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Fragen zur Architektur (32) | Architektur ist eine Profession. Das würden wohl die meisten, die den Beruf ausüben, unterstreichen. Was aber ist eine Profession? Angesichts der in Soziologie und anderen Wissenschaften kursierenden und konkurrierenden Professionsmodelle fällt darauf die Antwort nicht leicht – im Folgenden ein Versuch aus wohltuend distanziertem Blickwinkel.

University Campus UTEC Lima, gebaut von Yvonne Farrell und Shelley McNamara (Bild: courtesy of Iwan Baan, Pritzker Prize)

Allgemein könnte man sagen, Profession beschreibe die Verberuflichung einer Tätigkeit, für die gesteigerter Bedarf besteht oder anzunehmen ist. Zur Verberuflichung gehören unterschiedliche Aspekte wie die Regelung der Aus- und Fortbildung, die Entwicklung spezifischer Kompetenzen (Fachautorität), Arbeitsmethoden und Fachsprachen sowie Fragen der berufsständischen Organisation und so weiter. All das findet sich auch in der Architektur und ist für das Selbstwertgefühl der ArchitektInnen nicht zu unterschätzen, dennoch bin ich überzeugt, dass sie unter Profession noch etwas anderes verstehen und für wichtiger halten.

Soeben mit dem Pritzker Preis ausgezeichnet: Yvonne Farrell und Shelley McNamara (Bild: https://www.pritzkerprize.com/media-news)

Soeben mit dem Pritzker Preis ausgezeichnet: Yvonne Farrell und Shelley McNamara (Bild: https://www.pritzkerprize.com/media-news)

Beruf und Berufung

Meiner Erfahrung nach neigen ArchitektInnen dazu, zwischen Profession und Professionalität einen prinzipiellen Unterschied zu machen, indem sie der Profession einen größeren Stellenwert und eine weit höhere Bedeutung zuerkennen als der Professionalität, deren Dringlichkeit gleichwohl nicht in Abrede gestellt wird. Während sie aber in der Professionalität nur eine Anforderung sehen, gestehen sie der Profession eine Art “Weihe“ zu. ArchitektInnen widmen ihrem Beruf ja nicht nur sehr viel Zeit, sie leben ihn auch, ähnlich wie man von religiösen Menschen sagt, sie leben ihren Glauben. Anders ließe sich die in beiden Fällen auffallend hohe Opferbereitschaft und der Hang zur Selbstausbeutung kaum erklären.
Das sakrale Moment der Profession leitet sich aus der lateinischen Herkunft des Wortes ab, die bewusst oder unbewusst in uns weiterwirkt. Das lateinische professio verfügt wie seine deutsche Entsprechung über einen Doppelsinn, da es sich nicht nur mit Beruf und Gewerbe übersetzen lässt, sondern ebenso mit Bekenntnis und (Mönchs-)Gelübde! Etwas Ähnliches liegt vor, wenn ein Beruf als Berufung verstanden wird, im Sinne von: sich zu etwas „Höherem“ berufen fühlen.

Denen, die in der Schule Latein lernen mussten, wird vielleicht, wenn sie “Bekenntnis“ lesen, statt professio die Vokabel confessio einfallen, nicht zuletzt wegen der „Confessiones“ des Augustinus. Das wäre nicht ungeschickt, da die berühmte Schrift des Kirchenvaters den Unterschied deutlich macht, der beiden Begriffen innewohnt: professio ist ein “Glaubensbekenntnis“ mit optimistischer Perspektive; es unterstellt, dass Menschen zu besonderen Leistungen fähig sind, während confessio eher in die Richtung “Sündenbekenntnis“ zielt und auf der pessimistischen Ansicht beruht, dass die Menschen ohne die Gnade Gottes nichts wert sind.

Studenten mit verschiedenen Hüten in einer Vorlesung, dargestellt von William Hogarth im Jahr 1736 (Wikipedia gemeinfrei, National Portrait Gallery, London)

Studenten mit verschiedenen Hüten in einer Vorlesung, dargestellt von William Hogarth im Jahr 1736 (Wikipedia gemeinfrei, National Portrait Gallery, London)

Demut und Hochmut

Die moderne profane Profession ist der Glaube an sich selbst. Sie fördert die Einsicht, dass man sich nur in ausgesuchten Tätigkeiten wiederfinden und zu Höchstleistungen anspornen kann. Außerdem stellt sie zwischen Mensch und Beruf das (angeborene) Talent. Die spezifische Begabung bindet das Subjekt, das sich einem Beruf weiht, an eine bestimmte Tätigkeit. Wer das absolute Gehör besitzt, aber farbenblind ist, wird nicht Maler werden wollen, und das große Zeichentalent vergeudet seine Zeit nicht damit, Fagott zu lernen, wenn es unmusikalisch ist.

