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Stadt lesen, Stadt sehen


Die Räume und Häuser der Stadt zu erkunden, sie wertzuschätzen und zu kritisieren, dazu bedarf es guter Argumente und differenzierter Herangehensweisen. Vier Buchempfehlungen zu Orten und Entwicklungen in Berlin, Offenbach, Saõ Paulo und den Potenzialen der Fotografie.

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Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #9: Am Rand von EuropaCity, herausgegeben von Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer, Yves Mettler. 136 Seiten, 7 Euro
Berlin 2022

Die Europacity in Berlin ist ein Stadtentwicklungsprojekt nördlich des Berliner Hauptbahnhofs. Die Fläche von 40 Hektar wurde durch eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn vermarktet, die das Areal 2007 an einen Großinvestor verkaufte. In der Einleitung der Nummer 9 der »Berliner Hefte zur Geschichte und Gegenwart der Stadt« sprechen die Herausgeber von einer »dröhnenden öffentlichen Lautlosigkeit«: wenig Diskussion, kaum Kritik, geräuschlose Abwicklung eines Fallbeispiels neoliberaler Standortpolitik.

Mit einem Kunstprojekt »Am Rande von EuropaCity« sind 2018 und 2019 neue Sichtweisen und Perspektiven dieses Areal entwickelt worden. Sie thematisieren die Einbindung – oder die fehlende Einbindung – der Europacity in die Stadt, aus städtebaulicher und architektonischer, aber vor allem aus sozio-ökonomischer und kultureller Sicht. Dazu wurden Stadtspaziergänge, Diskussionen, eine Intervention veranstaltet, Interviews durchgeführt – nachzuvollziehen auf der Internetseite des Projekts.

Die Veröffentlichung nun erweitert das Projekt um eine gründliche Aufarbeitung der Geschichte der Europacity (Beitrag von Yves Mettler). Dargestellt wird dabei, wie es zu einer Verschiebung der Nutzungsmischung hin zu einer deutlichen Dominanz der Büronutzung kam, es wird gezeigt, wie die wenigen ambitionierten Wohnungsbauprojekte unter dem Druck der Renditeoptimierungen banalisiert wurden, es wird erklärt, wieso es so wenig öffentliches Interesse an der Zukunft dieser zentralen Fläche gab. Anliegen und Form des Projekts »Am Rand von Europacity« stellt Alexis Hyman Wollf ausführlich vor; es werden außerdem ausgewählte Stimmen aus Interviews und Diskussionen zitiert. Den Abschluss des lesenswertes Bands über diesen exemplarischen Fall neoliberaler Stadtvermarktung ist ein Essay der Politologin und Philosophin Teresa Pullano, die die Europacity in Bezug zu deren Namen und der nationalen und europäischen Politik diskutiert. Pullano deutet die Europacity als Ausdruck einer politischen Situation, in der das europäische Ideal in einer ernsten Krise stecke. Das „Missverhältnis zwischen öffentlichen und privaten Mitteln, zwischen dem Recht auf Stadt und einem weniger entfremdeten Alltagsleben einerseits und der Spekulation mit Kapital andererseits“ versteht sie als eine politische Frage: „Die Logik der Europacity ist äußerst politisch und muss auch politisch gelesen werden.“ Diese Veröffentlichung ist dabei eine große Hilfe.



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ANA – Architektur, Narration, Aktion; Jan Engelke/Lukas Fink/Tobias Fink: Offenbach Kaleidoskop. Geschichten eines Hauses, 192 Seiten, 28 Euro
Spector Books, Leipzig, 2022

