Wiedersehen mit Heinrich Tessenow (1876-1950): Eine Dresdener Ausstellung bietet erfrischende Blicke auf das Werk eines Architekten, der zu der großen Gruppe der bekannten Unbekannten in der Architektur des 20. Jahrhunderts gehört.
Dunkel erinnert man vielleicht, dass er etwas mit der Gartenstadt Hellerau zu tun hatte und zum Hausbau publizierte. Beim aufgebauschten „Zehlendorfer Dächerkrieg“ galt er in den zwanziger Jahren mit der Siedlung „Am Fischtalgrund“ als Gegenspieler zu Bruno Tauts „Onkel-Tom-Siedlung“. 1930 gestaltete er schließlich Karl Friedrich Schinkels Neue Wache Unter den Linden zur „Gedächtnisstätte für die Gefallen des Weltkriegs“ um. Bei einer erneuten Umgestaltung der Wache bot sich mir 1993 die Gelegenheit, mich zum Ende meines Kunstgeschichtsstudiums intensiver mit Tessenow zu befassen.
Zu jener Zeit war Tessenows Gestaltung der Wache lediglich rudimentär erhalten. Stattdessen brannte nach einem Entwurf von Lothar Kwasnitza seit den 1960er Jahren im Zentrum des Raums eine ewige Flamme in einem Glaskubus. An der Rückwand prangte das Staatswappen der untergegangenen DDR. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde kontrovers über die Zukunft der Neuen Wache als Gedenkort diskutiert. Letztlich wurden Glasprisma und Staatswappen entfernt und der Raum dem Zustand von 1930 angenähert. Aber eben nicht ganz. Tessenows ausgeführter Entwurf hatte vorgesehen, Schinkels Einbauten zu entfernen und in dem leeren Raum einen mächtigen schwarzen Granitblock aufzustellen. Darauf lag ein bronzener Eichenkranz von Ludwig Gies, darüber befand sich eine runde Dachöffnung. So konnte der Himmel sein Licht, aber auch seine Tränen in die Gedenkstätte werfen. Das vielleicht schönste Detail dieser Raumschöpfung aber war der wunderbare Mosaikboden aus Basaltsteinen. Anstelle von Monolith und Kranz hockt heute eine ins Monumentale vergrößerte Skulptur „Mutter mit Sohn“ von Käthe Kollwitz auf dem Boden der Wache.
Tessenow, in der Weimarer Republik Hochschullehrer an der Technischen Hochschule Berlin, hatte sich in dem Wettbewerb für die Umgestaltung der Wache gegen prominente Mitbewerber durchgesetzt. Dazu gehörten sein Kollege an der TH, Hans Poelzig, sowie Ludwig Mies van der Rohe. Tessenows Erfolg war erstaunlich. War er doch kein ausgemachter Denkmalexperte. Sein zentrales Thema war „Hausbau und dergleichen“ (1916), wie der Titel eines seiner Bücher lautete.
Der Besuch der Dresdner Tessenow-Ausstellung, die noch bis Mai 2023 im Stadtmuseum Dresden gezeigt wird (https://www.stmd.de/tessenow), bietet die Gelegenheit zu einer fulminanten Wiederbegegnung mit dem Architekten, die in Teilen einer Neuentdeckung gleichkommt. Auch wenn die Dresdner Schau leider nicht die gleiche sinnliche Gestaltung und Umfänglichkeit bietet, wie die erste Station im schweizerischen Mendrisio (https://www.heinrich-tessenow.ch/), erweist sie sich als unbedingt sehenswert.
Begonnen hat mein Ausstellungsausflug nach Dresden mit Altvertrautem: Einem winterlichen Spaziergang rund um Tessenows Hellerauer Festspielhaus, an dessen Umfeld gefühlt seit dem Abzug der russischen Truppen gebaut und gebastelt wird. Mit der „Bildungsanstalt Dalcroze“ für Musik und Rhythmus in Hellerau und ihrem prägnanten Portikus war Tessenow 1911 schlagartig bekannt geworden. Von dort ist es nur ein kurzer Spaziergang zu Tessenows feinem Doppelhaus am Heideweg in der Gartenstadt Hellerau. Besonders ins Herz geschlossen habe ich seit Jahren das kleine Pförtnerhaus, das gleich neben dem Doppelhaus entstand. Auf quadratischem Grundriss errichtet, von einem Pyramidendach bekrönt, aus dem mittig der Schornstein wächst. Mehr braucht es nicht zum gebauten Glück. Ein bisschen Erinnerung an die Revolutionsarchitektur, etwas Goethes Gartenhaus, ein Hauch von Adalbert Stifters Rosenhaus. Fertig! Tessenows innerer Bezug zu Stifter bewegt auch den Zürcher Architekten Martin Boesch, Kurator und Spiritus rector der verdienstvollen Ausstellung wie des umfangreichen Buches über Tessenow, das im Frühjahr in der Edition Hochparterre erscheinen wird (https://www.heinrich-tessenow.ch/katalog).
