Der unbestritten talentierte Politprofi Wolfgang Schäuble wurde dieser Tage auch als „Architekt der Einheit“ gewürdigt. Noch immer wird also mit der Architektin eine gestaltungs- und entscheidungsbefugte und -begabte Persönlichkeit assoziiert. Ein Perspektivwechsel offenbart aber eine andere Konsequenz: Politiker treffen Planungsentscheidungen, die Architekten aufoftroyiert werden – nicht nur in Baugesetzen, sondern auch in Entscheidungen wie jener pathetischen von 1991, Berlin als Regierungssitz zu wählen. Zeit für eine kleine Geschichtsrevision.
Die Rede, die Wolfgang Schäuble am 20. Juni 1991 im Deutschen Bundestag zum Thema hielt, ob Bonn oder Berlin Hauptstadt werden sollten, ist vollständig nachzulesen und nachzuhören.1) In einer Mischung aus solide erscheinender Mentalität schwäbischer Hausfrauen und einem emotional begründeten, nationalen Pathos bewirkten diese – reichlich übertreibend – als „Jahrhundertrede“ geadelten 9 Minuten den Umzug der Regierung nach Berlin. Es ging um eine Entscheidung, die ich bis heute, genauer gesagt: heute erst recht für falsch, weil völlig überstürzt und unreflektiert getroffen halte. So what? Schnee von gestern? Ein Rückblick nach knapp 33 Jahren ruft jedoch einmal mehr die veränderten Perspektiven der Geschichtsschreibung als kulturelle Aufgabe ins Gedächtnis, mit der Entwicklungen auch wissenschaftlich analysiert werden müssen.
„Ich glaube“, „selbstverständlich“
Gleich zu Beginn offenbart sich in der Rede die durch krude Behauptungen gestützte „Argumentation“ Schäubles:
„Ich glaube, in den 40 Jahren, in denen wir geteilt waren, hätten die allermeisten von uns auf die Frage, wo denn Parlament und Regierung sitzen werden, wenn wir die Wiedervereinigung haben, die Frage nicht verstanden und gesagt: selbstverständlich in Berlin.“
Schäuble „glaubte“, redete von einem „wir“, das es so nicht gab, und was ihn bewog, anzunehmen, dass „die allermeisten“, ohne die Frage zu verstehen, „selbstverständlich in Berlin“ antworten würden, lässt sich nicht nachvollziehen, sondern nur als rhetorische Volte begreifen.2)
Schäubles Rede ist voll von Allgemeinplätzen und Politgeschwafel – sei’s drum, sie bilden politiktypisch die Garnitur der gewieften Gedankenführung, mit der die Zuhörerschaft überzeugt werden soll, und sie gehören zum Politikgeschäft, das rhetorisch immer an Propaganda grenzt. Aber Schäubles politisch-rhetorische Raffinesse funktionierte anders.
Die „Zukunft Deutschlands“
Worum es geht, schiebt man in intentional geführten Diskussionen lieber mal zur Seite – welches Architekturjury-Mitglied offenbart denn schon zu Beginn seinen Favoriten? So verfuhr auch Wolfgang Schäuble.
„Für mich ist es – bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands. Das ist die entscheidende Frage.“
Hier leuchtet ein damals wie heute befremdliches Pathos auf, das in der Rhetorik als emotionale Überzeugungsweise gilt – bar jeder Vernunft, denn was ahnte, geschweige wusste Schäuble von „Wahrheit“ und der „Zukunft Deutschlands“? Um wessen Zukunft sollte es gehen?
„Vollendung“
„Wir haben die Einheit unseres Volkes im vergangenen Jahr wiedergefunden. Das hat viel Mühe gekostet. Nun müssen wir sie erst noch vollenden.“
Die Vollendung als Notwendigkeit für ein finales Gelingen der „Volkseinheit“ ist ein fast peinliches pathetisches Motiv, denn eine Einheit zu vollenden hieße, genauso wie die Floskel „es wächst zusammen, was zusammen gehört“ (die Schäuble nicht verwendete), eine Angleichung der DDR an die BRD zu bewerkstelligen. Hinterfragt wurde das Pathos nicht, es wurde: akzeptiert. Diskutieren wollte Schäuble nicht mehr, er wollte entscheiden. Das war nunmal seine Aufgabe als Politiker. Doch gilt es in Erinnerung zu halten, auf welchen Grundlagen nicht nur mit Schäubles Rede entschieden wurde: auf Pathos, Glauben und politisch sieghaften Vorstellungen.
