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Fragen zur Architektur (39) | Die Wirklichkeit der Städte ist geprägt von starken wirtschaftlichen Interessen, von der Pfadabhängigkeit der Unternehmen, von regulierten und hierarchisch strukturierten Planungsabläufen. Gelungene Experimente entwickeln in dieser Wirklichkeit keine Breitenwirkung. Aber auch das Entwerfen muss wieder aufgewertet werden, gerade im Bereich des Städtebaus. Die Grenzen zwischen Architektur und Städtebau müssen durchlässiger werden. Dass das geht, zeigen die Entwicklungen der Architektur.

Es ist ein alter Hut in der Szene der Stadtplanung und des Städtebaus, die Maxime, man solle das Haus von der Stadt her denken, sprich entwerfen: erst die Stadt, dann das Haus. Man könnte von einer jener unhinterfragten Gewissheiten sprechen, von denen man bezweifeln muss, dass sie Gewissheiten sind, eben weil sie nicht mehr hinterfragt werden. Das Haus hat sich dem Kontext zu fügen und der umgebenden Bebauung anzupassen. Es solle beachtet werden, wie sich durch die Häuser die Außenräume bilden, und außerdem sei Architektur eine öffentliche Angelegenheit, der man nicht aus dem Weg gehen könne, und deswegen dürfe man auch nicht von ihr belästigt werden.

Das alles ist nicht falsch, aber eben auch nur zum Teil richtig. Ob eine Häuserreihe dann als besonders städtisch, harmonisch oder angenehm empfunden wird, hängt nicht von der einheitlichen Traufhöhe ab. Wer wovon belästigt wird, wer sich wo gerne aufhält, wird von unterschiedlichen Personen unterschiedlich gesehen. Das Primat der Anpassung senkt das Niveau des Mittelmaßes immer weiter. Mal abgesehen davon, dass eine Störung die Regel erst sichtbar macht. Und wer entscheidet überhaupt, wer wie sehr von der Regel abweichen darf?


Es hat sich viel geändert


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Ein in Dogmen erstarrter Städtebau hat das Bauen unempfindlich für das Entwerfen gemacht. (Bild: Christian Holl)

Nach inzwischen schon Jahrzehnte währendem Konsens über das vermeintlich richtige Verhältnis von Stadt zu Haus stellen wir fest: Es ist noch viel Luft nach oben. Es gibt die so genannten Wildschweingebiete, aber es gibt auch die Quartiere von derart gediegener Langeweile, dass man inständig darum bitten möchte, doch wenigstens ein bisschen belästigt zu werden. Das mag nicht im Sinne des Erfinders sein, aber es drängt sich dennoch der Verdacht auf, dass sich zuviel Routinen eingeschlichen haben, dass zu sehr vereinfacht wurde, so dass das Bauen unempfindlich gegen das Entwerfen wurde und zu einfach die hinter urbanen Fassaden betriebene Renditeoptimierung schöngeistig bemäntelt werden konnte. Dass man mit Gestaltung unfaire Eigentumsverhältnisse nicht ändert, und dass man die dichte Stadt nicht zum Maßstab schon allein deswegen machen darf, weil damit der Großteil dessen, was gebaut wird, außen vor blieb und allenfalls in kaum mehr erkennbaren Schrumpfversionen einer so genanten europäischen Stadt in den Vororten daher kommt, das kommt alles erschwerend hinzu. Aber nicht nur das.

Viele der inzwischen selbstverständlichen Entwurfsmaximen im Städtebau sehen einen kleinen Ausschnitt der Stadt als Ideal, verweigern Bauformen der Nachkriegszeit die Anerkennung, geben dem kulturellen Wandel zu wenig Raum. Aber wir sind in einer Lage, die sich gegenüber der von vor zwanzig, dreißig Jahren prinzipiell gewandelt hat. Das Abreißen hat, wenn es sie denn je hatte, seine Unschuld verloren: Wir müssen auch stehen lassen, was uns als weniger ansehnlich erscheint und einer großbürgerlichen Urbanitätsgeste zuwiderläuft. Die Eigentumsverhältnisse führen zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen, das Durchschnittsalter steigt, und sichtbare kulturelle Diversität ist Normalität, mit der wir umzugehen noch nicht gelernt haben. Wir brauchen mehr Grün – schon jetzt zeigt sich an Plätzen, dass sie unzureichend gestaltet wurden, weil sie vor 20 oder 10 Jahren entworfen werden: zu wenig Bäume, zu heiß im Sommer. Es ist Bewegung in die vermeintlich festgefügten Gewissenheiten gekommen – gut so.

