgender, Alte, Arme und viele andere. Die Veranstaltungen finden an wechselnden etablierten Kulturorten in München statt. Noch sind es einzelne Ereignisse, doch das Ziel ist es, sich auszubreiten und damit die Frage, wer Kultur produziert und welche Themen dort gesetzt werden, anders zu beantworten und damit Kunst und Kultur in der Stadt zu bereichern.
So wichtig derartige Institutionen sind, sie können ihr Potenzial nur dann ausspielen, wenn sie nicht als Erfüllung des Anspruchs an eine inklusive Stadt gesehen werden, sondern als Brücken in den Alltag, in dem sich Inklusion als selbstverständliche Praxis vollzieht – auch im Alltag der Architektinnen und Architekten, Planerinnen und Planer. Es gilt nicht nur, weitere Aktionen zu initiieren, zu fördern und zu institutionalisieren, sondern aus ihnen Schlüsse und Konsequenzen für den Alltag zu ziehen.
(1) Rudolf, Beate: Inklusion ist Bestandteil jedes Menschenrechts. 2012. >>>
(2) New Urban Agenda, United Nations, Quito, 2017
(3) Allmendinger, Jutta: Das Land, in dem wir leben wollen. Pantheon, München, 2017
(4) Die Ergebnisse des Forschungsprojektes: Zusammenhalt – Differenz. Bausteine für eine Inklusive Stadt als Teilergebnis des Forschungs- und Praxisverbundes „Inklusion an Hochschulen und Barrierefreies Bayern“ sind abrufbar >>>
Abschließender Teil des Forschungsprojektes waren die Werkstattgespräche „Inklusionsmaschine Stadt“, die gemeinsam mit Dr. Dorothee Rummel konzipiert und durchgeführt wurden. Siehe: Benze, Andrea und Rummel, Dorothee (Hg.): Inklusionsmaschine Stadt. Inklusion im Städtebau interdisziplinär diskutiert. Jovis, Berlin, 2020
(5) Siehe Boys, Jos: Doing Disability Diffenretly. Routledge London, New York 2014, S.23 ff
(6) Eisinger, Angelus: Die Stadt der Architekten. Anatomie einer Selbstdemontage. Birkhäuser, Basel, Boston, Berlin, 2005, S. 108
(7) Siehe Bude, Heinz: Begegnung und Berührung. In Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Öffentlicher Raum! Frankfurt, New York, 2020. S.99-105 und Ders.: Was für eine Gesellschaft wäre eine „Inklusive Gesellschaft“? In Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Inklusion, Frankfurt, New York, 2015. S.37-43
(8) Siehe Boys, Jos: Doing Disability Differnetly. Routledge London, New York 2014, S.25
(9) Rudolf, Beate: Inklusion ist Bestandteil jedes Menschenrechts. 2012. >>>
(10) Siehe die Beiträge von Nina Gribat – Stadt für wen? – und Melanie Humann – Städtebau trifft digitale Grassroots
(11) Siehe Bude, Heinz: Begegnung und Berührung. In Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Öffentlicher Raum! Frankfurt, New York, 2020. S.99-105 und Ders.: Was für eine Gesellschaft wäre eine „Inklusive Gesellschaft“? In Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Inklusion, Frankfurt, New York, 2015. S.37-43 und auch Benze, Andrea; Rummel, Dorothee (Hg.): Inklusionsmaschine Stadt. Inklusion im Städtebau interdisziplinär diskutiert. Jovis, Berlin, 2020
(12) Siehe Stavrides, Stavros: Comon Space: Die Stadt als Gemeingut. In: Ders., Mathias Heyden (Hg.) Gemeingut Stadt, berliner hefte zu geschichte und gegenwart der stadt 4, Berlin 2017, S.14-58
(13) Björn Bicker, Malte Jelden: Gespräch mit Andrea Benze an der Hochschule München am 17.10.2019 10.00 – 11.30 Uhr.
(14) MK Pressemitteilung vom 28.1.2021 >>>
(15) Die inklusive Open Stage wird von „Impulsion. Netzwerk inklusiver Kunst und Kultur e.V.“ organisiert und von der Landeshauptstadt München und Aktion Mensch unterstützt.