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Fragen zur Architektur (18) | Das alte „Hau-den-Lukas“-Prinzip tritt mit zunehmender Digitalisierung einen neuen Siegeszug im Sinne der Quantifizierung an. Quantifizierende Betrachtungsweisen werden umso fragwürdiger, je komplexer die Betrachtungsgegenstände und – sachverhalte sind. Für Architektur- und andere Planungsbüros zeichnen sich gravierende Wertewandel ab.

Bild: Schul-Skizze, EFK Physik, Gymnasium)

Im Zahlenrausch

Grundlage jeglicher Quantifizierung ist die Zahl. Universell, sprachübergreifend verständlich und als Inkarnation der Rationalität scheinbar unumstritten, ist die Zahl auch in Bereichen geadelt worden, die der Quantifizierung eher unverdächtig sind: in Feuilletons von Tageszeitungen oder in Architekturzeitschriften taucht sie als Rubrik auf, und dann lesen wir in der Süddeutschen Zeitung beispielsweise „Unterm Strich“, dass 2001-2013 in den USA 3.380 Menschen durch Terroristen starben, 406.496 allgemein durch „Gebrauch von Schusswaffen“. In Deutschland ließe sich anführen, dass 2016 im Straßenverkehr 3.206 Verkehrstote zu beklagen waren, 373 Menschen kamen als „Mordopfer“ zu Tode. (1) Kurios wird die durch Zahlen definierte Relation in Statistiken, die offenbaren, dass in China mehr Menschen Englisch sprechen als in den Vereinigten Staaten von Amerika. Schulnoten von 1 bis 6, Michelin-Sterne, Facebook-Likes, Schritte pro Tag, Frauen pro Bundestag – was zu messen ist, wird gemessen, Messtechniken und -geräte boomen. Erkenntniswerte solcher Zahlen-Hypes stehen in keinem Verhältnis zum Aufwand und zur Intention, mit dem Quantifizierung vorangetrieben wird.

A photograph showing ancient art, found on nucius.org

Doryphoros von Polyklet – ein Typus, der auf einen Kanon zuzuführen ist (Bild: nucius.org)

Der vermessene Mensch ist zwar keine Erfindung der Gegenwart, weil bereits von Polyklet bis Le Corbusier nach normativen Aspekten der menschlichen Gestalt gesucht wurde. Mit Likes und Klicks und Daumen-rauf- und Daumen-runter zeichnet sich aber eine grundlegende Abkehr von breit angelegten, erkenntnisorientierten und diskursiven Bewertungssystemen ab, die als Korrektiv der Quantifizierung omnipräsent sein müssen. Im Kontext der Digitalisierung greift eine fragwürdige Neubewertung von allem und jedem um sich, die auch Architektur- und Planungsverfahren unterwandert und ad absurdum zu führen droht. Ein „Google Urbanism“ vereinigt in diesem Kontext zweierlei: Ausbeutung von Menschen, die arglos vieles preisgeben – und Kontrolle, die scheinbar freie Entscheidungen subversiv beeinflusst.

Big Data – Zwecke des Quantifizierens

Die Relevanz der Zahl lässt sich problemlos in geometrischer Form darstellen. Diagramme aller Art visualisieren in Skalen, Statistiken, Rankings und Tortendarstellungen den monokausalen Erkenntniswert der Zahl und lassen sich in kaum überprüfbaren Interpretationsbreiten zu Analysen und Prognosen aufplustern. Ein „Wohlstandsfaktor“ wird dann beispielsweise Grundlage eines „Glücksreports“, worin sich zeigt, was der Soziologe Steffen Mau in seinem just erschienenen Buch „Das metrische Wir“ brillant analysiert: Die neue Hierarchisierung der Gesellschaft schleicht sich ein, weil „Darstellungen wie Tabellen, Grafiken, Listen oder Noten letztlich qualitative Unterschiede in quantitative Ungleichheiten transformieren“. (2) Bestens ist dies am schon erwähnten „Google Urbanism“ nachzuvollziehen. Quantifizierungen lassen als Bewertungssysteme weitreichende Erkenntnissysteme völlig unberücksichtigt – die Sprache der Zahl bügelt glatt, was die Sprachvielfalt und Denkweite der Menschheit mühsam differenziert, ohne sich auf Relationen und Komperative (größer, kleiner, höher, weiter) zu beschränken.

Auch in Wissenschaftskreisen kommt es kaum mehr auf sorgfältig, ergebnisoffen erarbeitete, diskussionswürdige Thesen an, sondern auf die Anzahl von Publikationen, die sich bei den Professor/innen nebenbei auf dem Konto niederschlagen. Mit verheerenden Folgen für die Innovationsaufgabe der Grundlagenforschung. Wissenschaftler werden nicht zuletzt an Universitäten engagiert, weil sie profunde Kenntnisse im Erwerben von Drittmitteln aufweisen können. Zum ökonomischen Aspekt der Quantifizierung kommen wir abschließend.


Aktuelles Ranking der Kollegen des Baunetz'.

Aktuelles Ranking der Kollegen des Baunetz‘.

