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Weg damit! Wegen akuter Bedrohungslagen hatte Philipp Dittrich auf drohende (Architektur-)Verluste hingewiesen, denn auch in Berlin wird rasant abgerissen, was bestimmten Planungsstrategien im Weg ist. Wilfried Wang forderte in einem Leserbrief an Marlowes daraufhin eine Differenzierung in der Bestandsbewertung, unter anderem mit ästhetischen Argumenten,1) was wir als Anlass für aktualisierte Bestands- und Erinnerungsthematik aufgreifen.


oben: Mannheim, Collini Center, 2010. Abreißen? In Mannheim formiert sich Widerstand. (Bild: Wiki Commons, Rudolf Stricker)

Diffuse Nachrichten

Zu den guten Nachrichten gehört, dass sich bei geplanten Abrissen mehr und mehr Widerstand formt. Zum Berliner Ludwig-Jahn-Sportpark äußerten sich soeben – am 11. Juni 2020 – der BDA Berlin mit dem BDLA dahingehend, dass der Abriss sofort zu stoppen sei, wobei er seine Position ausführlich auf unterschiedlichen Argumentationsebenen begründet. Für den Erhalt des Jugendzentrums in der Rathenauer Straße wurde eine Petition initiiert, um auch Nutzungskonzepte zu debattieren.2) Die Problematik für das Leben des Bestands charakterisiert sich darin deutlich: Kein Beispiel gleicht dem anderen, aber dennoch verändern sich die Bewertungsmaßstäbe.

Skizzen von gmp für eine Kulturmeile und ein Opernhaus in Frankfurt am Main (Bilder: gmp Architekten)

Skizzen von gmp für eine Kulturmeile und ein Opernhaus in Frankfurt am Main (Bilder: gmp Architekten)

Ein Blick nach Frankfurt drängt sich auf, wo die Stadtverordneten den Abriss der Städtischen Bühnen am Willy-Brandt-Platz bereits beschlossen haben.3) Und flugs eine neue Kulturmeile im Gespräch ist. gmp waren, wie so oft, zur Stelle, als die Stadt sie rief, um die Bilder für neue Bühnenbauten zu liefern – was wir bei Marlowes verfolgen werden.4) Architekten sind ohnehin nicht zimperlich, wenn ihnen von einem zögerlichen Auslober die Entscheidung zugeschoben wird, Bestand zu sanieren oder abzureißen; dann plädieren sie doch recht oft – wie auch im aktuellen Fall Collini-Center Mannheim – für Abriss.

Interessenslagen

Um konkret zu bleiben: Die Kommentare im Baunetz zum Collini-Center in Mannheim (siehe Bild oben) spiegeln einen Ausschnitt der Bandbreite, die in solchen Fällen recht zuverlässig in Erscheinung tritt: Das Collini Center wurde 1971-1975 gebaut, Architekt war Karl Schmucker, nun heißt es Fehlentwicklung, hässlich, geliebtes (Brutalismus-)Mannheim, Geschmacksverirrung – aber es haben sich auch Initiativen für den Erhalt des markanten Gebäudes am Rhein gebildet.5)
Zugegeben, ich bin es leid, kenntnislose, geschmäcklerische, vorurteilsgeprägte Kommentare zu lesen, nachdem seit vielen Jahrzehnten eine Denkmaltheorie erarbeitet worden ist, die stetig in wissenschaftlichem Diskurs und anlässlich jeweils aktueller Fälle aktualisiert wird.6) Und nachdem seit Jahrhunderten Geschichtsschreibung, dann Geschichtswissenschaften, Geschichtstheorie und -philosophie die Genese zeitbedingter Urteile und Einschätzungen über Vergangenes bibliotheksfüllend erörtern – und ebenfalls bis in die Gegenwart aktualisieren.

Generelle Paradigmenwechsel im Bauwesen beeinflussen selbstverständlich die Auseinandersetzungen über den Wert des Bestands. Energie-, Brandschutz-, Ressourcen-Fragen sind pragmatisch zu beantworten – was wichtig ist. Denn allein, was an grauer Energie und Materialwert im Bestand steckt, stellt den Neubau in den Schatten, der in erster Linie ökonomisch im Sinne der Rentabilität glänzt. Darum soll es, weil es von Philipp Dittrich bereits deutlich angesprochen worden ist, hier nicht gehen, sondern um die dezidiert „weichen“ Faktoren, die um das ästhetische Urteil, die Erinnerungskultur und Historizität in der Bewertung des Bestands auftauchen.

