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Stilkritik (65) | Der Begriff „Wissensgesellschaft“ geistert als Marketing-Slogan von Politikern, Universitätsrepräsentanten und Konzernstrategen durch die Öffentlichkeit. Aber was nützt welches Wissen in welchem Zusammenhang? Was unterscheidet Wissen von Bildung in der Architektur?


oben: Stadtbibliothek Stuttgart (Architekt: Eun Young Yi, Bild: Wilfried Dechau)


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Scolaren – Sinn und Zweck der Wissensvermittlung begleiten die Menschheitsgeschichte (Bild: Wikimedia free)

Schöpferische Köpfe

Den Nachbartisch im Arbeitsraum der Universität beanspruchte Hannes. Wenn es ums Entwerfen ging, spannte er sorgsam das Papier auf, brachte Winkel und Reissschiene in Stellung und spitzte mit großer Sachkenntnis den TK-Stift. Dann saß er wie versteinert aufrecht einige Minuten vor dem leeren Blatt Papier, sprang plötzlich auf und meinte, er wisse noch nicht genügend über die Aufgabe, verließ den Raum und eilte in Bibliotheken und die Fachbuchhandlung. Nach Stunden oder auch Tagen kehrte er zurück, und die Aufführung begann und endete in derselben Art und Weise.

Stuttgart, Landesbibliothek (Bild: Ursula Baus)

Stuttgart, Landesbibliothek, 1970 nach einem Entwurf von von Horst Linde fertiggestellt (Bild: Ursula Baus)

Ich kannte niemanden, der so viel Wissen in seinem Kopf speicherte wie mein Tischnachbar. Ob Geschichte, Naturwissenschaften, Literatur: Was immer man ihn fragte, die Antwort kam prompt. Der Rat, den Friedrich Schiller seinem unter Schreibhemmung leidenden Freund Christian Gottfried Körner (1756-1831) gab, kannten wir damals nicht. Vermutlich hätten wir sonst das Zitat auf sein aufgespanntes Blatt geschrieben: „Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen däucht mir, hat der Verstand seine Wachen von den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein und alsbald erst übersieht und mustert er den großen Haufen.“ (Brief von Schiller an Körner vom 1. Dezember 1788, Seite 381, Berlin, Verlag von Veit und Comp., 1847).

Der Weg zum Generalisten

Wissen sind Stellen im Nirgendwo, ungerichtet ohne Orte, ohne Wege, Straßen oder Plätze. Wem es gelingt, diesen Punkten einen Ort zuzuweisen, sie mit anderen zu verbinden, daraus neugierig andere Orte zu entdecken:  Von dieser Person kann man sagen, sie sei gebildet. Bildung wäre der Darstellung eines neuronalen Netzes ähnlich, sie kann wachsen, aber auch schrumpfen, wenn sie vernachlässigt wird.

L'architettura di Leon Battista Alberti, Ausgabe von 1565 (Bild und Online-Version >>>) https://mostre.sba.unifi.it/tesori-inesplorati/it/228/l-architettura-di-leon-battista-alberti)

L’architettura di Leon Battista Alberti, Ausgabe von 1565 (Bild und Online-Version >>>)

Leon Battista Alberti schreibt, die Beherrschung der berechenbaren Dinge, als da sind die technischen, heute auch die ökonomischen und ökologischen Grundlagen, mache noch lange nicht einen guten Architekten aus. Es sei vielmehr die Bildung, die, aufgesattelt auf die quantitativen Notwendigkeiten, die Voraussetzung dafür seien, sich Architekt (oder Architektin) nennen zu dürfen. Er, Alberti selbst, kann das von sich behaupten: Studierter Kirchenrechtler, Schriftsteller, Mathematiker, Kunst- und Architekturtheoretiker und auch Architekt, kurz, ein „uomo universale“.

Thomas Jefferson war nicht nur der dritte Präsident der Vereinigten Staaten; bewandert war er in der Archäologie, der Technik und der Physik, und er war auch ein hervorragender Architekt, der die Universität von Charlottesville und sein Wohnhaus Monticello gründete und baute, die heute zum Weltkulturerbe zählen. Gerne wird in diesem Zusammenhang auf Ludwig Wittgenstein verwiesen. Heute bezeichnen wir Architekten als die letzten Generalisten, allerdings ohne damit die Mehrfachbegabung oder gar die Bildung als Voraussetzung für den Beruf zu meinen.

1803_KnowledgeWissen:Praxis? Theorie?