Baunetz-Ranking, DGNB-Zertifikate und andere Kuriositäten

Und nun zu uns. Zu Architekten, Ingenieuren, zur Bauwirtschaft. Rankings und quantifizierbare Büroeigenschaften werden immer wichtiger. Das Baunetz-Ranking basiert beispielsweise auf Kriterien, die ausschließlich quantifizierbar definiert sind: „Zur Erstellung der nationalen Ranglisten werden sechs deutsche Fachzeitschriften (Bauwelt, Baumeister, DBZ, db, Detail, Wettbewerbe Aktuell) und sechs aus dem Ausland (Architectural Review, a+u, architektur.aktuell, Werk Bauen und Wohnen, domus) ausgewertet.“ Ausgewertet? Sie werden gezählt. Denn wenn in einer Fachzeitschrift ein Projekt des Architekten XYZ niedergemacht wird, dann gilt dennoch die zählbare Präsenz als positiver Faktor. Es zählt: Aufmerksamkeit.

Der DGNB wurde immer wieder vorgeworfen, dass ihre Zertifizierung sich auf messbare (Energie-)Kriterien reduziere. Die DGNB zog sich aus der Affäre, indem sie zunächst Sonderpreise für gestalterischem Anspruch vergab. Zwei Bewertungswelten prallen hier aufeinander, was auf die Problematik in den Berufen weist.

1744_Competition_RankingSo sehen Sieger aus

Auch das Wettbewerbsportal Competition Online profiliert sich dadurch, dass sich ein altes Mittel der Qualifizierung – der Architekturwettbewerb – quantifizieren lässt. Bei competition online werden Premium-, Basic-, und Büros mit Jobanzeigen gelistet. Premium wird mit „maximaler Sichtbarkeit“ angekündigt, was einen weiteren Aspekt der Quantifizierung offenbart: die Steigerungsform bis zum Superlativ. Für 2016 wurde verkündet: „So sehen Sieger aus! Auch in diesem Jahr präsentieren wir Ihnen mit dem competitionline-Ranking die erfolgreichsten Büros des zurückliegenden Jahres. Berücksichtigt wurden alle rund 890 Entwurfsleistungen, die im Zeitraum Juni 2015 bis Juni 2016 von Fachjurys im Rahmen von Wettbewerben in Deutschland oder im Ausland prämiert und auf competitionline.com veröffentlicht wurden. Für jeden ersten Platz wurden drei Punkte vergeben, alle zweiten Plätze erhielten zwei, alle dritten Plätze, Anerkennungen oder Sonderpreise einen Punkt. Aus der Summe aller Punkte ergab sich die Platzierung des Büros.“
Hier wird Transparenz des Rankings suggeriert, aber was qualitativ unter „Erfolg“ im Sinne des Diskurses über Architektur- und Stadtentwicklung zu verstehen ist, bleibt unklar.

Prekär dabei bleibt, dass zum Beispiel die Teilnahmeberechtigung an Architektur-Wettbewerben immer öfter an quantifizierbare Größen geknüpft wird: Mitarbeiterzahl, Projektzahl, Anzahl gewonnener Wettbewerbe und so weiter. Auch in Jurys setzt sich nach meiner Beobachtung mehr und mehr ein quantifizierendes Verfahren durch: das Voting, zu dem man schnell übergeht, wenn die Argumente ausgehen oder die Zeit drängt.


Corbusiers Modulor in heiterer Haltung (Bild: Fonadtion Corbusier)

Corbusiers Modulor(in) tanzt. (Bild: Fondation Corbusier)

Statusproduktion und Entscheidungsgrundlagen

Rankings und Ratings bringen Qualitäts- und Quantitätskriterien in eine Schieflage, was nicht weiter schlimm wäre, wenn die Schieflage immer wieder ins Gleichgewicht gebracht werden könnte. Nichts lässt derlei hoffen. Denn Quantifizierungen sind – analog zu allen Absurditäten der Ökonomisierung – zu Entscheidungsgrundlagen unserer politischen und wirtschaftlichen Instanzen geworden. „Lohnt“ es sich, sich den Quantifizierungsverfahren zu entziehen? Nicht auf Klicks und Rankings zu schielen?

Wer sich der Quantifizierbarkeit entzieht oder verweigert, wird gefragt sein, wenn die Quantifizierungen versagen. Weil man sich im klaren darüber sein muss, um noch ein Mal Steffen Mau zu zitieren, dass „Ratings und Rankings, Scorings und Screenings (..) uns Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsschemata (antrainieren), die sich zunehmend an Daten- und Indikatoren ausrichten“. (3) Politiker können davon dieser Tage ein Liedchen singen, weil ihnen die relationierenden Mehrheitsverhältnisse womöglich den Boden für vernünftiges Handeln entziehen.

Zahl und Geld

Hier schließt sich ein Kreis. Denn Quantifizierung und Ökonomisierung gehen Hand in Hand, quantifizierte Werte sind die Grundlage ökonomischen Erfolgs, der an Geld als zahlengebundenen Wert geknüpft ist. Es führt hier zu weit, die Konsequenzen einer Politik der „schwarzen Null“ oder die Weltpolitik in der Trumpschen Denkweite von 140 Twitter-Buchstaben zu kritisieren. Nur muss uns bewusst bleiben, welche Werte beim Durchmarsch der quantifizierenden Digitalisierung auf der Strecke bleiben.


(1) www.statista.com

(2) Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin 2017, Seite 17

(3) ebda., Seite 13