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Sein statt Nichtsein


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Schloss Kronberg, Schauplatz des Dramas Hamlet. (Bild: David Kasparek)

Immer beschwören Planer:innen, wie wichtig der öffentliche Personennahverkehr für die Entwicklung von Städten ist. Vielen Gewerbetreibenden und Verantwortungsträger:innen ist das allerdings offenkundig nach wie vor nicht klar. In Dänemark lässt sich bestaunen, wie kleinere Kommunen davon profitieren, wenn sie verlässlich an ein großräumliches Verkehrsnetz angebunden werden. Ein Ortsbesuch.

Folgt man William Shakespeare, der angeblich, vielleicht oder wahrscheinlich das Schauspiel „Hamlet“ verfasste, war es Schloss Kronborg, wo der Geist des jüngst vom eigenen Bruder ermordeten Königs Hamlet des Nachts den Wachen erscheint, worauf sich der Sohn des Ermordeten gleichen Namens aufmacht, Rache zu nehmen. Wo sich um die Autorenschaft Legenden ranken, die bis zur Benennung einschlägiger, deutschsprachiger online-Fachmagazine reichen, steht der Schauplatz der Tragödie bis heute unwidersprochen an der Einfahrt in den Øresund: das 1639 nach einem katastrophalen Brand wiedererrichtete und von 1688 bis 1690 von Lambert van Haven ausgebaute und verstärkte Schloss ruht eindrücklich zwischen seinen Befestigungen und ist seit dem Jahr 2000 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.

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Einfahrt zum Stadthafen von Helsingør. (Bild: David Kasparek)

Unmittelbar daran anschließend liegt das Städtchen Helsingør – an der schmalsten Stelle des Øresunds, gute 40 Kilometer nördlich von Kopenhagen. Im Januar dieses Jahres lebten hier nach offiziellen Angaben 47.563 Menschen. Bemerkenswert an Helsingør ist die Entwicklung, die die Stadt in den letzten Jahren genommen hat. Nicht nur, dass hier 2006 noch gut 12.000 Menschen weniger gemeldet waren. Inzwischen kann die kleine Stadt auch architektonisch mit einigen interessanten zeitgenössischen Projekten – und einem bemerkenswert gut angelegten Skatepark – aufwarten. Lange Jahre war Helsingör, so die deutsche Schreibweise, wahlweise der Ort, von dem Reisende mit der Fähre gen Helsingborg und damit nach Schweden übersetzten, oder eben die Hamlet-Stadt. In der Tat ist die Schlossanlage bis heute ein in vielerlei Hinsicht beeindruckender und beeindruckend schön hergerichteter Ort. Eindrücklicher aber ist der Weg, den man heute von der nahen Altstadt und dem dortigen Bahnhof zum Schloss nimmt.

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Das Büro AART aus Aarhus hat die alten Werfthallen Helsingørs zur Kulturværftet, zur Kulturwerft umgebaut. (Bild: David Kasparek)


Vom Industriehafen zur Kulturwerft


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In ein nicht mehr genutztes Trockendock hat die Bjarke Ingels Group das Schifffahrtsmuseum Helsingørs eingefügt. (Bilder: Davod Kasparek)

Im Rahmen einer breit angelegten Stadtentwicklungsmaßnahme ist der gesamte Hafenbereich mit seinen Werften nach einigen Jahren des Brachliegens nunmehr zum kulturellen Zentrum der Stadt geworden, das weit über die Grenzen der Kommune ausstrahlt. Gut 63.000 Menschen leben in der gesamten Gemeinde, Hinweise auf das touristische Angebot der Kernstadt aber finden sich selbst im großen Kopenhagen. 
Bjarke Ingels und sein Team haben hier, vis-a-vis der schwedischen Küste und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Weltkulturerbe, bis 2013 ein altes Dock zu einem kunstvoll in den Boden eingelassenen Schifffahrtsmuseum umgebaut, die alten Werfthallen wurden von 2008 bis 2010 durch das Aarhuser Büro AART zur Kulturværftet aus- und umgebaut. Aus Industrie- wurden Kulturbauten, und der Weg vom Stadtzentrum zum vermeintlichen Schauplatz des Dramas um den dänischen Prinzen Hamlet von einer, zwar irgendwie charmanten aber letztlich doch recht tristen, weil aufgelassenen Hafengegend zu einer wahren Kulturmeile. Im Sommer 2023 pulsiert hier das Leben. Touristen gehen zum Schloss, Familien besuchen die öffentliche Bibliothek in der Kulturwerft, schnauzbarttragende Hippster versuchen, ihre weiblichen Begleitungen auf dem Weg zum dauerhaft in einer der alten Hallen eingerichteten Streetfood-Markt mit markigen Sprüchen zu beeindrucken. Neben der Dichte architektonischer Güte aus unterschiedlichen Epochen stechen die Vielschichtigkeit des kulturellen Angebots und die Diversität der anzutreffenden sozialen Milieus ins Auge.

Jenseits des Großstadtschattens


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Helsingør profitiert von der Anbindung an die Metropole Kopenhagen, aber auch von einer klugen Stadtentwicklungspolitik. (Bild: David Kasparek)

Zuletzt hat unter anderem der dänische Regisseur Hans Christian Post mit seinem Film „Best in the World“ auf die Schattenseiten der hierzulande meist durchweg positiv gelesenen Entwicklung Kopenhagens aufmerksam gemacht und die damit verbundenen Verdrängungsprozesse angeprangert. Helsingør nun ist einer jener Orte, die durch den sogenannten Øresundtakt unmittelbar mit der gesamten Region verbunden sind: Alle 15 Minuten fahren die Regionalzüge zum Kopenhagener Hauptbahnhof und von dort über die Öresundbrücke und den Drogdentunnel, die seit 2000 die schwedische Region Schonen mit dem dänischen Seeland verbinden, direkt weiter nach Malmö und Helsingborg. Durch das gigantische Infrastrukturprojekt und die damit einhergehende, enge Taktung des öffentlichen Personennahverkehrs ist die gesamte Region zusammengewachsen. Viele Dänen wohnen in und um Malmö – nicht zuletzt durch die horrenden Mieten in der dänischen Hauptstadt zum Umzug gezwungen –, die nördlichen Teile Seelands und mit ihnen eben auch Helsingør sind durch die verkehrliche Anbindung ebenso attraktiv geworden. Als Wohnort gleichermaßen wie als touristisches Ziel. War die sich westlich an Helsingør anschließende, sanft wellige Landschaft um die Ortschaften Gilleleje, Smidstrup und Rågeleje immer schon als Urlaubsrefugium vor allem bei der wohlhabenden Schicht Kopenhagens beliebt, hat die von Helsingør gen West fahrende Privatbahn Lokaltog die Küste auch für Bahnreisende erreichbar gemacht und die Stadt Hamlets als Regionalzentrum weiter gestärkt. Eine überregionale Planung, gezielte architektonische Setzungen und kluge sozialräumliche Interventionen haben hier dazu geführt, dass die Frage nach Sein oder Nichtsein für den Moment mit Sein im besten Sinne beantwortet werden kann.

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Zugang zum Schloss Kronberg. Ist hier den Wachen der Geist des verstorbenen Königs Hamlet erschienen? In der Gegenwart scheibnt Helsingør von dunklen Schatten verschont. (Bild: David Kasparek)