Entwurf von schneider+schumacher zur Bebauung anstelle des Collini Centers (Bild und Information: schneider+schumacher)

Entwurf von schneider+schumacher zur Bebauung anstelle des Collini Centers (Bild und Information: schneider+schumacher)

Das ästhetische Urteil

Kommentare, die im Baunetz zu einem belgischen Wohnungsbau verlautbart worden sind, schwanken von „echt schön“ und „at his best“ über „trauriger Bunker“ bis zu „so ein Schrott“. Zum „neuen Lederer“ – der alsbald eröffneten Landesbibliothekserweiterung in Stuttgart – heißt es einerseits: „Der Innenraum erinnert mich an die Zeit meines Studiums. Da hatten wir auch so ein Betonmonster aus den 70er Jahren. Wie kann man sowas heute bauen? Was für ein Mief…“ Andererseits: „zeitlos! …und schön! … sicher eines der besten ‚LRO-Raumkleider'“.7)
Hier manifestiert sich eine Art des ästhetischen Urteilens, die vernünftiger Grundlage entbehrt. In einer freien Gesellschaft darf und muss jeder (fast) alles behaupten können und das Individuum sich bar jeder Wissensgrundlage eine Meinung erlauben. Wir sehen derzeit aber nur zu gut, dass gerade deswegen alles für verbreitete Wissensgrundlagen getan werden muss – auch im Hinblick auf das ästhetische Urteilen.
Das Tückische solchen Urteilens und Meinens findet man in einem Medienformat wieder, das sich großer Beliebtheit erfreut: dem Politbarometer. Da wird beispielsweise in einer Umfrage zum Themenkomplex Corona ermittelt, dass 90 Prozent der Bevölkerung „die eigene Gesundheit nicht gefährdet“ sieht. Dieses Ergebnis hat nichts damit zu tun, wie viel Prozent der Bevölkerung gefährdet sind. Der Erkenntniswert des Politbarometers beschränkt sich darauf, die „Stimmung im Land“ zu spiegeln. Auf solchen Erkenntnissen beruht jeglicher Populismus, auch jener, der sich im anmaßenden ästhetischen Urteil manifestiert. Der Wankelmut im ästhetischen Urteilen und die Relevanz der dabei erkennbaren, persönlichen Blickwinkel werden völlig ignoriert und viel zu oft und bequem einer „Teilhabe des Bürgers“ an der Gestaltung seiner Umwelt untergeschoben. Architektur- und Stadtfragen müssen dagegen – auch in ästhetischen Belangen – auf einer überindividuellen Ebene verhandelt werden, die das „populistische Luder Zeitgeist“ in seine Schranken weist.8)

Die ästhetische Umbewertung ganzer Epochen kennzeichnet die Architekturgeschichte seit jeher. Sonst gäbe es keine barockisierten gotischen Kirchen, keine Neogotik, keine „Wiederentdeckung“ der Architektur der 1950er Jahre. Sonst wären in den Gründerzeitbauten die Stuckdekore nicht mit Furor erst abgeschlagen, dann aber ­ in Styropor-Versionen aus dem Baumarkt wieder angepappt worden.

Als zeitgeistig lassen sich auch Argumentationsmuster analysieren, wenn beispielsweise in politischen Umbruchzeiten oder aus Blickwinkeln politischer Deutungshoheit von Architektur geredet wird, die einer bestimmten „Ideologie“ zuzuordnen sei. Pfui, „ideologisch“ darf Architektur nicht gerechtfertigt werden! Aber man zeige mir eine einzige Architektur, hinter der keine „Ideologie“ ausgemacht werden kann. Immer und überall wird intentional gebaut, abgerissen, umgebaut. Diese Intentionen mit „ideologisch“ abzukanzeln, macht es jenen zu einfach, die sie, ihre Intentionen, nicht offenbaren möchten.

Die Aufgabe der Denkmalpflege als Kulturwissenschaft und -bewahrerin ist es, Bausubstanz genau vor solchen Urteilen und Intentionen generell und erhaben über die Winkelzüge zeitgeistiger Engstirnigkeit zu schützen, zumal die Halbwertzeit des ästhetischen Urteils erschreckend kurz und kürzer wird. Das Dilemma bleibt, dass die Bedeutung der real erhaltenen Bausubstanz denkmalrelevant ist, was den Denkmalpflegern die Bezeichnung „Substanzapostel“ eingetragen hat. Und sie obendrein in weitsichtigen Entscheidungen einschränkt – wie aktuell bei der Villa Poelzig in Berlin.9)

Entwurf für den Um- und Erweiterungsbau von Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn von marte marte Architekten

