Ein Merksatz für alles, was sich in Berlin ereignet, vor allem, wenn der Status quo keine Akzeptanz findet, stammt aus der Polemik „Berlin – ein Stadtschicksal“ des Kunstkritikers Karl Scheffler (1869-1951). Er fand Berlin unfertig und hässlich und gab der Stadt mit auf den Weg, sie sei „ (…) dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“. Das war 1910. Zwei Weltkriege und danach den Kalten Krieg später bleibt vieles: beim Alten.
Tatsächlich besitzt Berlin bei aller oberflächlichen Nervosität eine unausrottbare Trägheit. Es ist die Koketterie mit der Nachlässigkeit, die als Avantgarde kultiviert wird. Das lehrt uns eine Tour durch die Szenelokale. Natürlich nicht am Ku’damm oder Unter den Linden, sondern zwischen Schlesischem Tor und Friedrichshain. Hier hat die Kneipendichte zwar zugenommen, aber es blieb alles, wie man es seit Jahrzehnten kennt. Wenn man ein florierendes Ausflugslokal eröffnen will, heißen die drei Grundregeln, die man gut lesbar ausschildern muss: Busse willkommen! Durchgehend warme Küche! Draußen nur Kännchen!

Berlin – beständig im Retro-Look, hier im Café Tante Emma (Bild Homepage)
arm + retro = sexy?
Die ungeschriebenen Gesetze für ein Szenelokal heißen: Putz abschlagen, Möbel vom Sperrmüll holen, satte Musikanlage installieren. Und schon brummt der Laden. Zwar unterscheidet sich das Lokalkolorit, je nachdem, ob man an den Wänden noch Walzenmuster aus der Vorkriegszeit oder Plastefurnier aus volkseigener Produktion belassen hat und wie nachlässig das abgebrochene Mauerwerk durch Halt gebende Betonpfeiler ersetzt wurde, aber mit den wahllos zusammengesuchten Tischen, Stühlen, Leuchten wird doch eine heimelige Uniformität erreicht. Meinte Wowereit das mit arm aber sexy? Wichtig ist, das Mobiliar nicht aufzuarbeiten oder als ironische Trouvaille neben neuem Design zu platzieren. Alles ist ernst gemeint, what you see is what you get. Stahlrohrstuhl aus der Milchbar neben braunem Polstersessel aus widriger Zeit, man hat die Wahl.
Smartphones und second hand
Das Publikum ist ja auch nicht uniform. Da sitzen vier mittelalte Frauen wie aus der Lindenstraße an einem Nierentisch und stochern in exotischen Cocktails, zwei andere könnte man für Studienrätinnen halten, die sich bei einer Latte über den Digitalpakt austauschen. Ein wenig erinnert das Lokal an eine Wärmestube. Erst vor Mitternacht drängt junges Volk herein. Burschis mit Wollmützen, Mädchen mit zerrissenen Jeans oder in schwarzen Röhren. Die Kleidung entspricht einheitlich der Innenarchitektur: Schichten, irgendwie übereinander geworfen und geschlungen, zu Warmes wird auf den Lehnen abgelegt. Die Füße stecken in Sneakers oder glänzenden Schnürstiefeln. Einige Frauen sind sorgfältig geschminkt, rote Lippen, schwarz lackierte Nägel, sonst gibt es keine Indizien übertriebener Körperpflege oder Markenbewusstsein. Aber Smartphone und Tablet sind die obligaten Begleiter.
Das passt. Auch das Etablissement hat anständig in Technik investiert, Boxen groß wie Kühlschränke. Manchmal sorgt ein DJ für die Mischung, sonst läuft das Programm als Laptop-Potpourri. Es sind keine erkennbaren Titel, sondern endlos hetzende Harmoniefetzen, die ohne Unterbrechung jeden Winkel im Raum erreichen. Trotz der merkbaren Monotonie prägt sich keine Melodie ein, nur zischende Perkussion. Ob das House ist, fragen wir einen der Bediener, ein kräftiger Hüne, der aussieht wie die Bösewichte in den Bondfilmen. Er versteht das als Kritik und erklärt uns, wir seien hier in einer Lounge, einer Bar. Aha. Ein zweiter Versuch bei seinem Kollegen, er ist noch dicker. Man muss etwas schreien. House? Er schüttelt den Kopf. Elektro, das hat ein Künstler für uns zusammengestellt, läuft nur hier. Ach so. Aber drei Häuser weiter hat es sich genauso angehört.

Café-Bar Wendel in der Schlesischen Straße (Bild Homepage)
Die Musik ersetzt die Architektur. Man muss nichts mehr physisch herstellen oder hinstellen. Eigentlich alles sehr nachhaltig. Kein Ausbau, keine Anschaffung, keine Farbe nötig. Nicht mal Heizung. Geräusch statt Gestaltung.
Ich glaube, Arno Brandlhuber hat sich hier für seine Antivilla inspirieren lassen.