Es ist noch nicht lange her, dass Offenbach nicht den besten Ruf hatte. Das ändert sich – nicht nur, weil die direkt an Frankfurt angrenzende Stadt preiswerteren Wohnraum bietet als Frankfurt und die Kreativszene der Stadt ein neues Image verliehen hat. Auch die Sicht auf die Architektur der Stadt hat sich geändert: Einige der stadtbildprägenden Gebäude, allen voran das 1971 fertig gestellte Rathaus, werden wieder respektiert und geschätzt. Einem nicht weit davon entfernten Gebäude, dem Gotha-Haus, ist das Buch des jungen Kollektivs von ANA gewidmet. 1977 wurde das Haus eröffnet, gemischt genutzt mit Wohnungen, Büros, Läden, einem Schwimmbad. Schon damals musste seine collagenhafte Erscheinung auffallen, die expressive Formen und die aus der Konstruktion abgeleitete funktionalistische Sprache der Nachkriegszeit, mit Wellblech bekleidete Flächen und verspiegelte Glasflächen auf eine unkonventionelle Weise kombiniert. Entworfen wurde es von Peter Opitz von Müller und Opitz Architekten.

Das Buch kann man als eine dem Gebäude entsprechenden Darstellung verstehen: Dokumente – Fotos, Pläne, Schriftsätze – werden mit Interviews und aktuellen Fotos kombiniert, ohne dabei einer stringenten oder chronologischen Erzählweise zu folgen. Der erkennbaren Absicht, das Haus als ein Objekt zu verstehen, in dem sich Gegenwart und Geschichte gegenseitig bedingen, ineinander verweben, sich überlagern, folgen die Autor:innen auch auf der Textebene: Interviews mit dem Architekten Peter Opitz, Bewohnenden, Menschen aus der Stadtverwaltung und Wissenschaftlerinnen folgen in bunter Mischung aufeinander. Darin erschließt sich die Geschichte des Hauses, das seine Gestalt Änderungen im Planungs- und Bauprozess verdankt, über deren Konsequenzen der Architekt nicht glücklich war, darin wird die Wertschätzung der Bewohnerschaft deutlich.

Neben den Interviews sind die Fotos von Tobias Fink Hauptbestandteil des Buchs. Sie folgen nicht den üblichen Gepflogenheiten der Architekturfotografie, sondern zeigen das Haus als Teil des Kontextes und als eines in Gebrauch. Am Ende der Einleitung steht die Frage der Verfasser: „Können wir durch die Art der Betrachtung den Wert von Gebäuden im Beziehungsgeflecht ihrer Geschichten sichtbar machen?“ Ich würde sagen: ja.



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Ulrike Böhm, Katja Benfer, Cyrus Zahiri (Hg.): São Paulo Heterotopia. Urban Spaces in Suspense / Urbane Räume in der Schwebe. 200 Seiten, 34 Euro
Transcript Verlag, Bielefeld, 2022

»São Paulo Heterotopia« ist einem bestimmten Typ von Orten der brasilianischen Metropole gewidmet. Es ist ein Typ von Hybridbauten zwischen öffentlichem und dem privatem Raum, die einen schützenden Rahmen bieten, wie der im öffentlichen Raum São Paulos in der Regel nicht zu finden ist. Denn in den Freiräumen dieser Stadt wirke das freie Interagieren unterschiedlicher Sozialgruppen nicht unbedingt ausgleichend, so die Herausgeber:innen: „Sind Ordnungskräfte abwesend, bestimmt die stärkste Gruppe die örtlich geltenden Verhaltensreglen. Wer nicht zu dieser Gruppe gehört, muss sich mit den Auswirkungen arrangieren. Alternativ werden öffentliche Räume gemieden, erst zeitweise, dann schließlich dauerhaft.“

Diesen Mangel gleichen große Hybridbauten aus, die zwar überwacht sind, in der Regel aber niemanden ausschließen. Keiner der vorgestellten Bauten, so ist zu lesen, „schließt den Zutritt von Randgruppen aus, Klassenzugehörigkeit spielt keine Rolle.“ Insofern wird hier das an europäischen Städten geschulte und idealisiere Stadtraumverständnis auf die Probe gestellt – und gleichzeitig wird dazu aufgefordert, zu sehen, welche anderen Möglichkeiten es geben könnte, welche Qualitäten in einer anderen Form liegen könnten, damit sich einander fremde Menschen im Raum der Stadt begegnen können.

