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Drei neue Bücher lenken den Blick auf unterschiedliche Epochen, Räume, Aufgaben und Konzepte. Sie regen zu Neu- und Wiederentdeckungen an, sie liefern Futter, um aktuelle Diskurse zu reflektieren. Empfehlungen zum Jahresbeginn.


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Elli Mosayebi, Michael Kraus (Hg.): The Renewal of Dwelling. European Housing Construction 1945–1975. 22 × 31 cm, 396 Seiten, 600 Bilder und Pläne, englisch, 89 Euro
Triest Verlag, Zürich, 2023

Der größte Wohnungsbaubestand europäischer Städte stammt aus der Zeit zwischen 1945 und 1975, so die beiden Herausgebenden Elli Mosayebi und Michael Kraus in der Einleitung zu „The Renewal of Dwelling. Aber in diesem Buch geht es nicht um in erster Linie um Quantitäten, sondern darum, dass noch der Wohnungsbau von heute auf dem aufbaut und das fortschreibt, was in der Nachkriegszeit entwickelt wurde und bis heute Städte und Menschen prägt. Neue Ideen des Zusammenlebens, der Konstruktion, der Gestaltung, der Verbindung von Innen und Außen, basierend auf neuen Baumethoden und Technologien, haben in den drei Jahrzehnten nach 1945 den Wohnungsbau grundlegend neu ausgerichtet und Qualitäten alltäglich gemacht. Sie wurden in der Nachkriegszeit erprobt und in vielen Schattierungen variiert. Der Wohnungsbau wurde revolutioniert: Neue Erschließungssysteme, serielle Baumethoden, freie Raumsequenzen und – aufgrund der neuen Dimensionen – neue städtebauliche Figuren führten zu einer bis dahin kaum je verwirklichten Architektur in großem Umfang. Das Buch legt von dieser tiefgreifenden Erneuerung ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Ein Schwerpunkt wird auf die Grundrisse gelegt; es ist den Herausgebenden aber auch Anliegen zu zeigen, dass der schlechte Ruf des Nachkriegswohnungsbaus unbegründet ist. Sie haben auf ihren Exkursionen in Europa „nicht Uniformität, sondern eine große Vielfalt, Experimentfreudigkeit und lokale Besonderheiten gefunden“, so Mosayebi und Kraus. Die Auswahl der Projekte folgt dem Ziel, diese Beobachtung zu belegen und eine große Bandbreite an Bauten zu präsentieren, Terassenbauten, offene Grundrisse, serielle Typen, sozialer Wohnungsbau wie solcher für gehobene Ansprüche.

Gezeigt werden fast 60 Projekte aus zehn europäischen Städten der „zweiten Reihe“ (Mosayebi/Kraus). Also nicht London, Berlin, Paris, sondern Zagreb, Köln, Porto, Lyon, Oslo, Athen und die vier englischen Städte Manchester, Liverpool, Sheffield und Leeds.

Darunter finden sich große Projekte des sozialen Wohnungsbaus in den insbesondere in den späten 1960ern und frühen 70ern üblichen Großformen, aber auch Bauten in städtischen Blöcken mit wenigen Wohnungen. Unter den Architekten sind bekannte Namen wie Alvaro Siza, James Stirling und Oswald Matthias Ungers vertreten, größtenteils aber dürften die Entwurfsverfasser unbekannt sein. Dokumentiert werden die Gebäude ausführlich in Plänen, historischen und aktuelleren Fotos sowie in Beschreibungen, wobei man sich doch hin und wieder eine Bildbeschreibung, eine Planbeschriftung, eine Angabe über die Anzahl der Wohnungen, der Infrastruktur oder die Angabe vom Zeitpunkt der Fotos gewünscht hätte.

Je Stadt führt ein Essay in den politischen und gesellschaftlichen Kontext ein, in dem die Gebäude entstanden. Die Aufbruchstimmung nach der friedlichen Revolution in Portugal, die große Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten der englischen Behörden, der Aufbau und die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in Norwegen und deren Bedeutung für den Wohnungsbaus etwa. Diese Essays sind zentraler Teil des Buchs, sie helfen, die Bauten einzuordnen, ihre Besonderheiten zu erkennen und die Verknüpfung von neuen Ideen und dem Bauen in der großen Zahl einschätzen zu können. Darüberhinaus ist das Buch ein inspirierender Fundus auch an Grundrissen und Gestaltungsoptionen. Der beeindruckende Reichtum an Ideen und Formen, Materialien und Konstruktionen ist ein großer Schatz, den zu bewahren dieses Buch einen Beitrag liefert – wenn auch in wenigen Fällen es nur noch Bewahren auf Papier ist, denn wenige der dokumentierte Bauten wurden bedauerlicherweise bereits abgerissen.