Wer sich heute Architektin oder Architekt nennen darf, braucht andere Voraussetzungen, um der Zunft angehören zu dürfen. Studium und zweijährige Praxis, Punkte in Fortbildungen, die mit dem Begriff des Bildens und damit der Bildung nichts gemein hat. Wer die Programme von Fachhochschulen und Universitäten durchforstet, sieht sich mehrheitlich einem Angebot gegenüber, das durch Wissensvermittlung geprägt ist. Doch, ein bisschen Kunst hier und da, aber ansonsten konzentriert sich die Lehre überwiegend auf einen erlernbaren Kanon. Für Universalgelehrte, die jenseits der berufsbezogenen Fächer zum Denken und Handeln anregen, die Fantasie fördern, Neugier auf die Entdeckung des erwähnten Netzes vermitteln, gibt es so gut wie keine Lehrstühle. Musik, Literatur, Theater und vieles mehr? Sesshafte sind das Ziel der sogenannten Bildungseinrichtungen, nicht Reisende.

Missverständnisse zur Ökonomie

Mag das nicht ein Grund dafür sein, dass die Gebäude, die uns umgeben, in der Mehrzahl vom Wissen um die technischen Grundlagen und den ökonomischen Werten geprägt sind? Dass Architektinnen und Architekten nicht für die Schönheit bezahlt werden, also das, was früher einmal als Baukunst zählte, sondern für die termingerechte, fehlerfreie und kostentreue Errichtung ihr Honorar erhalten? Und dass die juristische Auseinandersetzung darüber zum festen Bestandteil des Planens und Bauens geworden ist? Sind die Horden von WDVS-Kisten, die die neuen Wohngebiete ausmachen, die Einkaufszentren, die dem Einzelhandel und damit den Innenstädten den Garaus machen, die landschaftszerstörenden Verteilerzentren, die Bürolegebatterien, eingeschlossen die gestaltungsfernen  Verkehrsanlagen nicht auch Ausdruck eines eklatanten Missverständnisses von Wissen und Bildung?

Es sind nicht die Architektinnen und Architekten, denen man die Langeweile und durchökonomisierte Architektur anlasten kann. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das sich in dem Bauen von heute widerspiegelt. Für die Errichtung der Schlüterfassade beim Berliner Schloss fand man offensichtlich das Geld. Die Befürworter sprachen der modernen Architektur eine ähnliche Qualität ab. Was aber, wenn wir bereit wären, einen ähnlichen Quadratmeterpreis für die Fassaden auszugeben, die wir heute planen und bauen?  Wir leben in einem der reichsten Länder dieser Erde. Was bleibt von der Architektur, von den gedämmten Sparbüchsen, mit deren Baumängel sich unsere Nachfahren herumschlagen müssen?

Empathie

Empathie ist ein Bestandteil von Bildung. Wissen hat kein Gefühl. Nur wer Bildung hat, weiss den kategorischen Imperativ für Architekten zu beherzigen: Baue nie jemand etwas vor die Nase, das Du nicht selbst vor die Nase gebaut haben willst.
Thomas Jefferson war unbestreitbar ein durch und durch gebildeter Mensch. Irgendwo habe ich gelesen, er sei der Meinung gewesen, dass man zwischen fünf und sieben Prozent mehr Geld zum Zwecke einer schöneren Architektur ausgeben möge, weil sich nach Jahren die investierte Summe um das drei bis vierfache vermehre.  Alberti, wie vielen anderen Architekten bis ins neunzehnte Jahrhundert war bewusst, dass sie selbst die Fertigstellung ihrer Bauten nicht erleben würden. Heute bekommen viele Investoren das Fracksausen, wenn ihre Gebäude nicht innerhalb kürzester Zeit errichtet und abgeschrieben sind. Es sei denn, es handelt sich um Bahnhöfe oder Flughäfen. Aber das hat zuerst etwas mit mangelndem Wissen oder mit dem „Nicht-wissen-wollen“ zu tun.

Zum Jahresauftakt thematisert die Bauwelt "Wissensstädte". Früher sprach man von Universitäts- oder Industriestädten, wobei die Präsenz entsprechender Einrichtungen und Unternehmen Anlass dafür gab. Semantisch ergibt der Begriff "Wissensstadt" keinen Sinn.

Zum Jahresauftakt thematisert die Bauwelt „Wissensstädte“. Früher sprach man von Universitäts- oder Industriestädten, wobei die Präsenz entsprechender Einrichtungen und Unternehmen Anlass dafür gab. Semantisch ergibt der Begriff „Wissensstadt“ so wenig Sinn wie die meisten Begriffe des Marketings.

Die Universitätsstadt Heidelberg hat sich für die IBA den Spruch „Wissen schafft Stadt“ gegeben. Wissen werde in den Städten des 21. Jahrhunderts immer mehr zur zentralen Ressource, liest man in der Werbung dafür. Noch nie war so viel Wissen in der Welt. Der Tischnachbar im Zeichensaal zapfte heute seinen Computer an, in dem unendlich viel Wissen gespeichert ist. Aber (noch) ist der Computer riegeldumm. Wissen ist die Grundlage für Bildung. Wissen schafft deshalb noch lange keine Architektur und schon gar keine Stadt.