Die vorgestellten Hybridbauten haben eine Vorgeschichte, die in der Stadtplanungshistorie der Stadt begründet ist. Im Angfang des 20. Jahrhunderts entwickleten Entwicklungssystem entstanden in São Paulo entlang der Zentrum und Peripherie verbindenden Radialen repräsentative Bauten. Durch bestimmte Festlegungen insbesondere den Erdgeschossbereich betreffend, öffneten sie sich der Stadt. Diese Hybridbauten wurden im Rahmen eines Revitalisierungsprogramms seit den 1970ern neu programmiert, mit kulturellen Nutzungen bereichert, verkehrlich an den ÖPNV angeschlossen; einige entstanden ganz neu. Nach der Einführung, die diese Geschichte kurz und prägnant darstellt, werden acht dieser Orte vorgestellt. Pläne, Fotos und Texte nach einem einheitlichen Raster geben gute Einblicke in die Qualitäten der Gebäude, vor Ort gemachte Interviews gewähren einen Einblick in Nutzung, Nutzerschaft, Akzeptanz. Entstanden aus einem kooperativen Hochschulprojekt ist mit dieser prägnanten Präsentation ein anregender Band über ein Stück des Städtebaus in einem uns weniger vertrauten Kontext entstanden.


 

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Andrea Gnam: Vom Reiz der Peripherie. Architektur und Fotografie. 134 Seiten, 24,80 Euro
Wasmuth & Zohlen Verlag, Berlin, 2022

Das Buch von Andrea Gnam ist wie ein Gang durch eine Bibliothek. Eine Bibliothek der Fotobücher. Im einleitenden Text Gnams findet sich dazu ein wichtiger Hinweis: In der Limitierung lasse sich Größe und Ernsthaftigkeit des Fotografen bestimmen. Andrea Gnam sortiert nun solche limitierten Serien in zehn kurzen Essays. Sie beginnt bei den deutschen Fotografinnen, die deutsche Nachkriegsgeschichte dokumentierten, ordnet ihren Fundus dann nach verschiedenen Szenarien – Landschaft, Peripherie, Bauwerke, Ostmoderne und Osteuropa –, um dann das Medium und dessen Vermittlung in den Blick zunehmen.

Jedes Kapitel wird mit lediglich einem Bild illustriert, die Erörterung des Themas verzichtet dann auf weitere. Der oder die Lesende muss entweder über ein profundes Wissen verfügen oder sich selbst die Bilder imaginieren, deren Sujet und Charakter beschrieben werden – es ist daher wahrscheinlich kein Zufall, dass der letzte Text den Blinden in der Fotografie gewidmet ist. Ihnen, den Blinden, gehe es „nicht um Repräsentation und ihre Bildformeln, sondern um Imagination und um eine Verbindung zwischen der Welt der Blinden und derjenigen der Sehenden.“ Wer dies in Verbindung bringt mit der zu Beginn des Buchs beschworenen Größe und Ernsthaftigkeit, die sich in der Limitierung zeige, der ahnt, dass hier auch ein Appell verborgen sein könnte: sich nicht von der Bilderflut überwältigen zu lassen und statt dessen auf die Imagination zu verlassen, sie zu aktivieren. Dazu anzuregen, gelingt Gnam sehr gut, sie findet dafür schöne Sprachbilder ; ohne mit ihrem Wissen aufzutrumpfen, werden auch andere Texte über Fotografie und Darstellung von Diderot bis Barthes elegant eingeflochten.

Hin und wieder allerdings denkt man, dass sich auch Gnam selbst etwas mehr hätte limitieren dürfen, etwas intensiver beschreiben, etwas genauer fassen, etwas weniger aufzählen können. Diesen Nachweis der umfassenden Kenntnis hat sie eigentlich nicht nötig. Denn sie leistet ja etwas, was viel wichtiger ist: Sie verleitet dazu, sich zwischendurch einen Titel, einen Namen zu notieren, um sich dann ein Fotobuch zu besorgen, mit dem man dann selbst auf eine ernsthafte und große Reise gehen kann.