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Das Schweigen der Steine

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Der Streit um die Umwandlung von Hitlers Braunauer Geburtshaus zu einer Polizeistation klingt schrill, wirkt allerdings seltsam hilflos. Wozu das Gezeter! Wolfgang Kil will an „das Böse“ in diesen historischen Mauern nicht so recht glauben und erläutert seine Skepsis am Fall des Geburtshauses von Rosa Luxemburg.

Italienische Renaissance in Polens tiefstem Osten: Zamość, Großer Markt mit Rathaus. (Bild: Wolfgang Kil)

Braunau, die österreichische Kleinstadt am Inn, ist mal wieder Thema im hiesigen Feuilleton (wir berichteten > Kw 23.2020) . Auslöser war ein Architekturwettbewerb, dessen öffentliche Bekanntgabe die Absichten des staatlichen Eigentümers überhaupt erst publik machte: Ein neugestaltetes Fassadenbild soll die „Schreckensadresse“ schneller aus dem allgemein öffentlichen Gedächtnis tilgen. Das wird nicht funktionieren. Denn so glorios oder alptraumhaft der Nimbus eines Ortes auch aufgeladen sein mag – es sind nicht die Steine, die Geschichten erzählen.

Um diese Behauptung zu illustrieren, sei hier von einem anderen Geburtshaus berichtet – aus dem denkbar gegnerischsten Lager des politischen Spektrums: Wer einmal die wenig bekannten Landschaften Ostpolens entlang der ukrainischen Grenze bereist, sollte auf keinen Fall Zamość verfehlen. Aktuell etwa 60.000 Einwohner stark, war die Stadt zur Blütezeit des polnisch-litauischen Großreiches und auch noch unter den Habsburgern ein wichtiges Zentrum für einst weit ostwärts reichende Territorien. Ihr Gründer und Namensgeber Jan Zamoyski hatte in Padua studiert und ließ sich ab 1578 von dem Venezianer Bernardo Morando eine Idealstadt nach dem dekorativen Regelwerk italienischer Festungskunst erbauen. Die in strenge Raster aufgeteilte Altstadt mit ihrer grellbunt restaurierten Renaissance steht seit 1992 auf der Weltkulturerbe-Liste und gehört inzwischen zu hundert Prozent den Touristen.

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Ladenstraße unter Arkaden zwischen Hauptmarkt und Kathedrale. Hinter der heute hellblau getünchten Fassade wurde Rosa Luxemburg geboren. (Bild: Wolfgang Kil)

Für speziell Belesene bietet die südländische Stadtschönheit aber noch eine gänzlich andere Sehenswürdigkeit. In der Ulica Staszica, unter den wuchtigen Arkaden zwischen Hauptmarkt und Kathedrale, wurde 1871 im Haus Nummer 37 Rozalia Luksenburg geboren, die als Rosa Luxemburg eine herausragende Rolle in der europäischen, besonders der deutschen Arbeiterbewegung spielen sollte und die als Marxistin, Linkssozialistin, Frauenrechtlerin, Kriegsgegnerin sowie Mitgründerin der Spartakus-Gruppe während der Novemberrevolution 1919 in Berlin ermordet wurde. Eine Linke also, deren Radikalität und Eigensinn selbst den später herrschenden Staatssozialisten nie ganz geheuer war, so dass sich die zuständigen Landesämter in Zamość erst 1979 aufraffen konnten, am Geburtshaus der in ganz Europa verehrten Revolutionärin (und polnischen Jüdin) eine Gedenktafel anzubringen.

Ulica Staszica Nr. 37, heute ein Spielwarengeschäft (Bild: Wolfgang Kil)

Nun haben linke politische Positionen es im postkommunistischen Polen ja noch entschieden schwerer. Insbesondere im Osten, den Kernprovinzen der PIS-Wählerschaft, mag schwärmerische Verehrung für eine sozialistische Ideenkämpferin fast an Landesverrat grenzen, weshalb der neuerdings in Lublin amtierende Woiwode im März 2018 die Gedenktafel entfernen ließ. Was aus schwer erklärlichen Gründen aber unverwischbare Spuren hinterließ: Ganz sicher war die Ladenfront des fraglichen Hauses nach der Tafelbeseitigung neu verputzt und getüncht worden. Aber immer verstanden irgendwelche Nachtgestalten dort sachdienliche Hinweise anzubringen, welche dann stets geflissentlich wieder überstrichen wurden – allerdings nur im Umrissformat der früheren Tafel, und nie so ganz exakt im Farbton der übrigen Wandfläche… Als der Autor dieser Zeilen im Herbst 2019 vor der Adresse stand, prangte da gerade ein frischer Kreidegruß: „Rosa, wir erinnern uns“.

Frischer Kreidegruß: „Rosa, wir erinnern uns!“ (Bild: Wolfgang Kil, 2019)

Also noch einmal: Es sind nicht die Steine, die von irgendwem und irgendwas erzählen. Die Geschichten – und erst recht, sobald es Legenden sind – werden von Erinnerungswilligen zu den jeweiligen Orten getragen. Um sie dort niederzulegen, wie Blumensträuße, Kränze, neuerdings Teddybären. Notfalls auch bescheiden – mit einem Sprayer-Krakel oder dem privaten Vorort-Selfie. Die Mauern, die so vermeintlich kontaminierten, sind da allenfalls Flächen für Projektionen. Der eigentliche Generator weltweiter Gedenkwallfahrten – im Guten wie im Bösen – heißt heute Wikipedia. Der universale Guide, der die Adressen weitersagt.