Stilkritik (139) | Wenn man die 70 überschritten hat, hätte man unter den amerikanischen Präsidentschaftsbewerbern bis vor kurzem noch als Nachwuchskraft zählen können. Aber im gewöhnlichen Leben neigt man zur Bilanzierung, zum Ordnen, Aufräumen – auch was den eigenen beruflichen Werdegang betrifft. Also Gedächtnis statt Suchmaschine …
Vielleicht liegt es am Alter, am Älterwerden, dass man sich immer mehr fragt: Brauche ich das noch alles? Und wozu eigentlich? Zur Bilanzierung bietet sich ständig Gelegenheit. Es reicht der Blick in den Kleiderschrank. Da hängen aus der Mode gekommene dunkle Anzüge. Ob man die noch einmal anziehen wird? Vielleicht, wenn man einen Kritikerpreis verliehen bekommt und bei der Laudatio ordentlich aussehen will. Oder für eine Beerdigung, da ist es nicht so schlimm, dass der Zweireier noch so breite Revers und Schulterpolster hat. Auch beim Werkzeug findet sich einiges, das man aus gutem Grund nie in die Hand genommen hat. Ebenso beim Geschirr. Aber kein Vergleich mit den Büchern! Längst vorbei die Zeiten, als man seine erste Wohnung einrichtete und sich mit den laufenden Regalmetern an der Genugtuung wärmte, seine Bildung oder wenigstens seine kulturelle Beflissenheit ausstellen zu können. Besuchte man Freunde und Kollegen, verriet ein obligatorischer Blick in ihre Bücherspeicher, mit wem man es zu tun hatte. Nicht nur Auswahl und Anzahl, auch die Ordnung gab Auskunft über die Bewohner.
Von analogen Welten
Lange war man froh, wenn der Bestand wuchs, bot ihm mit schmucklosen Blechstellagen, Billy, Lundia oder später mit USM Haller und dem Handwerk eines Möbelschreiners eine angemessene Umgebung. Allmählich wurden aus den frühen Gemeinschaftsunterkünften der Druckerzeugnisse sortierte Themen-Bibliotheken, die jeden Raum eroberten. Selbst in der Küche behaupteten sich Kochbücher. Seither ist das Wachstum nicht mehr aufzuhalten. Deprimiert stellt man fest, dass man für jedes neue Buch ein altes wegwerfen muss, weil es keine Stellmöglichkeit mehr gibt. Manchmal steht man vor den Regalen rätselnd wie vor einer lästigen Erbschaft, betrachtet die gelesenen und ungelesenen Bände, die bildschweren Architektur-Folianten, die man an hohen Feiertagen einmal durchblättert hat und ansonsten brauchte, um für die Kinder Gänseblümchen zu pressen. Sind ihre Inhalte in uns abgespeichert? Oder nur, solange die Quellen als Sicherheitskopie greifbar bleiben? Noch einmal nachschlagen, Wissen auffrischen und sich an ein Lesevergnügen erinnern? Oder endlich davon trennen? Aber an jedem Buch hängen Erinnerungen. Es wegzugeben weckt Gefühle, als würde man sich verabschieden, um ins Seniorenstift umzuziehen.
Noch schwieriger ist es mit den sperrigen Ordnern, die man vornehmlich im Arbeitszimmer verwahrt. Darin klemmen ausgeschnittene Zeitungsartikel und kopierte Seiten. Die Spalten in diesen musealen Presseerzeugnissen sind mit wenig Durchschuss gesetzt, es fehlen anregende Zwischenüberschriften, nur purer Text. Die ältesten Artikel stammen noch aus meiner Schulzeit, darunter ein Essay von Alexander Mitscherlich über die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität, ein Nebeneinander von Tiefdruckbeilagen und blassen Matrizen- oder Spirituskopien. Dazwischen auf braun-brüchigem Papier die Grundwertedebatte unter Schmidt, Kohl und Maihofer (1976). Die meisten Seiten wurden während des Studiums zusammengetragen, ab jetzt getrennt nach Architektur und Gesellschaftspolitik. Sie haben sieben Umzüge überlebt. Einige tragen noch die Stempel der Fernleihe. Ein befreundeter Hilfsbremser hatte vom Lehrstuhl einen Kopierzähler, da ließ sich kostenlos alles ablichten, was man irgendwann für ein Referat gebrauchen konnte. Mit Sicherheit wurden viele der kopierten Texte nie mehr beachtet. Andere erfreuten sich der wiederholten Lektüre, darunter die den bauenden Zeitgeist erhellenden Diskurse von Wolfgang Pehnt mit Behnisch und Ungers (1981).
