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Große Fragen und wichtige Details


Neue Bücher zu den großen Themen zur Stadt  – mit dabei: Bodenpolitik, das Verhältnis von Kunst zu Stadtentwicklung und das von öffentlich zu privat. Bei letzterem zeigt sich, dass die große Frage manchmal auch sehr gut im kleinen Maßstab beantwortet werden kann.

 

2012_KF_Zwischenraum

Angelika Juppien, Richard Zemp: Vokabular des Zwischenraums. Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten.
Hg: Hochschule Luzern, Institut für Architektur (IAR) und Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP). 14.8 x 21 cm, 212 Seiten, 38 €
Park Books, Zürich, 2019

Seit Jahrzehnten wird die Trennung zwischen öffentlich und privat als Faustregel guten Städtebaus gepredigt. Doch entscheidend ist das Feintuning des Grenzbereichs. Ein kleines, gut nutzbares und anschauliches Buch nimmt anhand von sechs Projekten, die seit den 1990er Jahren in der deutschsprachigen Schweiz entstanden sind – darunter auch zwei der Sanierung und Erweiterung im innerstädtischen Bestand – die Zonen zwischen dem Öffentlichen und den Privaten in den Blick. Die Qualität des Wohnens, so die These, die in dem Buch anschaulich belegt wird, ist von der der Zwischenräume abhängig: von den Vorzonen, Gärten, Balkonen, Loggien, die zwischen Gemeinschaftsflächen und Privaträumen liegen und zwischen ihnen vermitteln. Es sind die Orte, wo man am Leben draußen teilhaben kann, ohne ungeschützt zu sein. Das Buch ist zweigeteilt. Im ersten Teil werden nach einem einleitenden Essay anhand von sieben Begriffen unterschiedliche Strategien und Aspekte aus den sechs Fallbeispielen abgeleitet, die das Wechselspiel innen – außen, öffentlich – privat, Interaktion – Rückzug beeinflussen. Diese Begriffe sind assoziativ gewählt und nicht trennscharf, sie legen das Augenmerk auf jeweils verschiedene Qualitäten: „Porösität“ auf die des Wechsels von Offenheit und Geschlossenheit, „Tarnung“ beschreibt, wie die Aufmerksamkeit so gebunden wird, dass sie nicht auf die eigentlichen Privaträume gerichtet wird; unter „Intervall“ werden die Pufferzonen beschrieben, die den Abstand zwischen dem Innen und dem Außen vergrößern. Weitere Begriffe in dieser Reihe: Alternativen, Kompensation, Ambivalenz, Flirt.

Im zweiten Teil werden die Fallstudien vorgestellt: städtische Einbindung, Trägerschaft, Wohnungsmix, Grundrisse und Bewertung der Zwischenraumqualitäten, in die auch die Erfahrungen der Bewohner einfließen. Umfeld, Bebauungsstruktur und Freiräume werden ebenso analysiert wie die verschiedenen Wohntypen – Wohnungen im Erdgeschoss, mit Balkon, am Laubengang. Verschiedene Trägermodelle und Eigentumsformen, Zeilen, Blöcke, Mischformen, Bauen im Bestand und Neubau – die Mischung ist sehr gut gewählt, um die Bandbreite der Optionen abzubilden. Es ist keine Best-Of-Sammlung, lediglich eine gewisse Größe, Dichte und die Absicht, Zwischenräume zu gestalten, verbindet die Projekte. So werden auch Mängel benannt; etwa wenn die Einsicht ins Private möglich ist, wenn man sich im Innenhof zu sehr beobachtet fühlt, weil er allseitig einsehbar ist. Man würde gerne die Autoren ihre Studie weitertreiben und sie auf den Bestand der Stadt ausdehnen lassen. Denn was sie neben ihrer Anschaulichkeit auch so anregend macht, ist, dass sie zeigt, wie wenig man sich auf grobe Regeln – Blockrand versus Zeilenbau beispielsweise – verlassen kann. Es kommt eben auch hier drauf an, was man draus macht.



2012_KF_Bodenfrage

Florian Hertweck (Hg.): Architektur auf gemeinsamem Boden. Positionen und Modelle zur Bodenfrage. 14×20 cm, 400 Seiten, 25,00€
Lars Müller Publishers, Zürich 2020

Die Bodenfrage ist angesichts der dramatischen Verwerfungen in den Städten über akademische Kreise hinaus in den Diskussionen über die gerechte Stadt und bezahlbaren Wohnraum angekommen. Wem darf der Boden gehören, wie kann dieses nicht vermehrbare Gut den spekulativen und renditeorientierten Umgang entzogen werden? Das von Florian Hertweck herausgegebene Kompendium stellt Modelle und Positionen zur Frage nach einem alternativen Umgang mit Boden vor, die sich nicht dem scheinbar naturgesetzmäßigen Privateigentum an Boden in neoliberaler Diktion abfinden wollen – dabei werden historische Bezüge zu Hans Bernoulli, John Stuart Mill und Henry George aufgegriffen, die Profiteure der weltweiten Benachteiligung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft benannt, der Bogen von Hans Jochen Vogels Initiative aus den 1970ern bis zum Ausverkauf des gemeinnützigen Wohnraums in den 2000er Jahren gespannt.

