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Eine gerade in der Bauwelt-Fundamente-Reihe erschienene Anthologie, eine Empörung aus München, eine Tagung in Dessau, Scharmützel in der Tages-presse: Die Debatte um „Rekonstruktion“ nimmt erneut Fahrt auf, doch die Richtung führt in eine Sackgasse. Zeit und Geschichtswissenschaften geraten mehr und mehr aus dem Gedankenspektrum, in dem das Bild ausreicht, um Geschichte wie eine Verfügungsmasse zu instrumentalisieren. Das Wissen um Geschichte und die gesamte Geschichtswissenschaft werden marginalisiert.

Opfer politischer Machtansprüche: Der Palast der Republik musste – begleitet von starken Protesten – einem rekonstruierten Preussen-Schloss weichen. (Bild: Ursula Baus)

Doubles in Dessau

Das Bauhaus Dessau hatte zur Tagung „Die Welt und ihr Double. Abriss zur Rekonstruktion“ eingeladen. Es war klug von den Veranstaltern, die Thematik nicht erneut an den Architekturbeispielen zu debattieren, mit denen hierzulande eine aberwitzige Freund-Feind-Streiterei ausartete. Dieser Streit eskaliert derzeit weiter.1) Doch in Dessau hörte man sich zunächst einmal an, was Experten aus ganz anderen Sparten zum Thema Rekonstruktion mitzuteilen hatten: Mensch, Natur, Religion – und schließlich doch auch Architektur. Der Ökologe spricht zum Beispiel von Renaturierung und meint damit nicht die Wiederherstellung eines Landschaftsbildes, sondern die Korrektur einer Flussbegradigung oder -befestigung, damit der Fluss eine bestimmte Funktion im ökologischen Gleichgewicht wieder erfüllen kann; womöglich fließt er dann aber nicht in seinem ursprünglichen Verlauf. In der Psychoanalyse (Freudscher Denkungsart) werden nicht verlorene, sondern verdrängte Ereignisse im Leben eines Menschen rekonstruiert, um ihn in die Lage eines für ihn neuen, selbstkritischen Handelns versetzen zu können. Recht komplex gestalten sich die Rekonstruktionen religiöser Orte, im theologischen Sinne sind diese Orte eher Transformationen von etwas Verschriftlichtem, Erzähltem. Und wo Tonkünstler mit dem Werk ihrer Vorgänger zugange sind, werden Mix und Verfremdung einfallsreich zur Geltung gebracht – hier wechselt man jedoch das Metier, denn die Musik ist eine homophone Kunst – existenziell im Moment des Aufführens, Hörens.

Wo aber bleiben die Spuren der Zeit?

Dicht an den gegenwärtigen Architekturrekonstruktionsdebatten blieben die Archäologin Aleida Assmann und die Architekten Bruno Fioretti Marquez, die den Stand ihres Entwurf für den Neubau an der Stelle des Hauses Gropius in Dessau präsentierten; außerdem Rolf Sachsse, der die (Architektur-)Fotografie kontextualisiert und von ih-rer Aufgabe als Rekonstruktionsquelle nicht überfordert wissen will. Donatella Fioretti und Josè Gutierrez Marquez sind nach langer, verquerer Vorgeschichte gerade diejenigen, die in naher Zukunft mit dem Neubau des Hauses Gropius anfangen können. Aleida Assmann widmete sich dem Wechselspiel von Zerstörung und Rekonstruktion – mit Konnotierungen der Zukunft als Projektionsfläche für Generalversprechen und der Vergangenheit als Ressource für Veränderungen. Beides eine sich für Architekten in einer Wahlfreiheit. Um diese Wahlfreiheit, so darf man vorläufig resümieren, geht es auch in kommenden Debatten über das Neue in der Architektur. Aleida Assmann sprach am Beispiel der Semper-Oper davon, dass sich die rekonstruierten Bauten „mit sich selbst authentifizieren“. Denn diejenigen, die den Zustand vor der Rekonstruktion kennen, stürben und die Jüngeren kennten es nicht anders. Eine solche Argumentation degradiert den Wert der Geschichte und das Wissen um Geschichte zu einer Marginalie: Manche wissen, was vor ihnen steht, andere eben nicht. Damit wird Architektur einer Aussagekraft beraubt, die ihr über Jahrtausende – des Ergänzens, Wiederaufbauens, usw. – einen einmaligen Status im Reigen der Künste verlieh. Es ließ sich an der Ruine der Frauenkirche in Dresden eindringlich eine Mahnung gegen den Krieg lesen. Es ließ sich im Palast der Republik die Banalität erkennen, die Ost- und Westdeutschland in manchen Repräsentationsbauten lang vor der Wende einte. Die Spuren der Zeit lesen zu können: Auch das macht unsere Welt liebenswert.