Tessenow baute nicht nur einfach. Er baute auch mit einer verzaubernden Sinnlichkeit. Und so erinnert der Geist seiner Werke nicht von ungefähr an Stifters „sanftes Gesetz“, wie er es im Vorwort der „Bunten Steine“ formulierte. Dabei fällt auf, dass der fast biedermeierlich anmutende Duktus von Tessenows feinen Zeichnungen in der gebauten Übersetzung stets spröder, sachlicher ausfällt. Darin findet sich ein nicht unwesentlicher Unterschied zu den Arbeiten von Richard Riemerschmid, auf dessen Entwurf die Anlage der Gartenstadt Hellerau zurückgeht. Mit seiner Siedlung hat er einen der schönsten und vorbildlichsten Orte der frühen Moderne in Deutschland geschaffen hat. Fraglos welterbewürdig.
Der Weg von Martin Boesch zu Heinrich Tessenow führte im Frühjahr 1996 über die Erkundung der kläglichen Überreste von Tessenows ehemaliger Landesschule in Klotzsche (1925/27). In der Ausstellung erfährt sie in einem großformatigen Modell eine Wiederauferstehung. So wird es möglich, ein Gefühl für die Raumwirkung des Bauwerks zu erhalten. Das bei der Landesschule formulierte Thema der Pergola, des umgrenzten und zugleich offenen Raums zwischen Landschaft und Haus, gehört zu den Leitmotiven in Tessenows Werk. Etwa bei dem (temporären) Pavillon der Gartenausstellung 1926 in Dresden. In geradezu genialer Weise entwickelte Tessenow dieses Konzept im nicht ausgeführten Entwurf einer Versammlungshalle für das „Kraft durch Freude“ („KdF“)-Seebads Prora auf Rügen (1936) weiter. Anstelle einer überdimensionierten NS-Monumentalarchitektur, wie sie sein Schüler, der NS-Kriegsverbrecher Albert Speer zu realisieren pflegte, schwebte Tessenow ein offener Stützenwald als Halle vor. Ein solches Bauwerk hätte die baumbestandene Umgebung nicht negiert, sondern wäre in einen intensiven baulichen Dialog mit ihr getreten. Zugleich weist der von Boesch als „ikonisch“ hervorgehobenen Tessenow-Entwurf für Prora auf spätere Stützenwälder der Architekturgeschichte voraus, wie sie David Chipperfield in seiner Installation in der Neuen Nationalgalerie von Mies van der Rohe vor deren Umbau verwirklichte oder wie er bei Christian de Portzamparcs Philharmonie in Luxemburg anzutreffen ist.
Den Höhepunkt von Tessenows Bauen in (und mit) der Landschaft bildete Haus Böhler (1916/18), das in der Ausstellung wiederum in einem großformatigen Modell zu erleben ist, begleitet von einem Film und Materialresten. Wurde das bei St. Moritz im Oberengadin errichtete Haus doch 1989 in einem Akt verwerflichster baukultureller Barbarei abgerissen. Dabei war schon damals klar, dass Haus Böhler als Paradebeispiel für ein neues Bauen in den Bergen und mit der Landschaft zu gelten hat. Ja, man ist versucht, das Haus mit seinen beiden hohen Holzstützen am Eingang, seiner organischen Grundrissentwicklung und der lokalen Materialität als eine Vorstufe zu den späteren Bauten des großen Rudolf Olgiati zu sehen.
Tessenow entwarf nicht nur Häuser sowie (Klein-) Städte, sondern dachte auch im großen Maßstab. So beteiligte er sich 1925 an dem Ideenwettbewerb für ein – wiederum nicht realisiertes – Hochhaus des Dresdner Anzeigers. Er entwarf Möbel und publizierte eifrig. All dies lässt sich in der Ausstellung exemplarisch nachvollziehen. Als Hochschullehrer besaß er zudem einen tiefgreifenden Einfluss auf die nachfolgende Architektengeneration. Eine Anekdote hat der Hamburger Architekt Bernhard Winking von seinem Lehrer Godber Nissen überliefert, der bei Tessenow studiert hatte. Auf die Frage eines Studenten an Hans Poelzig, Tessenows Kollege an der TH-Charlottenburg, ob er denn statt großartiger Festspielhäuser und Theater nicht auch einmal Wohnungsbau anbieten wolle, antwortete Poelzig: „Das ist mir viel zu schwierig. Da gehen sie lieber zu Tessenow.“