Mit all dem gebe ich keine wissenschaftlichen Erkenntnisse preis, sondern Ansichten, die viele ArchitektInnen (insgeheim) hegen. Sie verdeutlichen, warum ihrer Meinung nach die Profession in eine andere Richtung zielt als Professionalität. Professionell kann man auch in einem Beruf sein, den man nicht liebt. Interesse und gute Bezahlung reichen in der Regel aus, um den Fleiß und Ehrgeiz aufzubieten, der nötig ist eine Tätigkeit professionell ausüben zu können. Hierzu muss man nicht über eine spezielle Begabung verfügen. Viele, die in ihrem Beruf eine Profession sehen, halten ein Zuviel an Professionalität sogar für schädlich. Ähnlich wie Alberti die den Bauwerken immanente Schönheit für wesentlicher hielt als äußerlichen Zierrat, halten seine modernen Nachfahren die Profession für wichtiger als die Professionalität. Letztere kommt ja nicht von innen, sondern ist “bloß“ antrainiert.
Von Opferbereitschaft war schon die Rede, da zur Profession neben dem Bekenntnis, dass man in seinem Leben nichts anderes tun will als schöne Häuser bauen (oder Tennisturniere gewinnen oder in New Yorker Jazzclubs Saxophon spielen), auch die Bereitschaft gehört, lieber mit der eigenen Berufung untergehen als von ihr ablassen zu wollen. An jede Profession knüpfen sich größere und kleinere Dramen. Nie geht es um Gewinn und Profit allein, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern um gesellschaftliche Anerkennung und, in zweiter Linie, auch darum ein “gutes Leben“ führen zu können mit Italienreisen, leckerem Essen, Konzertbesuchen …

Haltung und Handschrift

So gesehen widerspricht die Profession nicht der von der Soziologie erforschten Verberuflichung, denn auch sie verfolgt ja das Ziel, den Beruf, der professionalisiert wird, so zu verändern, dass er einen gesellschaftlichen Zweck erfüllt und denen, die ihn ausführen, ein ausreichendes Einkommen gewährt. Man muss von seinem Beruf leben können, das ist das selbstverständliche und legitime Anliegen jeglicher Professionalisierung. An diesem Punkt stößt die  Aufwertung der Profession auf Kosten der Professionalität an ihre Grenze. Gleichwohl wiegt eine andere Einsicht schwerer und scheint nahezu in Stein gemeißelt: Keine einzige künstlerische Tätigkeit möchte als Brotberuf verkannt werden!
Belassen wir es also dabei: Profession zielt auf Ruhm und Ehre, Professionalität aufs Honorar. Kaum findet man unter ArchitektInnen solche, die sich nicht schämen, wenn ihnen der Verdienst wichtiger geworden ist als ihr ästhetischer Anspruch. Geld allein macht nicht glücklich, pfeifen die Spatzen von den Dächern, drum identifizieren sich auch geschäftlich erfolgreiche ArchitektInnen mit ihren Bauten nur, wenn ihre “Handschrift“ erkennbar wird. Sie ist der Beweis, dass ästhetische Entscheidungen, die beim Entwerfen getroffen wurden, die Zwänge und Vorschriften, die nicht zu umgehen waren, überstrahlen und vergessen machen. Die Kunst soll über die Ökonomie triumphieren!

Dienstleistung und Obsession

Während die Profession gegen das Übergewicht des Termin- und Kostendrucks ankämpft, fordern Bauherren und Investoren von allen, die am Bauprozess beteiligt sind, allerhöchste Professionalität. Aus diesem Grund sind nicht nur die betriebsamen ArchitektInnen, sondern ebenso ihre KollegInnen, die ihr Metier als Kunst verstehen, an Professionalität interessiert. Das ist so selbstverständlich und längst auch zum Dreh- und Angelpunkt des Architekturstudiums geworden, dass es hier nicht weiter vertieft werden muss. Zumal auffällig ist, dass viele ArchitektInnen ihre Professionalität weiterhin skeptisch beäugen. Sie sehen darin eine fragwürdige Anpassungsleistung, die durch die zunehmende Ökonomisierung und Verrechtlichung des Bauens provoziert wird.

