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Beobachtungen zur Nachbarschaft offenbaren in Zeiten von Corona-Abwehrstrategien Groteskes zwischen Analogem und Digitalem. Denken wir an die Smart City: Alle Menschen werden Nachbarn. Internet-Plattformen ermöglichen es, mit den Menschen unserer nächsten Umgebung Kontakt aufzunehmen und zu pflegen. Digitalisierung bewirkt damit ein grundsätzlich neues Mit- und Ohneeinander in Städten, Kleinstädten, Dörfern, Wüsten. Virenfrei.


Es gibt Menschen, die wohnen in einer Villa auf einem 5000 Quadratmeter großen Grundstück. Sie haben einen bissigen Hund und keinen Namen an der Klingel. Andere bewirtschaften einen abgelegenen Bio-Bauernhof, wieder andere kutschieren mit dem Wohnmobil durch die Prärie. Was sie alle verbindet: Sie haben keine Nachbarn. Aber wir Sesshaften, die wir uns in Besiedlungen niedergelassen haben, wir leben neben und mit ihnen, den Nachbarn.

Zu ihnen kann man ein enges Verhältnis haben, also sich den Rasenmäher teilen oder sonntags eine Crèmeschnitte über die Gartenmauer reichen, man kann auf Distanz gehen, weil sie aus dem Saarland stammen, oder ist gleich richtig streitbefangen, wofür es viele Anlässe gibt. Immerhin wird man sie beobachten, es lässt sich gar nicht vermeiden, dass man mitbekommt, wie sie ihren Hund füttern, ihren Abfall sortieren und ihre Wäsche auf dem Balkon trocknen. Sagen wir, Nähe beschert zwangsläufig intime Einblicke. Im günstigen Fall sucht man gelegentlich eine Teilhabe an ihrem Leben oder wünscht sich selbst eine helfende Hand, weil man mit seiner neuen Faltmarkise nicht zurecht kommt.

Nachbarschaftssignale im öffentlichen Raum: Was wollen wir woneinander? (Bild: Ursula Baus)

Nachbarschaftssignale im öffentlichen Raum: Was wollen wir voneinander? (Bild: Ursula Baus)

Das Thema Nachbarschaft hatte in den 70er Jahren, so berichtet die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe am 15./16. Februar 2020, an Bedeutung verloren. Das habe sich mittlerweile geändert, weil Finanzkrisen und Klimawandel das Bedürfnis nach Zusammenhalt und Ratschlag verstärken, man will nicht ganz hilflos sein. Egal, ob man seinen Haushalt alleinerziehend oder alleinstehend regelt – ein bisschen solidarische Nähe zu spüren, das wär’s eben.

Um die vorhandene Schwellenangst zur Kontaktaufnahme zu überwinden, gibt es jetzt Online-Portale, über die sich scheue Bewohner quartierscharf vernetzen können. Man lebt ja ohnehin ein virales Leben, nutzt täglich Rechner und SmartPhone, da ist es naheliegend, nicht zum Nachbarn zu schlurfen, weil sein Radio zu laut ist, sondern ihm über Nebenan.de, Nextdoor.de oder Nachbarschaft.net eine Nachricht zu schicken. Man stelle sich das Online-Angebot vor wie eine Mischung aus Facebook und Tinder. Was man innerhalb so einer Community miteinander treiben kann, wird sich fallweise unterscheiden. Wenn der Anwohner vis-à-vis einen auf ein leckes Fallrohr aufmerksam macht, handelt es sich um einen hilfreichen Hinweis, aber man kann der Sorge nicht entraten, dass hier etwas zwischen Blockchain und Blockwart entsteht. Deine Nachbarschaft wartet, buhlt Pizipi.de um neue Teilnehmer. Ja, das hatten wir befürchtet.

So bewegten sich unsere Überlegungen vor genau vier Wochen, ausgelöst von der alten Angst, sich leichtsinnig den bequemen Angeboten des Internets anzuschließen und in eine Falle zu tappen. Schließlich muss man für so ein Nachbarschaftsnetzwerk eine Menge von sich preisgeben, man kann sich nicht als Avatar zum Mitspielen einschleichen. Deshalb sorgte man sich, ob diese rechnergestützten Sozialarbeiter wirklich nur Werbung liefern, um ihre Dienste zu finanzieren, und man nicht fürchten muss, dass gleich ein Handelsvertreter an die Haustür kommt. Und Virus hatte vor kurzem nur eine Bedeutung als Schadprogramm für den Rechner, niemand dachte an infektiöse organische Strukturen, die inzwischen unseren Alltag bestimmen.

Ausgabe der ZEIT vom 19. März 2020: "gemeinsam allein" beschrieb früher eine Ehekrise (Bild: Ursula Baus)

Ausgabe der aktuellen ZEIT vom 19. März 2020: „gemeinsam allein“ beschrieb früher eine Ehekrise (Bild: Ursula Baus)

Auf einmal sieht man diese befremdlichen Portale mit anderen Augen. Wenn wir wirklich nicht mehr aus dem Haus können, schließen wir uns dann doch an, um uns auszutauschen und Hilfe zu organisieren? Und schreiben dem Nachbarn, dass wir eigentlich lieber mit ihm an der Haustür chatten würden. Es ginge um seinen aggressiven Knöterich an unserem Zaun. Wir würden auch sobald als möglich mit einer Flasche Riesling vorbeikommen, der sei in dem Postpaket gewesen, das er letzte Woche dankenswerter Weise für uns entgegengenommen hat. Wir könnten den Wildwuchs auch miteinander bändigen, überhaupt sollten wir künftig viel mehr zusammen machen…