Marktgeschrei (24) | Es geht auf Ostern zu. In den Tourismusburgen an den Küsten, in den Bergen und Kurorten werden Ferienhäuser, -wohnungen und Hotels poliert und, wo es sich lohnt, vor Saisonbeginn erweitert oder neugebaut.
Mit einer Website und regelmäßig neu aufgelegten Büchern weist urlaubsarchitektur.de auf Unterkünfte, die das Herz der baukulturell anspruchsvollen Klientel höher schlagen lassen. Allein, sie sind nicht repräsentativ, wie sich am Beispiel Timmendorfer Strand zeigt. Hatten wir bereits darauf aufmerksam gemacht, wie Travemünde von banaler, pseudomoderner Architektur verschandelt wird, deutet sich in Timmendorfer Strand ein pseudomondäner Bauboom ab, der mit Attributen vermeintlichen Regionalismus‘ und Motiven alter Herrschaftsarchitektur daherkommt.
In Timmendorfer Strand (der Ort heißt so) trifft sich Hamburger und Berliner und sonstige Schickeria beispielsweise in einer Lokalität, die sich unverfroren „Café Wichtig“ nennt. Eine knappe Stunde von Hamburg entfernt, lässt sich in Timmendorfer Strand im Sand spazieren und allerlei Wasservergnügungen nachgehen, Sehen und gesehen Werden manifestieren sich auch in der Größe der Automobile, die nonchalant im Parkverbot abgestellt sind. Und die Tourismus-Architektur?
Eine Augenweide bietet die zauberhafte Trinkkurhalle, die 1952 von dem Lübecker Architekten Hans Vossgrag gebaut worden ist. Sie ruft – wie auch ein paar wenige Ferienhäuser und -häuschen – eine Zeit in Erinnerung, in der Alltags- und erst recht Ferienarchitektur typologisch noch angemessen, im freizeitlichen Ausdruck weitgehend harmlos und in der Rentabilität noch nicht ausgequetscht aussah. Urlaubsarchitektur.de beweist, dass es auch heute noch neue, gute Beispiele gibt, aber sie gehören nicht zu jener Hülle und Fülle, die den gegenwärtigen Architekturalltag in den Tourismus-Hochburgen prägt.
Es sind vor allem die Dachlandschaften, die in Timmendorfer Strand das kalte Grausen kommen lassen. Wie Wurst in Pelle, wirken hier die Zimmer in eine bauordnungsmäßig zugelassene Gebäudehülle gepresst. Wie Mansarddächer, Gauben und Erker hier pervertiert werden, Ziegeldachflächen wie Mützen über Vollgeschosse gestülpt sind und Dächer selbst zerklüftet werden, damit hier und da vermarktbare Durchblicke auf einen Zipfel Ostsee erhascht werden können – das müsste als Architekturfrevel geahndet werden können. Die Baustoffindustrie ist mit Ziegeln aller Farben und Glasurarten – „wie hätten Sie’s denn gern?“ – zur Hand, von Architekten geplante, abstruse Details lassen sich mit den Sortimenten von Braas und Creaton und Nelskamp und Röben und Wienerberger problemlos realisieren.
Im Ganzen wird Wert auf opulenten Schick gelegt: Es glänzt und glitzert, Versatzstücke hanseatischer Kaufmannsarchitektur und Adelshäuser werden gemixt, und so entstehen Häuser mit fratzenhaftem Ausdruck. An all dem Scheußlichen sind Architekten beteiligt, sei es in Planungsbüros, Immobilien-Firmen, Baufirmen oder in Behörden. Sie sitzen womöglich im Café Wichtig und verschließen ihre Augen, um sie vor der Sonne zu schützen.
Aber wen stört dieser primitive Protz noch?