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Rechte Räume


Zaghaft näherten sich die IBA Thüringen und die Zeitschrift ARCH+ einem brisanten Thema: Rechte Räume oder Demokratie auf dem Land.

1717_SL_Einladungskarte

„Wenn die ganze Welt vom Prozess der Urbanisierung spricht, und wenn in Zukunft die Hälfte der Menschheit in Städten leben wird – nun – dann gilt mein Interesse einfach der anderen Hälfte.“ (zit. nach Florian Aicher: Das Neue Dorf. In: Bauwelt, Nr. 17-18.2015, S. 15) Das launige Statement des finnischen Architekten Sami Rinttala könnte gut als Generalmotto über jener Diskurswende stehen, die seit einigen Jahren die Endlosdebatten über Urbanisierung und Metropolenhype abzulösen scheint.

Natürlich gibt es ernsthaftere Gründe dafür, dass inzwischen kaum noch ein Planerverein, keine Baukulturinitiative und kein trendbewusster Debattierzirkel umhin kann, sich mit „Problemen des Ländlichen“ zu beschäftigen. Wer Megathemen wie demografischer Wandel, Energiewende, Resilienz, neues Wirtschaften oder Mobilität ernsthaft ins Visier nimmt, wird rasch den Eindruck gewinnen, dass die bevorstehenden Transformationen das offene Land heftiger betreffen werden, als die bald nur noch unter Dichtekriterien ventilierten städtischen Agglomerationen.

1717_SL_archplus_228Nun hat also auch die Zeitschrift ARCH+ ihre aktuelle Ausgabe dem „neuen Rurbanismus“ gewidmet, und weil das Heft in dankenswerter Kooperation mit der IBA Thüringen entstand, darf auch deren Motto „Stadtland“ im Titel erscheinen. 2) ARCH+ 228: Stadtland – Der neue Rurbanismus. Berlin 2017; 224 Seiten, zahlr. Abb., 22 Euro, erscheint am 26. April 2017(2) Mit 224 Seiten erreicht das traditionsreiche Theorieorgan wieder mal sattes Buchformat, wobei das Spektrum der Beiträge in gewohnter Weise ausufert: Da dürfte jeder Leser nicht nur sein spezielles Interesse bedient, sondern auch thematische Ausschweifungen zum rascheren Überfliegen finden. Die Spanne reicht vom kühlen Blick auf krasse technologische Realitäten einer „Landwirtschaft 4.0“ bis zu Thesen einer neuen Sinnverteilung zwischen „übrig gebliebenem Landvolk“ und Raumnutzern, die heute weniger Flächenerträge als individuellen Naturbezug suchen. Ungemein anschaulich sind zwei Interviews mit Thomas Kröger und Peter Haimerl, die durch exquisite Vorzeigebauten die Uckermark und den Bayerischen Wald, also eigentlich abgeschriebene Regionen, in die baukulturelle wie damit auch soziale Aufmerksamkeitsliste gerückt haben.
Wirklich gewichtig wird die Lektüre vor allem dort, wo heutige Stadt-Land-Verhältnisse von ihren Fundamenten her hinterfragt werden. Stellvertretend sei hier nur auf die Überlegungen zum Wert gleicher Lebensverhältnisse verwiesen, den vermutlich brisantesten Beitrag im Heft, dessen Autoren einleitend direkt an aktuelle politische Großwetterlagen anknüpfen. Der Wahlsieg Donald Trumps, der Brexit oder die Wahlerfolge der AfD zeigten vor allem eines: „Die abgehängten ländlichen Regionen und die deindustrialisierten Städte melden sich an der Wahlurne zurück. […] Ganze Regionen wurden ökonomisch und infrastrukturell abgehängt, die Schwachen auf notdürftig geflickte Beiboote gesetzt und die Leinen zum Schnellboot Deutschland gekappt.“ 3) Jens Kersten, Claudia Neu, Berthold Vogel: Gleichwertige Lebensverhältnisse – Mindeststandards allein genügen nicht. In: ARCH+ 228, S. 188(3) Nach solch unmissverständlichem Alarmsignal lag die Idee zu öffentlicher Debatte natürlich nahe. ARCH+ lieferte mit dem frisch gedruckten Heft den Anlass, die IBA Thüringen mit der Landeshauptstadt Erfurt die adäquate Adresse. „Rechte Räume oder Demokratie auf dem Land?“ lautete die Frage, die am Abend des 5. April viel Publikum anzog.