Allgemein gesprochen ist Professionalität immer auch Ausdruck der Distanz. Sie etabliert das Primat des nüchternen Verstandes und rechnerischen Kalküls. Kunst fordert hingegen beides: dass man den Abstand zu seiner Arbeit jederzeit einhalten und aufheben kann. Zur Profession gehören Intensität, Nähe, Unmittelbarkeit und in gleicher Weise ein streng methodisches und systematisches Vorgehen. In naiver Wortwahl dürfte es wohl heißen, dass der Professionalität als Ausdruck der Verstandeskälte die Herzenswärme der Profession gegenübersteht, die sich zur Gluthitze künstlerischer Obsessionen aufheizen und zur Eiseskälte ästhetischer Verfahrensweisen abkühlen kann.

Zentralbild Gahlbeck 18.2.1970 Altenburg-Bez. Leipzig: Wahlen - Grofle Initiative der Werkt‰tigen und Einwohner. als Stadtarchitekt und Abgeordneter des Stadtparlamentes ist Werner Heidrich (Vordergrund) in seiner Stadt bekannt. Er ist Vorsitzender der St‰ndigen Kommission Bauwesen und Mitglied der LDPD. Zu seiner gegenw‰rtigen Hauptaufgabe gehˆrt die komplexe Verschˆnerung der gesamten Altstadt. Unter Zugrundelegung von dokumentarischen Aufnahmen gestaltet er gegenw‰rtig die Farbkonzeption f¸r die Renovierung ganzer Straflenz¸ge. Werner Heidrich ist seit einer Wahlperiode Abgeordneter und kandidiert wieder f¸r die Stadtverordnetenversammlung. Information Altenburg - seit dem 11. Jahrhundert erstmalig sicher erw‰hnt - erbl¸hte nach 1945 zu einer sozialistischen Stadt. 45 Betriebe aller Eigentumsformen vereinen heute ihre Mittel und Kr‰fte f¸r die effektivste Lˆsung der Planaufgaben. K¸rzlich wurde ein Komplexvertrag zwischen dem Rat, der ¸ber 50.000 Einwohner z‰hlenden Stadt (1818-10,160 E.), und den Betrieben vor dem Plenum der Stadtverordnetenversammlung unterzeichnet. Die Betriebe stellten mehr als 2 Millionen Mark zur Verf¸gung. Es entstanden neue Wohnensemble, ein Volkspark wurde geschaffen, in dem zur Zeit eine moderne Schwimmhalle mit Milchbar entsteht. Die Mittel wurden auch f¸r die Schaffung von 35 Kinderkrippen - und 220 Kindergartenpl‰tzen verwendet.

Architekten vorm (Zeichen-)Brett: Stadtarchitekt und Abgeordneter des Stadtparlamentes Leipzig war Werner Heidrich (Vordergrund). (Bild: Friedrich Gahlbeck, 18. 2. 1970, Wikimedia Commons)

Obsessionen dürfen in der Architektur nicht offen eingestanden werden. Darum bekennen sich ArchitektInnen laut zur Professionalität und sprechen leise über ihre ästhetischen Ambitionen. Nur die wenigen, die Kultstatus erreichen, müssen ihr Künstlertum nicht verleugnen. StararchitektInnen dürfen und sollen sogar als Überzeugungstäter zu Werke gehen. Ihr Eigensinn wird gehätschelt, ihre Verschrobenheit geduldet. Spektakuläre Projekte mit allerhöchstem Aufmerksamkeitswert verlangen geradezu nach dem kollektiven Originalgenie, dessen Professionalität sich darin zeigt, dass es die Expertisen hochspezialisierter Fachleute souverän in seine Entwürfe zu integrieren weiß.
In grober Zuspitzung könnte man behaupten, dass Profession Sache der Künstler und Professionalität Sache der Experten ist. Das Spezialistentum ist Folge einer Arbeitsteilung, die in der Baukunst nicht angelegt ist. Jedenfalls nicht ursprünglich. Zwar konnte der Architekt nie alles alleine besorgen und war insbesondere bei Großbauten auf die Hilfe zahlloser Mitstreiter angewiesen, doch machte er ja – wenn wir die Architektur im Unterschied zu den ausführenden Künsten als anleitende Kunst definieren – im Bereich dieser Anleitungen das meiste immer selbst! Zumindest war er in der Vergangenheit nie nur für Entwurf, Ausführungsplanung, Statik, Kostenrechnung, Bauorganisation und -aufsicht zuständig, sondern ebenso für die Konstruktion von Baumaschinen und anderes mehr. Das ist der Grund, weshalb ArchitektInnen, die weiterhin die Verantwortung für den gesamten Planungs- und Bauprozess tragen wollen, sich als Generalisten verstehen, in Abgrenzung zur Heerschar der Experten, von denen sie sich unterstützt und bevormundet fühlen.