Da könnte es sich lohnen, die Denkrichtung umzudrehen und zur Abwechslung mal die Stadt vom Haus her zu denken. Und dabei ist nicht gemeint, endlich die Sau rauszulassen, wilde Gestaltungsexperimente zu fordern und exaltierte Fassadenkonstruktionen zu bejubeln. Die aktuelle Architekturdiskussion hat dies ohnehin hinter sich gelassen hat. Es könnte sich lohnen, die in der Architektur diskutierten Entwicklungen darauf hin zu befragen, was sie für die Städte bedeuten: Kreislaufwirtschaft, einfach bauen, neue Wohnformen, Räume für die Gemeinschaft, Prioritäten sind Bestandserhalt und Umbau.


Architektur, eine Kombinatonsaufgabe


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Kulturhuset, Stockholm. Ein aktuelles Beispiel für einen vergleichbaren Gebäudetyp ist die Bibliothek Oodi in Helsinki. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0; Johan Stigholt)

Diese neuen und nicht mehr ganz so neuen Ansprüche an Häuser, die auf dem Markt und im Rahmen geltender Regeln und Gesetze systematisch benachteiligt werden, haben gemeinsam, dass sie die Trennung der Gestaltung von den Nutzenden ebenso wie durch Isolation möglich gewordene Optimierung einzelner Aspekte und Komponenten in Frage stellen. Wenn Häuser stehen bleiben dürfen, und der Zweck, für den sie gebaut wurden, nicht mehr erfüllt werden muss, wird sichtbar, wieviel gewonnen werden kann. Durch Kontraste, Ergänzung, Kombination bekommen Räume neue Qualitäten. Veränderung ist kein Tabu mehr, das die vermeintlich geniale Leistung eines schöpferischen Geistes schmälert. Architektur zu entwerfen heißt nicht mehr auf dem endgültigen und richtigen Zustand zu beharren, sondern Prozesse anzuleiten, Eigenarten von Räumen zu aktivieren, Optionen zu strukturieren. Vielschichtigkeit, Improvisation und Ephemeres gewinnen an Bedeutung, der Beitrag der Nutzenden ist Teil des Entwurfs. Ein Blick auf die großen internationalen Auszeichnungen zeigt, dass selbst dort, wo es um Neubau geht, die große gestalterische Geste eine weniger wichtige Rolle spielt und das Entwerfen als eine Organisation von flexiblen, multikodierbaren Räumen praktiziert wird und dabei nutzungsspezifische und nutzungsneutrale Räumen kombiniert werden. (*)

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Vorzeigebeispiel für Nutzungsmischung, Gemeinschaftsorientierung und Verzahnung mit der Stadt: Das Wohnprojekt Nordbahnhof, Wien, 2013, eins zu eins architektur. (Bild: Christian Holl)

Nutzungskombination und Nutzungsüberlagerung werden größere Bedeutung beigemessen als der Spezialisierung. Wohnraumgemeinschaftsküchen, eine Werkstatt, die auch Proberaum und Partyzimmer sein kann, Aulen in Schulen, die am Abend zu Gemeindesälen und Konzertbühnen, werden, Bibliotheken, in denen gespielt und gewerkt werden kann. In gewisser Hinsicht wird hier der emanzipatorische Impuls vieler Konzepte der Moderne fortgeführt. Multifunktionale Konzepte erleichtern die Parallelität von Familie und Beruf, gestatten es, dass Menschen sich familienübergreifend unterstützen, sie können dazu beitragen, dass soziale Unterschiede überbrückt werden. Auch energetisch kann die intelligente Nutzungskombination sinnvoll sein, wenn Räume, die weniger beheizt werden müssen, entsprechend angeordnet werden, dass sie als Klimapuffer wirken.

Auch konstruktiv sind die Gewissheiten in Bewegung geraten. Modernes Bauen beruht auf der weitgehenden Trennung von Haustechnik und Konstruktion. Die Effizienzsteigerung einzelner Komponenten vor allem in technischer Hinsicht ist bis heute ein Versprechen auf Umweltfreundlichkeit, es wird aber immer fraglicher, ob es eingelöst werden kann. Die Haustechnik ist in vielen Fällen zu unüberschaubaren Ungetümen geworden, der Raum der Haustechnik in einer Schule nimmt den gleichen wie die Aula ein, die Technik funktioniert erst nach Monaten, wenn nicht Jahren. Sie kann nur von hochkompetenten Spezialisten bedient werden. Ein Wechsel von Haustechnikanlagen der letzten Jahre wird uns in naher Zukunft vor große Herausforderungen stellen. Deswegen wird die im „einfachen Bauen“ sektorale Optimierung aufgegeben: Wände werden dicker, damit sie nicht nur tragen, sondern auch geforderte Dämmqualitäten erfüllen.