 

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Andreas Denk & David Kasparek: Walter von Lom. Einpassung und Eigensinn. Bauten und Entwürfe 1972–2012. 27,5 x 23 cm. 288 Seiten, mit 731 Bildern und Plänen, 45 Euro
Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln, 2023

Der Kölner Architekt Walter von Lom begann seine aktive Laufbahn als selbstständiger Architekt zu einem Zeitpunkt, als die Kritik an der Nachkriegsmoderne bereits eingesetzt hatte. 1938 in Krefeld geboren, hatte er nach einem Studium an der RWTH Aachen und einer siebenjährigen Arbeit im Büro von Joachim und Margit Schürmann 1972 sein eigenes Büro gegründet. Mit seinem ersten Bau, dem Wohn- und Bürohaus in der Rheingasse 16 in Köln, schlug er den Weg ein, zeitgenössische Architektursprache und Respekt vor dem Kontext und der städtebaulichen Umgebung miteinander zu verbinden, ein Verständnis von Architektur, das seine Arbeit vierzig Jahre prägen sollte, bis er sich im Jahr 2012 aus dem Berufsleben zurückzog. „Einpassung und Eigensinn“ heißt daher das Buch, das sein Werk würdigt. David Kasparek und der 2021 verstorbene Andreas Denk sind die Autoren dieser umfassenden Biografie, die einen eindrücklichen Einblick in die Denk- und Arbeitsweise dieses Architekten bietet.

Eingeführt mit den ersten Projekten, ist das Buch nach Bauaufgaben gegliedert und macht so die enorme Bandbreite des Werks sichtbar: Bauten für die Kirche finden sich darunter ebenso wie Wohn- und Bürogebäude, Straßenbahnhaltestellen, Museen und Bibliotheken, eine Gebäude für Klinikwäschereien und eine Trinkwasseraufbereitungsanlage.

Schon die ersten Bauten zeigen, dass von Lom sich mit den damals neuen Ideen, den geschichtlichen Kontext zu berücksichtigen und dem Bestand wieder Wert beizumessen, nicht nur auseinandergesetzt hatte, sondern mit der Umsetzung dieser neuen Ideen auch die Basis für den Erfolg des Büros legen konnte. Neben dem erwähnten Wohn- und Bürohaus waren dies infolge eines Wettbewerbsgewinns die Sanierung und der Neubau von Häusern in der Stadtmitte von Lemgo, eine Kirche in Herten sowie das LVR-Freilichtmuseum in Kommern. In diesen Bauten lassen sich schon früh die Elemente ausmachen, die von Loms Arbeit fortan prägen sollten: Die kontextuelle Einfügung, die aus der Konstruktionslogik entwickelten Raumgefüge, die Arbeit mit dem Bestand – in Herten etwa war es im Wettbewerb lediglich von Lom  gewesen, der vorgeschlagen hatte, die neogotische Kirche nicht abzureißen, sondern sie umzubauen und zu erweitern. Die ersten Kapitel erschließen die Bauten über Interviews, in denen von Lom Geschichte und Entwurfsprinzipien erläutert, dann werden sie in gut verständlichen Kurztexten (Autorin: Sybille Fanelsa) mit Fotos und Plänen dokumentiert. Interviews über unrealisierte Kölner  Projekte und die Bedeutung des Wettbewerbs für die architektonische Praxis sowie ein Gastbeitrag Ludmila Siman runden die Publikation ab, der noch ein Werksverzeichnis mit 155 vom Architekten selbst ausgewählten Projekten beigefügt ist.

Die Architektur des Büros von Lom ist vielfach ausgezeichnet worden. Sie ist Zeugnis einer Epoche bundesrepublikanischer Architektur, die trotz eigener und eigensinniger Qualität auch den Stil der Zeit aufgreift und abbildet. Gerade weil dabei nicht immer die ganz große Architektur entstanden sein mag, aber stets ein Respekt vor Bauherrschaft, Nutzerinnen und Kontext eingeflossen ist, ist diese Architektur eine, die gleichzeitig alltäglich und besonders zu sein vermag. In den Interviews wird ein Einblick in die Veränderungen gegeben, denen die Berufspraxis des Architekten dieser vier Jahrzehnte unterworfen war. Insofern ist diese Biografie auch ein architektur- und zeitgeschichtliches Dokument.


