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Eva von Engelhard-Dočkal: Neo-Histrismus? Historisierendes Bauen in der zeitgenössischen Architektur. Hrsg.: Gabi Dolff-Bonekämper, Hans-Rudolf Meier, Jürg Sulzer, 176 Seiten, Jovis-Verlag, 2023. ISBN 978-3-86859-610-6, 32 Euro.

Eva von Engelberg-Dočkal: Neo-Historismus? Historisierendes Bauen in der zeitgenössischen Architektur. Hrsg.: Gabi Dolff-Bonekämper, Hans-Rudolf Meier, Jürg Sulzer: Stadtentwicklung und Denkmalpflege, Bd. 19.
176 Seiten, Jovis-Verlag, 2023.
ISBN 978-3-86859-610-6, 32 Euro.

Das Fragezeichen im Buchtitel steht programmatisch. Man weiß auch nach gründlicher Lektüre nicht, ob man nun schlauer geworden ist. Das Thema neo-historistischen Bauens ist seit geraumer Zeit virulent – und bleibt es. Denn auch eingedenk aller klimarelevanten bautechnischen und baupolitischen Aspekte können gestalterische Fragen nicht beiseite geschoben werden.


1983 war Wolfgang Pehnts Analyse der Gegenwartsarchitektur unter dem Titel „Das Ende der Zuversicht“ erschienen, sie begann mit dem Schlüsselsatz: „Die Moderne ist unter die Historiker gefallen.“ Inzwischen ist viel gebaut worden, modern, postmodern und historistisch, und wir erinnern uns der begleitenden heftigen Kontroversen, etwa zwischen Vittorio Magnago Lampugnani und Winfried Nerdinger oder Heinrich Klotz und Ulrich Conrads.

Sowohl als auch

Die Autorin dieser Veröffentlichung ist Kunsthistorikerin, sie will „nach historischen Kontexten und Entwicklungen“ fragen „und nicht nach einem Richtig oder Falsch“. Ganz Wissenschaftlerin lehnt sie den „bisherigen polarisierenden Diskurs“ ab. Dass das zeitgenössische Bauen zwingend die Avantgarde der 1920 Jahre fortsetzen muss, will sie (zu Recht) nicht anerkennen, sei doch die sich anbietende historisierende Alternative keine Neuerscheinung nach der Postmoderne, sondern gehöre seit dem 18. Jahrhundert zur Architektur der jeweiligen Epochen. Und die Verfasserin schlägt zur gütlichen Einigung vor, dass es sich um ein Gegenmodell zur Moderne, aber gleichzeitig auch um einen Teil von ihr handele. Damit treffen wir bereits in der Einleitung auf die typische Sowohl-als-auch-Balance, mit der uns die Autorin durch ihre Argumente lotst.

Seite aus dem besprochenen Band

Seite aus dem besprochenen Band

Im Mittelpunkt stehen drei reich bebilderte Länderanalysen. Zunächst Polen, das nach der Zerstörung durch den deutschen Angriffskrieg eine symbolträchtige Wiederaufbau- und Rekonstruktionspraxis – auch denkmalpflegerische Fälschungen in Kauf nehmend – begonnen hat, sich schließlich auf seine lokale Tradition besinnend mit dem Historismus ein Antidot zum Einheitsstil der sozialistischen Moderne suchte.
Auch die deutschen Beispiele sind uns präsent, Berlin, Dresden, Frankfurt, Lübeck oder Potsdam boten in den letzten Jahren genügend Anschauungsmaterial. War zunächst der Wiederaufbau von der integren Überlegung bestimmt, ob nicht die Kriegsschuld eine historische Rekonstruktion verbiete und das Abschlagen des Stucks die Ankunft in der Moderne fördern würde, schienen mit der Postmoderne die Dämme gebrochen für einen historisierenden Weiterbau mit Erlebnischarakter. „Neue Altstadt“ wurde zum Terminus, dass dabei durch die Anforderungen nach Komfort oder Kommerz bisweilen Homunculi geschaffen wurden, kümmerte eher das Architekturfeuilleton als die Bürger. Der Sonderfall zweier deutscher Staaten löste nach der Wende politische Debatten aus, wenn für die Reanimation der Baugeschichte DDR-Nachkriegsmoderne beseitigt werden musste.
Inzwischen steht der großstädtische Neo-Historismus unter Beobachtung, weil man dieser Architekturnostalgie unterstellt, den Hintergrund für ein rechtes Rollback zu schaffen. Davon hält sich die wissenschaftlich ambitionierte Autorin lieber fern, beklagt stattdessen die mangelnde gestalterische Qualität, dadurch ausgelöst, dass dieses vergangenheitsbehaftete Bauen „an deutschen Hochschulen nicht oder kaum gelehrt wird“.
In den Niederlanden schließlich entstand nach dem Krieg ein breites Spektrum malerischer Traditionsarchitekturen, aber man war sich auch des nationalen Beitrags zur „Architekturmoderne“ bewusst. Insofern regte sich ein zweifaches Interesse an der Rezeption vertrauter Gebäudetypologien, was verschiedene parallele Strömungen auslöste, so dass für die jüngere niederländische Architektur „die dezidierte Vielfalt unterschiedlicher Ansätze“ bestimmend ist.

Kolberg, Häuserzeile gegenüber vom Rathaus, Bauten nach der Wiedervereinigung (Bild: Eva von Engelberg-Dočkal, aus dem besprochenen Band)

Kolberg, Häuserzeile gegenüber vom Rathaus (Bild: Eva von Engelberg-Dočkal, aus dem besprochenen Band)

Alles und nichts

Nun folgt eine Zusammenfassung, die einen aber nicht weiterbringt. Die Autorin hat mit Bienenfleiß gesammelt, ist dann aber vor der Fülle ihres Materials kollabiert. Sie versucht, sich im Labyrinth einer „zeitgenössisch historisierenden Architektur“ zurechtzufinden und die irgendwie vertrauten Bauweisen unserer Altvorderen enzyklopädisch zu ordnen. Es ist anstrengend, ihren umständlichen Ausführungen zu folgen (nicht nur wegen der ungegliederten kleingedruckten Textspalten), weil ihre exakte Ungenauigkeit zu einem unverständlichen Wissenschaftswelsch führt. Nur ein Beispiel aus ihrem Glossar: „Primäres Ziel ist es, die für eine Analyse dieses Phänomens erforderliche Klarheit und Präzision der Termini sicherzustellen, nicht beabsichtigt ist eine grundsätzliche Festschreibung der gewählten Definitionen und die Ablehnung abweichender Lesarten.“ Es könnte also auch alles ganz anders sein. Deshalb wird immer wieder resigniert auf die „Vielfalt“ dieser Neo-Architektur verwiesen, und Genaueres bleibt „späteren Untersuchungen vorbehalten“. Am Ende heißt es dann: „Das zeitgenössische historisierende Bauen ist kein klar definierbarer Architekturstil, der zu einem bestimmten Zeitpunkt entstand und einer linearen stilistischen Entwicklung folgt.“ Das hätte die Autorin beherzigen können (vielleicht hätten wir dann auf das Buch verzichten müssen).
Architektur steht der Literatur näher als der Wissenschaft. Man sollte deshalb vital darüber erzählen und sich nicht (pseudo-)wissenschaftlich quälen.