Neue Nollipläne


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Flughafen Bonames, gtl Landschaftsarchitektur, 2004 (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, S. Kasten)

Vieles davon wird schon eine ganze Weile diskutiert – aber es gewinnt an Dynamik, Aufmerksamkeit und Relevanz. Tatsächlich gibt es auch vergleichbare Projekte auf städtebaulicher Ebene, die weiter forciert werden könnten. Shared spaces, die den Straßenraum anders verteilen, Schulhöfe, die vom Quartier genutzt werden, Konzepte, in denen die Abwärme als Heizungswärme genutzt werden, Freiräume, die bei Starkregen Wasser zurückhalten. Künftig kann darüber aber noch hinausgegangen werden. Wenn der Bestand zur Leitschnur der zukünftigen Stadt wird, dann wird die Fantasie weit mehr herausgefordert. Welche Nutzungen können zukünftig die Mobilitätsräume von heute beleben? Wie knüpfen wir daran Bedeutungszuweisungen, Narrative, damit deren Nutzung als Gewinn gegenüber einer Neuplanung verstanden werden könnte? Der Flughafen Bonames oder zumindest zwischenzeitliche Aktivierung des Raums unter der Straßenbrücke in Stuttgart zeigen, wie es gehen könnte. Ein Kuratieren der Räume – sei es kultureller oder auch ökologischer Art – würde zu einer Aufgabe des Städtebaus. In Zeiten des Bestandserhalts sind dies Kompetenzen, die immer wichtiger werden.

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Aktivieren des Stadtraums als kuratorische Praxis, hier das Beispiel des Österreichischen Platzes in Stuttgart, Stadtlücken e.V. (Bild: Bild: Stadtlücken e.V.)

Mit der Architektur für eine solidarische Gemeinschaft, Häusern für das Quartier, die Bildung, Freizeit und Gemeinschaft miteinander verbinden, mit dem Leitbild der Kreislaufwirtschaft wird auch die Gestaltung der Stadt gefordert – in soziokultureller wie in infrastruktureller Hinsicht. Die Häuser öffnen sich der Stadt, sie haben Bereiche des Übergangs, der Zwischenräume, die gestaltet, geschaffen und kuratiert werden – wie spiegelt sich das in der Stadt?

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Beispiel für den Haustyp „Täglich“: Lina Bo Bardi, SESC Pompéia (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0, paulisson miura)

Wir müssen eine weiterreichende Diskussion über die Qualitäten des Städtebaus führen, die die Frage nach dem öffentlich Raum neu stellt. Es geht dabei nicht allein um das allgemeine und uneingeschränkte Zutrittsrecht, sondern auch um ein Aushandeln von Interessen und geschützten Zugängen für die, die sonst unter der Macht der Mehrheit oder der Mittel zu leiden haben, einschließt. Räume für Kinder und Jugendliche fehlen in einem auf Konsum orientierten Verständnis von Urbanität, das hat die Pandemie gezeigt. Die Idee der Gemeinschaft, die immer auch Ausweich- und Rückzugsräume zur Verfügung stellt, verdient genauer betrachtet zu werden, damit der emanzipatorisch Qualität des Urbanen sich wieder besser entfalten kann.

Dass solche Räume nicht nur im offenen Raum, sondern auch in Häusern zu finden sein können, wurde im kürzlich von Martina Baum und Markus Vogl herausgegebenen Buch „Täglich“ deutlich. Darin wird ein Haustyp vorgestellt, der sich nicht über seine architektonische Struktur, sondern über sein Programm und die Verflechtung im Quartier definiert und sich damit auch je nach Kontext unterschiedlich ausprägen darf. Hier werden die Grenzen zwischen dem Haus und der Stadt durchlässig, und darin zeigt sich, dass sich eine auf eine Polarität von öffentlich und privat allein fokussierte Betrachtung des Städtebaus den Zwischenbereichen verweigert, die entscheidend sein können: Mehrfachbegabungen im Städtebau hießen eben auch, das Denken in scharf voneinander getrennten Komponenten aufzugeben. Es hieße, die Mauern nicht als die maßgeblichen Grenzen des Raums zu verstehen – eine zeitgemäßes Version des Nolliplans würde nicht nur Innenräume aufnehmen, sondern ihn auch anders zeichnen, je nach dem, um welche Menschen es geht. Es geht darum, dass die öffentlichen Räume und die damit verbundene soziale und kulturelle Qualität des Städtischen auf eine Weise diskursfähig wird, die sich von den Konfrontationen zwischen Privateigentum und Allgemeinwohl löst und die vielen Perspektiven der Stadtgesellschaft vermittelt.


