• Über Marlowes
  • Kontakt

Die Handzeichnung des Architekten: Es wird nichts Vergleichbares geben, wenn die KI alles erübrigt, was individuelle Kreativität ersetzen soll. Die Tchoban Foundation mit ihrem kuratorischen Schwerpunkt der Handzeichnung zeigt mit Alvar Aaltos Skizzen und Plänen, welche Kraft die individuelle Schaffenskraft in visueller Darstellung entwickelt.

Alvar Aalto: Wohnblock in Bremen, 1958-62. Bleistift auf Transparentpapier, 30 x 65,7 cm (Tchoban Foundation)

Mit der aktuellen Ausstellung zu Alvar Altos Projekten in Deutschland ist dem Museum für Architekturzeichnung der Tchoban Foundation in Berlin ein Kunststück gelungen. Denn eigentlich handelt es sich um zwei Ausstellungen in einer. Die erste Ausstellung stellt alle 14 in Deutschland von Alvar Aalto geplanten Projekte in Zeichnungen vor. Sechs Entwürfe wurden letztendlich verwirklicht: Der Wohnblock für die Berliner Inter-Bau (1954/57), das ikonische Hochhaus in der Neuen Vahr in Bremen (1958/62), für Wolfsburg das Kulturzentrum (1958/62) und zwei Kirchen (1960/62; 1963/68) sowie die posthum von Elissa Aalto fertiggestellte Oper in Essen (1959;1961/88). Ausführlich werden die ausgestellten Blätter in einem einmal mehr vorzüglich aufbereiteten Katalog vorgestellt und von der Kuratorin Sofia Singler eingeordnet.

Stadtcharakter

Wie offen man im Nachkriegsdeutschland für Aaltos besondere, organische Formensprache war, verdeutlicht ein Zitat Aaltos, das Singler mit Blick auf Wolfsburg anführt: „Der Oberbürgermeister einer deutschen Industriestadt rief mich vor einiger Zeit direkt an und bat mich, dorthin zu kommen. Er sagte, die Stadt habe überhaupt keinen Charakter, und fragte, ob ich helfen würde, dieses Problem zu lösen. Er sagte auch: Wenn Sie einverstanden sind, steht Ihnen das gesamte Zentrum unserer Stadt zur Verfügung.“

Kulturzentrum in Wolfsburg, 1958-62; Bleistift auf Transparentpapier, 30 x 114 cm (Tchoban Foundation)

Kulturzentrum in Wolfsburg, 1958-62; Bleistift auf Transparentpapier, 30 x 114 cm (Tchoban Foundation)

Ausführlich widmet sich die Kuratorin der gemeinschaftlichen Produktion im Studio Aaltos und schildert anschaulich die Arbeitsweise: „Wie Bauern, die den Boden bearbeiten, trugen die Architekten des Aalto-Ateliers die Schichten eines Ortes ab, drehten das Material um, gruben tiefer, drehten es noch einmal um, warfen es durcheinander, gruben erneut, brachen es auf, mischten es und ließen es schließlich ruhen. Das geordnete Chaos der Bodenbearbeitung – umgraben, umrühren, umstoßen, umkippen – ist auf den Zeichnungen unmittelbar erkennbar.“

Der Ort in Stadt und Landschaft

 

Kirche und Gemeindezentrum in Wolfsburg 1960-62; Bleistift und Tusche auf Transparentpapier, 79 x 96,3 cm (Tchoban Foundation)

Kirche und Gemeindezentrum in Wolfsburg 1960-62; Bleistift und Tusche auf Transparentpapier, 79 x 96,3 cm (Tchoban Foundation)