„Symbol“
Schäuble weiter: „Und das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland war wie keine andere Stadt immer Berlin: von der Luftbrücke über den 17. Juni 1953, den Mauerbau im August 1961 bis zum 9. November 1989 und bis zum 3. Oktober im vergangenen Jahr. Die Einbindung in die Einigung Europas und in das Bündnis des freien Westens hat uns Frieden und Freiheit bewahrt und die Einheit ermöglicht. Aber auch diese Solidarität der freien Welt mit der Einheit und Freiheit der Deutschen hat sich doch nirgends stärker als in Berlin ausgedrückt. Ob wir wirklich ohne Berlin heute wiedervereinigt wären? Ich glaube es nicht.“
Wie Wolfgang Schäuble darauf kam, in Berlin die hier artikulierte Symbolik zu erkennen, entbehrt jeder Logik und geschichtlicher Realität, die Jahrhunderte weiter zurück reicht als bis 1953 – auch wenn Schäuble nur die Zeit der Landesteilung im Sinn hatte, ist eine Hauptstadtentscheidung vor ganz anderem Zeithorizont zu treffen. Und die rhetorisch wieder geschickt, aber völlig hypothetisch gestellte Frage, ob „wir“ wiedervereinigt wären ohne Berlin, konnte Schäuble auch nur mit einem Glaubensbekenntnis beantworten: „Ich glaube es nicht.“
„Deutschland, die Deutschen, wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas.“
Hier klingen die alten Feindbilder des Kalten Krieges an, die europäisch kontextualisiert und edelmütig verbrämt sind. Was Berlin mit der Teilung Europas zu tun hat? Das sagte Wolfgang Schäuble nicht.
Mehr Pathos geht nicht
„Ich sage noch einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will.“
Hier wird nun alles aufgefahren, was politpathetisch, ja, theatralisch wirksam serviert werden kann. Schäuble sagte es selbst: Es ging nicht um Bonn oder Berlin. Dabei ging es genau darum. Es ging ihm darum, die Dominanz eines westlich-kapitalistisch geprägten Gesellschaftssystems gen Osten zu manifestieren und zu verstetigen. Berlin war die Hauptstadt der DDR. Und wäre ein Identifikationsort für den „linken“ Flügel deutscher Politik geblieben. Deswegen sollte Berlin die westlich geprägte Gesamthauptstadt werden, deswegen sollte in den folgenden Jahren alles abgerissen werden, was auch nur irgendwie nach DDR aussah oder roch.
Systemkonkurrenz: Weg da, jetzt kommen wir
In seinem eben erschienenen Buch „Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert“ widmet Winfried Nerdinger einen erklecklichen Teil der politisch-wirtschaftlichen Systemkonkurrenz zwischen BRD und DDR in der Zeit von 1949-1990.3) Und der daraus resultierenden „buchstäblichen Kolonialisierung der ehemaligen DDR“, von der primär die westdeutsche Kapital- und Bauwirtschaft profitierte.4) Über die Treuhand als perfektem Instrument zur Privatisierung ostdeutscher Grundstücke, Bauten und Betriebe wurden bis zu 85 Prozent des Bestands an westdeutsche Investoren verkauft.5) Die von Steuervergünstigungen und Fördergeldern zusätzlich profitierten. In Berlin wurde und wird zudem politisch gezielt mit der Abrissbirne agiert.
Und damit sind wir bei den weitreichenden Folgen für Planungs- und Architekturentwicklungen in Deutschland, die mit der damals von Wolfgang Schäuble maßgeblich beeinflussten Entscheidung pro Berlin bestimmt worden sind. Wolfgang Schäuble hatte schließlich auch die „Deutsche Einheit“ mit Günther Krause als Leiter der „DDR-Delegation“ verhandelt.6) Peter Conradi (1932-2016, SPD), seinerzeit der Architekt im Parlament, meinte damals spontan zu mir, er habe sich durch Schäubles Rede in der Berlin-Frage umstimmen lassen. Aber Jahre später, als er, Peter Conradi, seinen Geburtstag im bereits halb abgerissenen Palast der Republik in Berlin feierte, hörte er sich ganz anders an.