Ab in die Region


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Wie können Erfahrungen der Vergangenheit, auch der jüngeren, fruchtbar gemacht werden für einen Städtebau, der die Zwischenräume beachten? (Siedlung Tamriskengasse, Wien, 1990-1992 nach Plänen von Roland Raine errichtet; Bild: Christian Holl)

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Wie kann das Nebeneinander integral gedacht werden? (Bild: Philipp Schwarz)

Für all dies muss gelten, was im Städtebau sonst so selbstverständlich proklamiert wird: dass es sinnvoll ist, sich an gelungenen Vorbildern der Vergangenheit zu orientieren – nun aber mit einem neuen Blick.

Damit würde ein weiterer Schritt getan, der für die Gestaltung der Stadt eine Rolle spielen könnte: Dass die Gestaltung des Raums nicht auf einen Teil beschränkt ist, sondern sich auch die Zwischenräume des Städtischen und die Zwischenstädte zur Aufgabe macht. Eine neue Großaufgabe der Gestaltung wird sich auf Einfamilienhaus- und Gewerbegebiete erstrecken, aber auch, wie die Räume zwischen ihnen gestaltet sind. Die Zwischenräume zwischen Haus und Stadt sind eine unter dem Diktum der Trennung zwischen öffentlich und privat zu sehr vernachlässigte Gestaltungsaufgabe.

Für die Kreislaufwirtschaft, die, ernst genommen, kurze Wege des Materialtransports zur Maxime erheben muss, sind die Flächennutzungen ohnehin kleinteiliger zu organisieren. Im Städtebau der letzten Jahrzehnte schwang immer das Ziel mit, robuste Strukturen zu schaffen, die unempfindlich gegen die architektonische Qualität sind. Das Entwerfen an der Schnittstelle zwischen Haus und Stadt hat darunter gelitten – es muss wieder in Wert gesetzt werden. Der zu erhaltende Bestand ist ohnehin empfindlicher gegenüber Standardlösungen, auch hier wird der Entwurf wichtiger – das gilt auch für den Städtebau. Stadt als eine Schichtung sich überlagernder Nutzungen und Gemeinschaften zu denken und zu gestalten, die sich bis in die Region hinein erstreckt und sich durch die Varianz der Überlagerungen und der Beziehungsgeflechte auszeichnet. Die reaktionsfähig bleibt, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Die Planen und Kuratieren, das Arbeiten mit und für die Menschen nicht als getrennte Aufgaben versteht. Die nicht in Hierarchien denkt. Nicht erst das eine, dann das andere. Sondern: Erst das Haus und die Stadt. Und dann die Rendite. Zum Beispiel.


(*) Preise und Finalisten etwa des Schelling-Architekturpreises, des DAM-Preises, des Mies van der Rohe Award – und nicht nicht zuletzt die letzten Pritzkerpreisträger:innen.

Literaturempfehlungen:
Martina Baum, Markus Vogl: Täglich. Warum wir Öffentlichkeit, öffentlichen Raum und öffentliche Gebäude brauchen. M Books, Weimar, 2022 >>>
Christopher Dell, Bernd Kniess, und Dominique Peck, Hrsg. 2022. Tom Paints the Fence. Re-designing Urban Design. Spector Books, Leipzig 2022 >>>
Hochschule Luzern, Institut für Architektur (IAR) und Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) (Hg.): Vokabular des Zwischenraums. Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten. Park Books, Zürich, 2019 >>>
Stefan Kurath: jetzt: die Architektur! Park Books, Zürich, 2021 >>>
Julia von Mende: Zwischen Küche und Stadt. Zur Verräumlichung gegenwärtiger Essenspraktiken. Materialitäten, Bd. 32, Transcript Verlag, Bielefeld, 2022 >>>