Allein dieser erste Rundgang durch Aaltos Werk ist berückend schön in der atmenden Verknüpfung von Haus, Stadt und Landschaft. Darin spiegelt sich jene intensive Auseinandersetzung mit dem Ort, die die zeitgenössische Architektur und ihr Städtebau heute oft schmerzlich vermissen lassen. Das leitet über zur zweiten Ausstellung, die sich mit dem anderen Blick auf die Zeichnungen hinter den Architekturentwürfen öffnet. Ist der „visuelle Reiz“ der Blätter tatsächlich nur ein Nebenprodukt, wie die Kuratorin im Ausstellungskatalog schreibt? Zweifel erscheinen angebracht. Denn Aaltos Blätter bewegen sich auf einem hohen künstlerischen Niveau, verfügen über eine ästhetische Autonomie. Da gibt es die präzise Architekturzeichnung für Kirche und Gemeindezentrum in Wolfsburg, mit ihrem feinsten Quadratraster, das selbst angelegt und nicht auf Millimeterpapier aufgetragen wurde. Die leicht unterschiedlichen Strichstärken fügen neben die Präzision des Rasters eine (bewusste) Störung dieser rationalen Gestaltung hinzu (Katalog Seite 132).

Die freie Hand

Dieses Ausloten von logischer Strenge und sensibler Freihändigkeit spiegelt sich auch wider in den eben nicht rein mechanisch gleichförmig gezeichneten Schraffuren der Brüstungsfelder eines Wohnblocks für Bremen (Seite 149, Bild oben in diesem Beitrag). Auf dieser Zeichnung tritt ein weiteres Moment der „Störung“ hinzu, in dem die rationale Klarheit des Hauses durch die gezackten Lineaturen eines Baumes durchbrochen wird. Dabei ist dieser Baum auf den ersten Blick gar nicht als solcher zu erkennen, sondern präsentiert sich wie eine unregelmäßige organische Intervention auf dem Blatt. Das ist atemberaubend schön. Neben ausführungsreife Planzeichnungen treten Aaltos Entwurfsskizzen, die doch vielmehr sind als Entwürfe. Etwa, wenn sich die geschwungenen Linienführungen bei der Wolfsburger Kirche überschneiden, ja tastend und suchend fast verknäulen (Seite 127). Oder wenn eine geschwungene Wellenlinie als Ausgang für das Hochhaus in der Neuen Vahr (Seiten 146/47) dient, die die Assoziation an die deutsche Übersetzung von Aaltos Namen aus dem Finnischen wachruft: Welle.

Oper und Musiktheater in Essen, 1959; Bau: 1961-1988. Bleistift auf Transparentpapier, 65,2 x 133 cm (Tchoban Foundation)

Oper und Musiktheater in Essen, 1959; Bau: 1961-1988. Bleistift auf Transparentpapier, 65,2 x 133 cm (Tchoban Foundation)

Immer wieder wird in den Blättern der Prozess des Zeichnens, die Autonomie des Strichs spürbar. Das hat eine befreiende, großartige Wirkung. Und noch eine weitere Ebene öffnet sich mit einem großformatigen Blatt zur Essener Oper (Seite 103). Die sich strahlenförmig weitenden Kompositionslinien des Entwurfs münden oberhalb des Gebäudekomplexes auf eine Grundlinie und fügen sich dort zu einer eigenständigen Partitur, die danach ruft, in musikalische Klänge überführt zu werden. Eine verwandte Notation findet sich ebenfalls auf dem Blatt für die Kirche und das Gemeindezentrum in Wolfsburg (Seite 140). Letztlich öffnet sich in Aaltos Zeichnungen so ein ganzheitlicher Blick auf das Leben, in dem Zeichnung, Architektur und Musik auf eine unvergleichliche Art organisch verwoben sind. Beglückend!


2349_Aalto_BuchBis 14. Januar 2024, Tchoban Foundation, Museum für Architekturzeichnung
http://www.tchoban-foundation.de/10-0-Ausstellungen.html

Kuratoren:
Sofia Singler, Timo Riekko, Nadeja Bartels

Katalog zur Ausstellung „Alvar Aalto in Deutschland: Gezeichnete Moderne“
Hrsg. von Sofia Singler und Nadejda Bartels, Text dt. engl., 168 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-944899-21-3. 2023, 29 Euro