 

2402_KF_Ausbauhaeuser

Praeger Richter (Hg.): Ausbauhäuser. Gemeinschaftlich, bezahlbar, regenerativ. 17 × 24 cm, 296 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen und Pläne, deutsch, eglisch, 32 Euro
Jovis Verlag, Berlin 2023

Die Ausbauhäuser des Berliner Büros Praeger Richter sind gleichzeitig ein Geschäftsmodell wie ein Bauprinzip, das Antworten auf drängende Fragen im Wohnungsbau bietet. Das Prinzip: Konstruktion und Ausbau so voneinander zu trennen, dass der Rohbau effizient und preiswert erstellt werden kann und man sich dabei gängiger Standardformate und serieller Fertigungsmethoden bedienen kann. Mitunter werden auch Bauteile aus dem Industriebau verwendet. Dafür aber wird der Ausbau so vom Rohbau gelöst, dass er unterschiedliche Grundrissgestaltungen, Selbstbeteiligung und unterschiedliche Geschwindigkeiten zulässt. Damit kann die finanzielle Belastung für die Nutzerinnen gesteuert und niedrig gehalten werden, ohne auf individuelle Gestaltung zu verzichten. Die Konzentration auf Standardmaße im Rohbau bedeutet auch, dass für den Ausbau handelsübliche Produkte verwendet werden können.

Im Buch stellen die beiden Büroinhaber, Jana Richter und Henri Praeger, den Grundsätzen vor, denen sie dabei folgen.

Anhand von inzwischen vier realisierten Ausbauhäusern zeigt sich, wie vielfältig das Grundprinzip variiert werden kann. Der Rohbau kann eine Stahlbeton- oder eine Holzkonstruktion sein, Ausbauhäuser können in den Bestand integriert werden, in ihnen können Baumaterialien wiederverwendet werden und sie können so errichtet werden, dass sie als Materiallager zukünftigen Bauens dienen.

Unterschiedliche Fassaden ergeben sich ohnehin aus dem Konzept. Ob Holz, Schindeln oder Putz – alles ist möglich. Neben dem Prinzip der Trennung von Rohbau und Ausbau gibt es weitere Aspekte, die allen Häusern gemein sind. Alle sind von einer Baugruppe aus Selbstnutzerinnen getragen. Damit sind auch Wege des gemeinsamen Planens, von Gemeinschaftsräumen und gegenseitiger Unterstützung möglich. Die große Flexibilität des Rohbaus erlaubt es, dass die Mitbestimmung auf die Ausbaufragen konzentriert ist, ohne dass Gestaltungsvariationen eingeschränkt werden. Nur so kann das Konzept seine preisparende Wirkung voll entfalten. In allen Häusern ist der Einsatz der Technik weitest möglich reduziert, sie ist leicht zugänglich, wartungsarm und in Teilen reparabel oder ersetzbar. Zukünftiges Weiter- und Umbauen ist mitgedacht, die bauphysikalischen Berechnungen und der sommerliche Wärmeschutz sind auf die Raumaufteilung hin ausgelegt, die die höchsten Anforderungen stellt.

Das Buch ist üppig bebildert, die Prinzipien in Plänen anschaulich dargestellt, gehen aber nicht tief in die Details. Das ist vielleicht auch nicht nötig, da die Idee ja ist, auf gängige Standardlösungen zu setzen und aufwändige Details zu vermeiden. Die knappen, sehr fokussierten Texte bieten die wichtigen Informationen, um zu verstehen, wie diese Ausbauhäuser konzipiert wurden und funktionieren. Nur in einigen Details bleiben unbeantwortet. Wie wurden die Holzkonstruktion so durch Lufträume voneinander getrennt, dass Schallübertragung minimiert werden konnte? Was, wenn  bei den Modellen, die nicht genossenschaftlich organisiert sind und in eine Wohneigentümergemeinschaft münden, die Gemeinschaft nicht erhalten bleibt, wenn einer der Eigentümerinnen ausziehen oder (mit Gewinn womöglich) verkaufen möchte? Doch hier endet vielleicht gerade auch die Aufgabe der Architektinnen. Das in ihrer Verantwortung  für einen anderen Wohnungsbau Liegende haben sie geleistet.