Entwurf für den Um- und Erweiterungsbau von Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn von marte marte Architekten

Die Erinnerungskultur

Wolfgang Kil macht nun in seinem bereits angesprochenen, jüngsten Aufsatz über „Denkmalsturz. Gleichgültigkeit. Kunstgeschichte“ ausgerechnet den Zeitgeist, „das populistische Luder“, als Mitstreitenden in allen Debatten aus, die dezidiert auf Architektur und ihren Erinnerungswert ausgerichtet sind. Harald Bodenschatz hatte deswegen 2019 eine europäisierte Erinnerungskultur eingefordert, was insofern eine Art Befreiungsschlag wäre, als dass Nationalismen damit rechtfertigender Boden entzogen wäre.10) Denkmalstürze, wie sie derzeit weltweit an der Tagesordnung sind, lassen diese Forderung umso wichtiger erscheinen.
Akut sei dazu auf eine Groteske zu Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn hingewiesen. Der österreichische Staat hatte die Besitzerin 2017 enteignet, um zu verhindern, das dieses Gebäude zur Pilgerstätte rechtsextremer Gruppen werde. Aber was tun mit dem Haus? Den EU-weit vom österreichischen Innenministerium ausgelobten Umbau- und Ergänzungswettbewerb zur Polizeistation hatten kürzlich Marte Marte Architekten aus Vorarlberg gewonnen. Gegen eine Umnutzung des Hauses spricht sicher nichts, aber die Intention ist grotesk: Dem Gebäude solle dauerhaft sein „Wiedererkennungswert und damit seine Symbolkraft“ genommen werden. So einfach ist das nicht. Der Kunst- und Architekturhistoriker Jürgen Tietz meinte dazu: „Bei Hitlers Geburtshaus geht es in erster Linie noch nicht einmal um Architektur. Es geht um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit: an einem Ort, der tatsächlich weder Täter- noch Opferort ist und dem doch eine historische Dimension zukommt. Hitlers Geburtshaus kann als ein ‚unbequemes Denkmal‘ par excellence gelten, wie es der Denkmalpfleger Norbert Huse einmal bezeichnet hat. Darin, wie mit einem solchen ungeliebten, unbequemen Erinnerungsstachel im Fleisch der Gegenwart umgegangen wird, lässt sich die Haltung einer Gesellschaft zu ihrer Geschichte ablesen.“11) Springer Architekten aus Berlin wurden mit einem Sonderpreis platziert; sie hatten vorgeschagen, das Haus mit Schutt und Erde zu füllen und Bäume darauf zu pflanzen.

Wie weiter?

Was in einem baukulturell erstrebenswerten (Bau-) Alltag nottut, ist vor allem Kontinuität, intelligent und in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs eingebettetes Weiterbauen. Das ist absolut nichts Neues, aber immer wieder einzufordern. Faktisch geht dies ohne Wenn und Aber, wie das hier gezeigte Beispiel in Kaiserslautern beweist.

schneider+schumacher sanierten in Kaiserslautern ein Fassade aus den 50er Jahren in vorbildlicher Weise. (Bild und Informationen schneider+schumacher)

schneider+schumacher sanierten in Kaiserslautern eine Fassade aus den späten 50er Jahren in vorbildlicher Weise. Wendefenster sind denkmalgerecht und nach heutigen energetischen und konstruktiven Anforderungen erneuert. (Bild und Informationen schneider+schumacher)

Es geht aber nicht allein um das Überleben guter Bausubstanz. Auch Bauten, die in ihrer herausragenden Bedeutung für die internationale Architekturgeschichte unumstritten sind, verschwinden. „Icons at Risk“ weist auf die derartige Architekturverluste.

Resümieren wir: Erinnerungskultur im Bereich Architektur und Städtebau ist in einem beklagenswerten Zustand, ein Bezug zu den genannten Geschichtswissenschaften ist nicht ansatzweise zu erkennen. Hier liegt ein Schwarzer Peter sicher bei der Denkmalpflege, die sich mit neuen Strategien mehr Einfluss verschaffen könnte. Ein anderer liegt bei den Universitäten, die in der Architektenausbildung das Fach Geschichte primär anwendungsbezogen, wie ein Nebenfach, aber ohne weiterreichenden, intellektuellen Anspruch behandeln.
Von Vermittlungsaufgaben, die Architekten gegenüber einer sich verändernden, sich überall und auch dreist einmischenden Öffentlichkeit wahrnehmen müssen, wird demnächst die Rede sein.