Faktisch wäre, wenn die Regierung in Bonn geblieben wäre, Berlin als Identifikationsort für Menschen der ehemaligen DDR erhalten und damit mit deren eigener Identität und Lebensweise akzeptiert worden. Der Palast der Republik, das Außenministerium, das Ahornblatt, der Baumgartensche Reichstagsumbau – all das und mehr gäbe es noch. Der Furor, mit dem Hans Stimmann seinerzeit gegen all dies wetterte und agierte, weil es „sozialistisch“ war, hätte bundespolitisch kaum Rückendeckung gefunden, wäre die Regierung in Bonn geblieben. Heinrich Klotz, Gründungsdirektor des DAM in Frankfurt, warf seinerzeit den in Berlin wirkenden Personen »Machtallüren«, Einschränkung der Bauvielfalt und die Rückkehr zum Klassizismus der Nazis vor.7)
Neonationalismus
Die folgenden Debatten um Rekonstruktion und Repräsentationsarchitektur im Kontext der „Hauptstadtplanung“ hätten sich in ihrer Belanglosigkeit weitgehend erübrigt. Rekonstruktionen von Bauten, die aus der Zeit vor der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg stammten, die pathetisch als identitätsstiftend für das gesamte deutsche Volk propagiert wurden, blieben schließlich der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich in Architekturfragen in Ost und West zu einigen können schien. In Dresden, in Berlin, in Potsdam und andernorts.
Es geht nicht darum, zu bestreiten, dass die DDR ein „Unrechtsstaat“ gewesen ist. Es geht darum, menschliches Dasein und seine Entwicklung höher zu bewerten als politsystemische Prioritäten. Erspart geblieben wäre der gesamtdeutschen Bundesrepublik vielleicht, dass Bewohner der ehemaligen DDR sich übergangen, überrannt, geringgeschätzt fühlten – was sie nun mal wurden.
Der Regierungsumzug kostete abgesehen davon und anders als Wolfgang Schäuble es glauben machen wollte, doch sehr, sehr viel Geld. Gerade Schäuble, dem in den Nachrufen gerade die „schwarze Null“ finanzpolitisch als kurzsichtig und engstirnig vorgehalten wird, hätte dies benennen können.8)
Die nun in die Jahre gekommene Regierungsarchitektur in Berlin in einem Revisit zu kommentieren, steht dringend an. Die These sei erlaubt, dass sie dort, wo sie im Bestand entwickelt worden ist, deutlich besser wegkommt als in den Neubauten, in denen sich vor allem semiotische Banalität und ikonographische Ratlosigkeit niedergeschlagen haben – etwa im Kanzleramt, in den Abgeordnetenhäusern. Um wenigstens etwas zu reflektieren, was passierte, hatte Volker Hassemer das Stadtforum gegründet, eine ambitionierte, aber leider weitgehend folgenlose Veranstaltungsreihe.9) Auch der „Berliner Architekturstreit“ verlief im Sande, zumal er sich ab ovo im Formalen erschöpfte hat.10)
Die Berliner Republik
Zentralismus, den Wolfgang Schäuble 1991 in seiner historisch selektiven Ansammlung pro Berlin anmahnte, ist Deutschland nie bekommen, weswegen nach dem Zweiten Weltkrieg im Grundgesetz und bei der Verteilung der Macht in Bund und Ländern die föderalistischen Prinzipien konsequent verfolgt worden sind. Auch aus diesem Grund war und bin ich gegen jegliche Zentralisierung von Macht nach einem „preussischen“ Vorbild. Dort, wo wir sie – die konsistente Macht – brauchen, fehlt sie: in der effizienten Verwaltung des Landes, die keineswegs am Föderalismus, sondern an fehlendem konsequenten politischen Gestaltungswillen und -können scheitert. Man schaue nur auf die jahrzehntelang ignorierte kaputte Infrastruktur, die versaubeutelte Digitalisierung, das Gewurstel in der baupolitischen Steuerung:11) Die entsprechenden Ministerien waren und bleiben Abstellgleise für ausrangierte, glück- und fähigkeitslose PolitikerInnen, die Privatisierung des Wohnungsbaus gehört zum weiteren Versagen kapitalistischer Planungspolitik.
Dieser kurze Blick auf die Entscheidung, Berlin als Hauptstadt zu wählen, und darauf, wie sie entstanden ist, ruft die Verbindung von Politik, Macht und Planung ins Gedächtnis, die damals von völlig unangebrachtem Pathos dominiert war.12)
Welches „Volk“ herrscht jetzt?