Wie die Profession mit der Professionalität so konkurrieren Generalisten mit Experten. Zugleich kooperieren beide Gruppen mit Erfolg, sonst liefe jede Baustelle Gefahr, sich in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Entscheidend für das Gelingen dieser Kooperation und ihr Produkte ist die Frage, auf welches gemeinsame Ziel sich Architekten und Ingenieuren einigen können? Im 19. Jahrhundert bestand hierüber Uneinigkeit, solange Kunst, Funktion, neue Baustoffe und Konstruktionsmethoden um die Vorherrschaft stritten. In alten Bahnhöfen kann man heute noch die Erfahrung machen, dass sich dieser Streit in den grandiosen Widerspruch steigerte, in dem die pompösen Empfangsgebäude der Architekten zu den filigranen, aus Stahl und Glas konstruierten Gleishallen der Ingenieure stehen. Ästhetische Widersprüche können eben sehr spannend sein.

War da was?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hoffte man den Streit zwischen Ästhetik und Funktionalität mit der Formel zu schlichten, alles Praktische sei von sich aus schön (Otto Wagner). Das war ein frommer Wunsch, der auf Dauer nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass Ästhetik und Ornament eine Einheit bilden und alles Schöne ornamental ist. Auch und erst recht Stahlkonstruktionen.
Gottfried Semper (1803-1879) gehörte zu den ersten Kulturtheoretikern der Moderne, die das erkannt hatten. Er identifizierte die Architektur mit dem Ornament, indem er das Textil zum Urmaterial erklärte, auf den alles Bauen zurückgeht. Damit war das Ornament nichts mehr, das der Architektur äußerlich ist. Semper hatte bereits ein Bewusstsein davon, dass der Mensch ein sexuelles Wesen ist, das aus der Not heraus und mit Lust an die Arbeit geht. Entsprechend lag es für ihn auf der Hand, dass die gewebten Stoffe, die der “glückliche Wilde“ fabrizierte, um daraus seine zweite und dritte Haut (Kleidung und Behausung) herzustellen, stets mit schmückenden Motiven und bunten Farben versehen waren. Und so wie die frühen Behausungen verzierte Zelte waren, so hielten laut Semper auch alle nachfolgenden Steinbauten an der Synthese von Material und Schmuck fest.
Der von Adolf Loos (1870-1933) gepredigte Verzicht aufs Ornament war gegen Semper gerichtet und zugleich in seinem Sinne formuliert, denn er bewirkte zweierlei: zum einen, dass die Vorstellung um sich griff, Architektur sei keine Kunst (contra Semper), und zum andern, dass nun neue ästhetische Strategien entwickelt werden konnten, die eine Verwandlung des Ornaments in das bewirkten, was der Philosoph Ludwig Wittgenstein unter dem Gestus der Architektur verstanden haben mochte (pro Semper). Da das Kunstverbot die lautstärkste Propaganda erfuhr und mit der Ökonomisierung des Bauens dem sozialen Wohnungsbau ebenso entgegen kam wie Kapitalinteressen, gewöhnten sich die Architekten daran, ihre wichtigste Kompetenz – die ästhetische – zu verheimlichen. Insgeheim wuchs aber ihre Vorliebe für die plastische Qualität der Architektur und das „kunstvolle Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper“ etc. immens an.