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Die Casa Sperimentale, 1968-1975 von den italienischen Architekten Giuseppe Perugini, Uga De Plaisant, Raynaldo Perugini in Fregene gebaut, ist vom Abriss bedroht. Weitere Beispiele sind bei Icons at risk zusammengestellt.

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1) Wilfried Wang, Leserbrief an Marlowes vom 13. Mai 2020:
„Nicht alles, was in den letzten Jahrzehnten errichtet wurde, hat es verdient, erhalten zu bleiben. Neben der umfassenden, tiefgreifenden qualitativen Bewertung von Bauten dürfen auch subjektive Kriterien hinzukommen. Im Falle mancher von einer jüngeren Generation von Architekturkritikern aus meiner Sicht ideologisch gefeierten undifferenzierten Befürwortung aller Bauten, die irgendwie unter der Rubrik “Brutalismus” subsumiert werden könnten, fehlt die Auseinandersetzung mit der öffentlichen und fachlichen Rezeption. Hier wird ebenso breit das Wort für eine Gruppe von Bauten ergriffen, die einzeln betrachtet unterschiedliche Bewertungen erfahren würden. Es gibt leider viele gebaute Fehler aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gibt viele wirklich hässliche Bauten, die unter der Rubrik Brutalismus geführt werden. Darunter auch Bauten, die menschenverachtend sind. Wer diese Menschenverachtung letztlich zu verantworten hat, ist eine andere Frage, aber Architekten sind daran nicht unbeteiligt. Wo bleibt also die differenzierte Diskussion? Wo die Stellungnahmen der für die Abrisse Verantwortlichen?“

2) https://www.bda-berlin.de/2020/06/abrissplanungen-im-friedrich-ludwig-jahn-sportpark-sofort-stoppen/

3) Roland Burgard, seit 1962 in Frankfurt am Main und von 1977 bis 1988 ebenda Leiter des Hochbauamtes, sagte dem SWR am 28.5.2020, es werde mehr und mehr abgerissen, und die Stadt sei an vielen Stellen nicht wiederzuerkennen. Zudem sei das Bühnenhaus zu guten Kosten zu sanieren. Eine Initiative setzt sich auch hier für den Erhalt ein. (http://zukunft-buehnen-frankfurt.de/) Zu den möglichen Neuplanungen für Oper und Theater zeigt das DAM ab 20. Juni eine Ausstellung dazu, wir werden berichten.

6) Dass die Denkmalpflege in Theorie und Praxis in einem disziplin-internen Dauerdiskurs steckt, versteht sich wissenschaftsethisch von selbst. Auch die Architekturgeschichtsschreibung hinterfragt ständig ihre Kanonisierung. Grundlegend: Wolfgang Kemp: Architektur analysieren. München 2009

7) https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Erweiterung_der_Wuerttembergischen_Landesbibliothek_in_Stuttgart_von_Lederer_Ragnarsdottir_Oei_7283538.html?backurl=https%3A%2F%2Fwww.baunetz.de%2Fmeldungen%2Findex.html&action=kommentieren

8) Wolfgang Kil: Denkmalsturz. Gleichgültigkeit. Kunstgeschichte. (Der Beitrag zum Umbau der Kunst-Uni Linz wird im Herbst bei Park Books, Zürich, erscheinen. Ich danke dem Autor für die Vorab-Lektüre.)

9) „Der „Grad der authentischen Überlieferung“ sei zu stark reduziert, „um noch als Denkmal gewertet zu werden.“, siehe der Beitrag von >>> Philipp Dittrich

10) Harald Bodenschatz: Erinnerung im Umbruch. Über den Umgang mit dem Erbe der Diktaturen in Europa. In: Bauwelt 23.2019. Bodenschatz berichtet von Beispielen aus Portugal, Spanien, Italien, Russland und Deutschland und verweist auf internationale Initiativen. https://www.coe.int/en/web/cultural-routes/atrium-architecture-of-totalitarian-regimes-of-the-20th-century
Zum weltweiten Schleifen von Statuen durch Rassiten siehe Alexander Menden: Der Dominoeffekt. In: Süddeutsche Zeitung, 12. Juni 2020.
Zur Erinnerungskultur im Zusammenhang Kolonialgeschichte: Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt? München, 2019

11) Jürgen Tietz: Unbequemes Denkmal. In: Tagesspiegel, 15.6.2020 (https://www.tagesspiegel.de/kultur/umbau-von-adolf-hitlers-geburtshaus-unbequemes-denkmal/25914870.html).

Gerhard Matzig: Bis zum Vergessen zeitlos. In: Süddeutsche Zeitung, 9. Juni 2020 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/hitler-geburtshaus-braunau-1.4930735)