Geballte Kompetenz auf dem Podium, v. l. n. r.: Liane von Billerbeck (Moderation), Marta Doehler-Behzadi (Direktorin der IBA Thüringen), Kenneth Anders (IBA-Fachbeirat), Burkhardt Kolbmüller (Heimatbund Thüringen e.V.), Benjamin Immanuel Hoff (Thüringische Staatskanzlei, Kultusminister). (Bild: IBA Thüringen, Thomas Müller)

Geballte Kompetenz auf dem Podium, v. l. n. r.: Liane von Billerbeck (Moderation), Marta Doehler-Behzadi (Direktorin der IBA Thüringen), Kenneth Anders (IBA-Fachbeirat), Burkhardt Kolbmüller (Heimatbund Thüringen e.V.), Benjamin Immanuel Hoff (Thüringische Staatskanzlei, Kultusminister). (Bild: IBA Thüringen, Thomas Müller)

„Die Aufhebung des Stadt-Land-Gegensatzes bei gleichzeitiger Schrumpfung ländlicher Räume hat politische Konsequenzen. Prinzipien der Eigenverantwortung und Selbstermächtigung erzeugen auch die Gefahr, anschlussfähig für rechtsgerichtete, ‚identitäre‘ Bewegungen zu sein“, hatten die Veranstalter das Problem formuliert, welches ausgerechnet Thüringen mit seiner feinkörnigen Siedlungsstruktur besonders zu betreffen scheint. Leider zeigte sich das kompetent besetzte Podium über weite Strecken ratlos. Der Minister zog sich auf das positive Wirken von Chören, Feuerwehren, das Vereinsleben allgemein zurück. Die IBA-Direktorin suchte Gründe für Politikverdrossenheit und Globalisierungsskepsis in den noch immer kaum bearbeiteten Verlusterfahrungen vieler Transformationsverlierer. Der aus dem Brandenburgischen angereiste Kultursoziologe und IBA-Berater, dessen tiefgründige Essays das Nachdenken über ländliche Räume hierzulande schon oft inspirierten, beklagte das andauernde Fehlen authentischer Stimmen aus den betroffenen ländlichen Milieus. Ansonsten hisste er die weiße Fahne: Nirgends sehe er best practices, die als Lehrmodelle taugen; am Ende hänge wohl alles von aufrechten Nachbarn ab, die rechtslastigen Tendenzen in ihren Ortschaften beherzt entgegenträten. Lediglich der Vorsitzende des Thüringischen Heimatbundes, sicher der alltagspraktisch Meistbetroffene unter den Diskutanten, riskierte lauten Widerspruch aus dem Publikum, als er auf der Suche nach Orientierungslinien diese schlicht im Rahmenwerk der Strafgesetze ausmachte: „Solange die nicht verletzt werden, sind auch ‚die Rechten‘ erst mal meine Nachbarn, mit denen ich ins Benehmen kommen muss wie mit allen anderen auch.“

"Befreite Zone" (Bild: Wolfgang Kil)

„Befreite Zone“ (Bild: Wolfgang Kil)

Vielleicht wäre dies der Moment gewesen, den Ausfallschritt produktiv aufzugreifen. Doch irgendwie stand auch die Moderatorin im Bann einer politischen Korrektheit, die „rechtes“ Denken per se außerhalb demokratischer Strukturen verortet und deshalb für gesellschaftliche Konflikte, die in solchen Denkrichtungen womöglich aufscheinen, kaum Interesse zeigt. Unsere moralisch hochgerüsteten Diskurse, in denen der Begriff Zivilgesellschaft ausschließlich für „Aktivisten des Guten“ reserviert ist und jegliche Skepsis gegenüber politisch proklamierten Großprojekten sogleich als zukunfts- oder gar menschenfeindlich bloßgestellt wird, taugen zu sachlicher Analyse eher wenig. Das belegt im ARCH+ Heft Stefan Trübys Auflistung „völkischer“ Siedlungsprojekte und privater Wohnumstände einiger neurechter Promis, aus der fatalerweise wenig mehr zu entnehmen ist als (zähneknirschendes?) Verständnis für anti-rechte Protestmärsche vor eben diesen Privatadressen. (4)4) Stefan Trüby: Rechte Räume. Über die architektonische ‚Metapolitik‘ von Rechtspopulisten und -extremisten in Deutschland. Ebenda S. 154 ff.

In Neugersdorf (Bild: Wolfgang Kil)

In Neugersdorf (Bild: Wolfgang Kil)

Der Gegner saß mal wieder nicht mit im Saal, und so bescherte die Furcht vor jeder steilen These dem Erfurter Abend den Mehltau allgemeiner Unbetroffenheit. Für die zahlreich anwesenden Aktiven der IBA ist das hoffentlich Signal: Natürlich erfordert Zukunftssuche einen optimistischen Grundtenor, und doch darf ihre „Ausnahmesituation auf Zeit“ sich nicht im Schönwetter-Modus einrichten. Nach der wuchtigen Positionsbestimmung, in der die IBA-Direktorin in der erwähnten ARCH+ Ausgabe die anstehenden Epochenprobleme aufruft, (5) 5) Marta Doehler-Behzadi: Wie die IBA Thüringen Stadtland beschreibt. Ebenda, S. 12 ff.sind im bunten Strauß der Projektthemen doch garantiert auch solche zu erwarten, die weh tun. Das Thema „Rechte Räume auf dem Land“ ist eines davon – ein Konfliktfeld, das nach öffentlicher Verhandlung schreit. Nur sind der Öffentlichkeit die Zungen offenbar erst noch zu lösen. „Ausnahmesituation IBA“ – dazu gehört auch, Ungemütlichkeiten durchzustehen. Womöglich gar die eine oder andere krachende Provokation?

Zur Video-Aufzeichnung der Veranstaltung bei Vimeo >>>

Am 27. April 2017 veranstaltet archplus ein „Feature“ in Berlin >>>