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Es gibt diese kostbaren Momente, in denen sich unerwartet ein neuer Kosmos öffnet. Die Chaim Soutine Ausstellung im K20 in Düsseldorf hält solche Momente bereit, in einem Fest der Farben und Schatten mit tanzenden Häusern und Landschaften. Bis 14. Januar!

Chaim Soutine: Le Village, um 1923. 81 x 100 cm, Inventar-Nr. AM1997-28 (Copyright: bpk / CNAC-MNAM / Adam Rzepka)

Soutine, geboren 1893 in Smilovitchi, einem Schtetl nahe Minsk im heutigen Weißrussland, gehört zu den in Deutschland bisher allzu wenig bekannten Vertretern der Malerei der Moderne. Von Minsk über Vilnius führte ihn sein Weg wie so viele osteuropäische Künstler jener Jahre bis in die Kunstmetropole der Welt, Paris. Quasi über Nacht wurde er dort berühmt – und angefeindet —, als ein amerikanischer Sammler zu Beginn der 1920er-Jahre 52 seiner Gemälde erwarb und ihn damit aus drückender Armut befreite. Schwer krank, starb Soutine bereits 1943.
Soweit die biographischen Angaben. Über seine Malerei aber ist damit noch nichts gesagt. Eigentlich sollte der Artikel damit am besten schon aufhören und stattdessen mit der Aufforderung schließen, bis Januar unbedingt nach Düsseldorf zu fahren, um sich diese famose Ausstellung anzuschauen, denn Soutines Malerei lässt sich weder auf Fotos abbilden, noch angemessen in Worte fassen. Insofern kann es nur ein Versuch sein, seine figürlichen Gemälde zu beschreiben, die einem überbordenden expressiven Farbrausch gleichen. Je dichter man an die Arbeiten herantritt (Aber Achtung: Immer einen Meter Abstand halten!) desto deutlicher tritt auch ihre abstrakte Qualität zu Tage. Das ist Farbe pur, angereichert um eine lustvoll sprühende Phantasie. Soutines Landschaften sind gemalt, als befänden sie sich wie ein Ballett in jedem Moment in Bewegung. Grotesk, verdreht und doch zutiefst vertraut. Eine Zentralperspektive, bauhäuslich abstrakte Strenge „Made in Germany“ oder gar eine vordergründige politische Botschaft wären nur hinderlich. Man gewinnt den Eindruck, sich in einem Film zu befinden. Schon bricht beim Betrachten der Gemälde eine ganze Kette von Assoziationen an Vorbildern und Nachfolger hervor, zuvörderst an Vincent van Gogh, aber auch an Rembrandt und Kokoschka.

Chaim Soutine: Les maisons. Öl auf Leinwand (o.J.), 58 x 92 cm, Inventar-Nr.: RF1960-49. Copyright: bpk | RMN – Grand Palais | Hervé Lewandowski

Auf seinem Bild „Les Maisons“ (1920/21) tanzen die Häuser wie bei einem frühen Feininger. Immer wieder taucht im Vordergrund seiner bewegten Landschafts- und Stadtansichten eine einzelne Figur auf, auch sie meist stark bewegt. Ist es der Maler selbst oder sein Schatten? Je länger man schaut, desto mehr Rätsel geben diese Farbfeste auf, desto wilder scheinen sich die Bäume tanzend zu bewegen. Da malt jemand, in dem entweder die Archetypen der Malerei aufbrechen oder der sehr genau bei seinen Besuchen im Louvre hingeschaut hat – oder beides.
Können Bilder expressiv und poetisch, zugleich sein? Melancholisch und lustig? Bei Soutine allemal. Wie menschliche Arme legen sich beispielsweise die beiden Gabel auf den Tellerrand mit den drei mageren Heringen, deren Augen und Mäuler vor Schreck weit aufgerissen sind.
So verrückt die Welt erscheint, die Soutine malte, so real war sie, mit Dienstmädchen, Pagen und manchem Zuckerbäcker. Das Alltägliche wird von ihm liebevoll und mit Würde behandelt und zugleich verzaubert. Deutlich tritt der Einfluss zu Tage, den sein Freund Amedeo Modigliani auf Soutines Porträts ausübte, etwa, wenn man die Gesichter seiner Zuckerbäcker betrachtet. Aber auch hier gilt es, sich zugleich den weißen Kittel zu widmen, die sie tragen, und die eben alles andere sind als nur weiß. Sie zeigen ein Fest aus einem mal grünen, mal blauen Schatten, der deutlich im Pinselstrich abzulesen ist, dazu eine rote Falte, meisterhaft mit einem lockeren S-Schwung des Pinsel hingehuscht und darin doch präzise gesetzt.

Chaim Soutine: Village Square at Céret, 1920, 76 x 94 cm. Copyright: The Israel Museum, Jerusalem, Bequest of Sidney Bernstein, London. On permanent loan from The Jerusalem Foundation, L-B95.052

Chaim Soutine: Village Square at Céret, 1920, 76 x 94 cm. Copyright: The Israel Museum, Jerusalem, Bequest of Sidney Bernstein, London. On permanent loan from The Jerusalem Foundation, L-B95.052

Erwähnte ich schon, dass das ganz große Kunst ist? Farbe und Malerei wie man sie sehr, sehr selten findet. Zu Recht wird in der von Susanne Meyer-Büser kuratierten Ausstellung auf die Vorbildfunktion Soutines verwiesen. Und tatsächlich fällt es nicht schwer, sich den Weg von Soutines berührenden Porträts zu jenen von Francis Bacon vorzustellen. Ja, man würde diesen Weg eigentlich gerne in einer eigenen Ausstellung verfolgen, die Soutines Werk in einem Dialog mit Vorbildern und Nachfolgern verortet. Eine Idee davon vermittelt zumindest der abschließende Interviewfilm, in welchem dem Einfluss Soutines auf die Malerei der Gegenwart nachgespürt wird. Doch wie gesagt, das wäre eine ganz andere Ausstellung.

https://www.kunstsammlung.de/de/exhibitions/chaim-soutine