Rechte und linke Räume, tote Innenstädte, ein Land voller Wärmepumpen und ohne alle Verkehrswenden – gebeutelt von arger Wohnungsnot: Schlechte Zeiten für einen Diskurs, dem ein theoretischer Kontext fehlt. Energietechnischer Pragmatismus dominiert die im Durchschnitt erbärmlich banale Architekturpraxis, die deutsche Autolobby torpediert nach wie vor erfolgreich eine Verkehrswende, die – ausbleibend – zudem die konsistente Erneuerung der Infrastruktur lähmt. Es ist billig, zu billig, auf die Regierenden zu weisen. In einer Demokratie – also in einer Volksherrschaft – ist das Volk herrschend. Und selbst verantwortlich dafür, wie es lebt und regiert werden will.
Der Historiker Heinrich August Winkler meinte kürzlich, als er auch zur Krise der Demokratie befragt wurde: „Deutschland hat sich nach 1945 nicht nur in zwei Staaten gespalten, es sind auch zwei politische Kulturen entstanden. Unter der Decke eines verordneten Antifaschismus konnten sich im Osten alte Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie in stärkerem Maße behaupten als im Westen – Reflexe gegenüber den Vereinigten Staaten, apologetische Lesarten der deutschen Geschichte und traditionelle Formen von deutschem Nationalismus. […] In den westlichen Demokratien haben fast überall Kräfte an Boden gewonnen, die sagen: Die sogenannten Herrschenden regieren über unsere Köpfe der sogenannten einfachen Leute hinweg. Das ist seit dem späten 19. Jahrhundert das Motto aller Populisten. […] Nach dem Untergang des Sowjetkommunismus […] ging die Notwendigkeit verloren, sich der eigenen Werte bewusst zu bleiben.“13)
Wahlen im Jahr 2024 bescheren eventuell eine Hauptstadt, die umgeben ist von AfD-regierten Bundesländern. Wen wundert das?
1) online bei youtube: https://www.youtube.com/watch?v=kQquMGINTr8; in schriftlicher Form: https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/rbb-stimmen-sie-mit-mir-fuer-berlin-schaeubles-historische-rede-zur-hauptstadtfrage-100.html
2) Alle Zitate aus Wolfgang Schäubles Rede sind der auf tagesschau.de publizierten Fassung entnommen.
3) Winfried Nerdinger: Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert. Geschichte, Gesellschaft, Funktionen. München, C. H. Beck 2023, Seite 437-624
4) Nerdinger, a.a.O., Seite 626
5) Nerdinger, Seite 625
7) Spiegel, 42/1994; siehe Kähler, 1995
8) Heribert Prantl: Der Diener des Staates. In: Süddeutsche Zeitung, 28.12.2023; Livia Gerster: Irgendwie immer da. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 31.12.2023
9) Volker Hassemer im Gespräch. In. taz, 4/2021: https://taz.de/Ex-Senator-zum-Berliner-Stadtforum/!5760694/
10) Berliner Architekturstreit:
> Gert Kähler (Hrsg.): Einfach schwierig. Eine deutsche Architekturdebatte. Ausgewählte Beiträge 1993–1995 (Bauwelt-Fundamente 104). Berlin 1995 (Rezension von Wolfgang Kil: https://taz.de/Eine-kurze-Verschnaufpause-im-Gefecht/!1493116/)
> Florian Hertweck: Der Berliner Architekturstreit. Architektur, Stadtbau, Geschichte und Identität der Berliner Republik 1989-1999. Berlin 2010
> Uwe Rada: Welches Berlin hätten Sie denn gern? http://www.uwe-rada.de/themen/stadt_welches.html
> Bruno Klein, Paul Sigel (Hrsg.): Konstruktion urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart. Berlin 2006
11) siehe auch den Beitrag von Christian Holl in dieser Ausgabe
12) Martin Gessmann: Pathos/pathetisch. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 2002, Seite 724-739
Norbert Bolz (Hrsg.): Das Pathos der Deutschen. München 1997; Cornelia Zumbusch (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010
13) Der Westen ist von innen mehr bedroht als von außen. Heinrich August Winkler im Gespräch mit Ralph Bollmann. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 31.12.2023