Begriffs- und Sachklärungen statt Zankäpfel

Wie die emotionalen und vernünftigen Argumente zum Thema Rekonstruktion eskalierten, ist in zahlreichen Veröffentlichungen nachzulesen.2) Anlass neuerlicher Zwiste ist eine Anthologie, in der mit sehr lesenswerten Beiträgen die Rolle der Denkmalpflege erhellt wird. Denkmalpflege und -schutz müssen bewahren, was dem kollektiven wie individuellen Gedächtnis zuträglich ist, und die Spuren der Zerstörung gehören genau hier dazu. Dass Rekonstruktion dabei in höchst unterschiedlichen Arten und Weisen ihren Beitrag liefert, bestreitet kein Mensch. Aber es sind genau die Unterschiedlichkeiten der Rekonstruktionsarten, die uns beschäftigen müssen. Niemals dürfen Erhalten und Bewahren, begleitet von professionellen (Bau-)Historikern, an Einfluss verlieren.Winfried Nerdinger darf man in den Scharmützeln jüngster Publikationen vorhalten, dass er eine Aufgabe jeder Geisteswissenschaft zu geringschätzt: Die Schärfe der Gedanken mit der Schärfe von Begriffen zu stützen. Rekonstruktion ist nicht Wiederaufbau, ist nicht Reparatur, ist nicht Ausbesserung, ist nicht Wiederholung, ist nicht Reproduktion, Restaurierung, Anastylose, Nachahmung, Vollendung, Replik usw. Man denke daneben nur an die himmelweiten Unterschiede, wenn Naturgewalten ein lieb gewonnenes Haus zerstören oder Menschen in schuldhafter Absicht es vernichten.

Winfried Nerdinger trägt wenig zur Begriffsschärfung bei, sondern verpönt sie als „Begriffsakrobatik“. Er wirft alles, was im Zusammenhang mit Rekonstruktion erwähnenswert ist, in ein Töpfchen und setzt das Deckelchen „Rekonstruktion“ drauf. Wir – und vorneweg er selbst – waren aber schon mal weiter, als Uta Hassler und er bei einer Tagung an der ETH Zürich 2008 wissen wollten, was denn im Topf „Rekonstruktion“ drin ist und vielleicht nicht hinein gehört oder aber fehlt. Daran muss man anschließen. Im Sinne eines baukulturell ambitionierten Projektes: der Kontinuität, die im Begreifen von Architekturgeschichte einen verträglicheren Weg als jenen zwischen Abriss und Rekonstruktion weisen kann.

Kontinuität

Denn wie sieht die Praxis aus? Welche Funktion und allgemeine Rechtfertigung beispielsweise die Berliner Bauakademie haben soll, weiß eigentlich niemand. Inzwischen werden auch die Rekonstruktionbefürworter des Berliner Schlosses mehr und mehr desillusioniert. Aus Kostengründen soll dies und jenes nicht wiederhergestellt werden, aus der hochgelobten „Agora“ wird ein Besucherverteilungsraum, die Loggien gen Osten werden zur simplen Lochfassade – was vergangene Woche von Franco Stella vorgestellt wurde, interpretierte die Süddeutsche Zeitung als „durchschnittliches Museumsgebäude mit historisch bedeutenden, handwerklich und ästhetisch anspruchsvollen Fassaden“. Wenn es um das „zeitgenössische Bauen“ geht, schlagen pauschalisierende und deswegen dumme Thesen beispielsweise von Hans Kollhoff ärgerliche Schneisen ins Feuilleton. Jegliche Differenzierung bleibt auf der Strecke, hanebüchene Abrisse bleiben unerwähnt, haarsträubende Retroarchitektur wird ignoriert. Das haben wir davon, wenn extreme Positionen eine kontinuierliche Entwicklung des Bauens aus dem Blickfeld verlieren. Kontinuität als Spielart abendländischer Dialektik in demokratischer Debattenkultur voranzutreiben, könnte das Thema Rekonstruktion in vernünftige Bahnen lenken.


1) > Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper u. a. (Hg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie. Bauwelt Fundamente 146, Basel/ Berlin 2011

> Benedikt Hotze: Denkmalpflege statt Attrappenkult, Rezension. In: Bauwelt 10|2011, S. 41

> Winfried Nerdinger: Auf nachweislichen Verleumdungen basierend, Leserbrief zu Hotze. In: Bauwelt 13|2011, Seite 8

> Winfried Nerdinger: Mehr als Architekturmobbing. Zur Anthologie „Denkmalpflege statt Attrappenkult“. In: Baumeister B3|2011, Seiten 32-33

> Adrian von Buttlar: Der Architekturhistoriker als Erfüllungsgehilfe? Entgegnung zu Nerdinger. In: B4|2011, Seite 16

2) > Ursula Baus: Zwei Aspekte des Umgangs mit Geschichte: Kommerzialisierung und ideologische Ausbeutung. In: TU Cottbus (Hg.), 8. Jg., Heft 2 (März 2004), onlineTextzusammenstellung unter www.architekturmu-eum.de

> Wolfgang Pehnt: Eine Kopie ist nur die halbe Wahrheit. In: FAZ, 27. 4. 2011

> Hans Kollhoff: Gib mir Simse: Was ist zeitgemäßes Bauen. In: FAZ, 12. 5. 2011, S. 30http://www.bfm-architekten.de

> Roman Hillmann: Das Prinzip Rekonstruktion. Rezension der Tagung in Zürich 2008. In: www.kunsttexte.de 1.2008, online PDF