Die angeblich vom Ornament befreite Architektur war originär und ästhetisch hoch ambitioniert. Kaum waren die Architekten mehr Künstler gewesen als in der Zeit, in der sie es nicht sein sollten. Verstrickt in den Professionalisierungsanspruch einer radikal rationalisierten Disziplin sorgte die Einheit von Material und Ornament (man denke an die ausdrucksstarke Maserung des von Adolf Loos benutzten Marmors) dafür, dass das Neue Bauen unverwechselbar war in Form, Farbe und Gestalt. Eine Zeitlang blieb so die Architektur eine Profession trotz zunehmender Professionalisierung. Beides war ineinander verwoben und das Bauen nicht ausschließlich an das eine oder andere verloren. Ob das auch für die letzten Jahrzehnte und die nähere Zukunft noch gilt, müssen Spätere beurteilen.

Wer steuert die Fortschrittslokomotive?

Seit Rousseaus Zivilisationskritik hat der moderne Fortschritt eine Bremse in seinen Genpool eingebaut. Sie ist gewiss nicht der wichtigste Wesenszug unserer Zivilisation, aber ein in Maßen wirkungsvoller. Die Naturzerstörung kontert er mit Nachhaltigkeitsprogrammen, den Siegeszug der Wissenschaften mit Verschwörungstheorien. Die Industriestadt (Cité Industrielle) bekämpft er mit dem Schrebergarten, die Schulmedizin mit Heilkräutern, dem Autonarr empfiehlt er das E-Bike, dem Börsianer die Kunst oder das Kloster oder beides und uns allen die Entschleunigung. Das geschieht mit demselben Recht, mit dem sich diejenigen, denen alles viel zu langsam geht, darüber mokieren und lustig machen.

Drückt der Fortschritt allzu sehr aufs Gaspedal, dann ziehen Kapitalismus- und Kulturkritik vereint die Handbremse mit der Kraft des besseren Arguments, das von vielerlei Schutzgedanken (Natur-, Klima-, Arten-, Denkmalschutz und ebenso Schutz der Minderheiten, der Presse- und Meinungsfreiheit …) flankiert wird. Zum Stehen kommt die Fortschrittslokomotive aber nur, wenn sie vor die Wand fährt oder entgleist. Bevor das passiert, hören wir die Kassandren dieser Welt immer lauter rufen, dass es Fünf vor Zwölf ist. In Zeiten dislozierter Katastrophen heißt es sogar, es sei längst Fünf nach Zwölf. Da das allgemeine Warngeschrei nicht mehr aufhört, befinden wir uns im permanenten Wartezustand. Wie die Trojaner von den Griechen, so fühlen wir uns von künftigen Katastrophen belagert. Die nächste Krise wird kommen, wird wie ein Komet einschlagen und ein Beben auslösen, das jeden erreichen kann und trotzdem die meisten verschonen wird. Warten kann sich also lohnen.

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Vor allem dann, wenn man sich das Warten durch allerlei Bremsmanöver verkürzt, obwohl es heißt, dass derjenige, der zu spät kommt, schon verloren hat. Das ist ein Widerspruch, den wir dialektisch lösen müssen: Wir müssen schnell und fest auf die Bremse treten, damit der technische Fortschritt, das grenzenlose Wachstum, das Profitstreben und seine weltzerstörenden Auswirkungen nicht völlig aus dem Ruder laufen. Wie das geht, kann man von einer Architektur lernen, die seit Jahrtausenden Produkt des menschlichen Dilemmas ist. Von einer Architektur, die immer schon altmodisch war und modern sein wollte so wie die Menschen, die in ihr leben.



2011_AT_s+s30Der Beitrag wurde zuerst im Buch schneider+schumacher: 30 veröffentlicht. Im Mittelpunkt stehen in diesem zum 30 jährigen Jubiläum des Büros schneider+schumacher herausgegebenen Band nicht allein und nicht in erster Linie die Bauten und Projekte des Büros, sondern eine Gliederung  nach Begriffen, unter denen sich wichtige Zugänge des Büros zu den Aufgaben und Projekten, die sie bearbeitet haben, zusammenfassen lassen.
Diese Begriffe sind aber auch Werte und Themen, die für die Zeit der 30 Jahre den Architekturdiskurs eine wichtige Rolle spielen. Sie werden deswegen in Essays von bekannten Autoren und Autorinnen behandeld und spannen so einen weiteren Horizont dessen was Architektur allgemein bedeuten kann.

Wir danken den Herausgebern, Till Schneider und Michael Schumacher, für die Erlaubnis zur Wiedergabe dieses Textes

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