Die longue durée
Manche neuen Gebäude wie Holleins Haas-Haus in Wien (1990) oder die Stuttgarter Staatsgalerie (1984) hatten redaktionsübergreifende Debatten losgetreten, ebenso die Architekturbiennale La Presenza del Passato (1980), überhaupt diese Postmoderne: Wolf Jobst Siedler zum Auftakt der IBA über das „Machtkartell“, das Berlin mit investorenfreundlichem Purismus gestriegelt hatte, der Schlagabtausch zwischen Stimmann und Klotz im Spiegel (1994), Lampugnani und Axthelm in der ZEIT (1996). Schließlich die unendliche Debatte um das Berliner Schloss…
Unglaublich, was sich da Schwergewichtiges abgelagert hat, als könnten im Feuilleton auf Trinkstärke herabgesetzte Artikel das Studium der Originale ersparen. Einiges ist mühsam übersetzt, das verraten Anmerkungen am Rand. Und Unterstreichungen beweisen, da hat jemand Sloterdijk, Jencks, Eisenman und Habermas gestreift. Dazwischen Sensibles von Sack und Süffiges von Hackelsberger. Und immer Knapp-Bode-Schreiber-Schulz-Bartetzko-Mönninger, später Rauterberg, Matzig und Weissmüller. Frauen waren übrigens seltener dabei, aber Lore Ditzen, Ingeborg Flagge, Monika Zimmermann und Karin Leydecker.
Mit Leuchtmarker Hervorgehobenes diente als Ansporn: „Architekturkritik stellt er sich bösartig, herabsetzend, wütend, aber auch hochjubelnd und begeisternd vor – also nicht unbedingt maßvoll“, heißt es in einem Text über Peter Conradi. Hätte ich einmal meinem Verleger zeigen sollen. Exzerpieren und Sammeln reichen bis in die Gegenwart, erst das Internet hat ein wenig für Beschränkung gesorgt. Einige der Zeitschriften wurden inzwischen eingestellt, viele Autoren sind verstorben. Manchmal erinnert die thematische Häufung der Ausschnitte daran, dass zu dem Zeitpunkt wohl an einem längeren Text gearbeitet wurde. Nicht auszuschließen, dass die zitierten Quellen die eigene Eitelkeit bedienten. Auch Querverweise haben sich erhalten. Das sind die sauber herausgetrennten und messerscharf gefalteten, penibel markierten Seiten aus der FAZ, mit denen mich Wolfgang Stock immer wieder versorgt hat.
Von wegen Suchmaschine…
Kann man das alles wegwerfen? Oder was draus machen? Das Blättern und Nachlesen ist eine Tour durch die selbst erlebte Baugeschichte, eine Kurzfassung wie ein Rentenbescheid. Ein subjektives, eher zufälliges Sammelsurium aus Mitgeteiltem. Es gibt dazu keine Suchmaschine, es taugt nicht zur systematischen Nutzung. Manche Aufenthaltsorte ahnt man, aber es ist jedes Mal wie ein Besuch auf einem wild wucherndem Krautacker, wenn man einen Text von Dietmar Steiner sucht und bei der Gelegenheit sich stundenlang bei Achleitner und Kapfinger aufhält, festliest, weitersucht.
Es muss wohl sein. Nur noch Altpapier, nie wieder auffindbare, einzigartige Elaborate. Ich kann sie nicht in die Papiertonne zu den Möbelprospekten, Tablettenschachteln und Brottüten werfen, das wäre pietätlos. Ich stapele sie neben dem Kaminholz und nehme jeden Tag andächtig ein Blättchen zum Feueranzünden. Drei Ordner habe ich schon geschafft.