Auch wenn in den letzten Jahren eine (Re-)Politisierung des Architekturdiskurses auszumachen ist, auch wenn die Frage nach dem Eigentum und dem Umgang mit Boden maßgeblich darauf Einfluss nimmt, wie darauf für wen gebaut werden kann, „setzen sich nur wenige Architekten mit ihr auseinander“, konstatiert Hertweck in der Einleitung. Das Buch richtet sich entsprechend an Architekten, Stadt- und Regionalplaner, weil sie, so Hertweck, „dazu beitragen können, dem neoliberalen Narrativ entgegen das Narrativ eines neuen Gemeinsinns zu entwickeln.“

Eine Gruppe der Beiträge ist daher alternativen und realen Stadtmodellen gewidmet – München, Amsterdam, Singapur, Basel, es geht hier um Erbbaurechte, sozial gerechte Bodennutzung und die Ambivalenz einer dominanten staatlichen Regulierung. Ein weiterer Teil widmet sich architektonischen Projekten – Utopien, aufgeständerten Bauwerken, gemeinschaftlichen Modellen von LeCorbusier über Archigram bis Frei Otto. Der abschließende Schwerpunkt Luxemburg erklärt sich einfach: Hertweck war mit Andrea Rumpf Kurator des luxemburgischen Beitrags der Architekturbiennale in Venedig 2018.

Die einzelnen Teile dieses schön gemachten Buchs sind sicher nicht frei von Lücken – aber um Lückenlosigkeit ging es auch nicht, sondern darum, Interesse zu wecken, die Dimension der Frage zu umreißen und die aktuelle Selbstverständlichkeit kritisch zu befragen. Und das ist gelungen. Das einzige, was man sich noch gewünscht hätte, wäre ein Stichwort- und vor allem ein Literaturverzeichnis, das zu den einzelnen Themen vertiefende Quellen anbietet.



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Isabel Maria Finkenberger, Eva-Maria Baumeister, Christian Koch (Hg.): Komplement und Verstärker. Zum Verhältnis von Stadtplanung, künstlerischen Praktiken und Kulturinstitutionen. 17 x 24 cm 272 Seiten, 35 Euro
Jovis Verlag, Berlin, 2019

Komplement und Verstärker nimmt das Verhältnis Stadtplanung, künstlerischen Praktik und Kulturinstitutionen in den Blick – Anlass ist das von den Herausgebern konzipierte und organisierte Projekt „Die Stadt von der anderen Seite sehen“. Dies wiederum wurde ins Leben gerufen, als das Schauspiel Köln wegen der Sanierung seiner Spielstätte nach Mühlheim gezogen ist. Kein einfacher Stadtteil, keiner, der von einem traditionsbewussten, anspruchsvollen Bildungsbürgertum geprägt ist. Es treten hier, so ist auf der Projektseite der Homepage der Nationalen Stadtentwicklungspolitik zu lesen, viele Herausforderungen an eine zukünftige Stadtgesellschaft gebündelt auf: „postindustrieller Strukturwandel, stark belastete Mobilitätsinfrastrukturen, Zuwanderung und Gentrifizierung. Hinzu kommen die Nachwirkungen des rechtsterroristischen Anschlages des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) im Jahr 2004.“

Der Band dokumentiert die vielen Veranstaltungen, die im Rahmen des Projekts durchgeführt wurden und die Stadtteil und Theater zueinander gebracht haben. Den Hauptteil machen aber die Texte aus, die aus unterschiedlicher Perspektive – Planung, Kulturmanagement, Theater, Kunst – das Verhältnis zwischen performativer Intervention, künstlerischer Position einerseits und Stadtentwicklung andererseits ausleuchten. Dieses Verhältnis ist zum einen nicht neu – wurde es doch bereits oft mit der Beschwörung der Creative Class verbunden, haben sich schon des öfteren Stadtentwicklungstrategien der Unterstützung von Kunst und Künstlern bedient, um die Planung zu umgehen, die von oben letztlich an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei geht. Zum anderen bleibt dieses Verhältnis prekär, solange die Kunst als Mittel zum Zweck ökonomischen Stadtdenkens (Creative Class) missbraucht oder auf Sozialarbeit reduziert wird.

Den Weg dazwischen auszuloten haben sich auch die Beteiligten dieses Projekts, die Herausgeber*innen und Autor*innen dieses Buchs zur Aufgabe gemacht – und das ist nach wie vor Experiment, weil es nicht an etablierte Organisationsformen geknüpft ist. Aber derer zumindest bedarf, damit künstlerische Praxis im Rahmen von Stadtentwicklungsprozessen nicht lediglich bedarfsweise zugeschaltet werden kann. Dieser Weg zu einer Selbstverständlichkeit, die die Leistung der Kunst jenseits bildungsbürgerlicher Selbstvergewisserung anerkennt, ist noch weit. Auch in Köln: Mit dem sanierten Stammhaus hat sich das Schauspiel Köln, wie es in der Einleitung zu lesen ist, „entschlossen, den begonnenen Prozess des den Stadtteil Infiltrierens zu beenden und zum Repertoire-Spielbetrieb zurückzukehren.“