Marktgeschrei (28) | Architektur zeigt, wie Menschen leben und arbeiten. Allein die Frage der Versorgung hat unsere Städte unwiderruflich verändert. Digitalisierung, Pandemie und dieser Tage die verheerenden Fluten infolge des Klimawandels verschärfen den Veränderungsdruck auf unsere Städte und Dörfer. Tante Emma ist nicht wiederzubeleben – aber der Rückblick auf ihr Verschwinden warnt vor neuen Fehlern, etwa innerstädtische Logistikflächen für den Online-Handel.
Qual der Wahl
Als in unserem Ort Mitte der 1960er Jahre ein Supermarkt eröffnete, lernten wir den modernen Kapitalismus in Reinkultur kennen. Denn jetzt kaufte man keine Waren mehr, weil man sie zur Lebensführung brauchte, sondern weil es sie gab. Neuartig war nicht nur die immense Auswahl konkurrierender Produkte, es war vor allem der unverantwortlich niedrige Preis, zu dem alles zu haben war. Es hieß, es sei der größere Umsatz, der dem Großmarkt seine niedrigen Preise erlaube. Also: Ein Käse kostet eine Mark, zwei Käse kosten aber nicht zwei Mark, sondern nur einsfünfzig. Damit gaben wir uns zufrieden, obwohl es niemandem einleuchtete. Die Erfolgsformel hieß: „Die Masse macht’s“.

Funktioniert trotz Parkplätzen auf dem Dach nicht mehr: „Alles unter einem Dach“ im zentral gelegenen Kaufhaus einer Mittelstadt, hier ehemals Hertie. (Bild: Ursula Baus)
Bedürfnisse schaffen, wo keine sind
Unsere Einkäufe fanden immer samstags statt, weil man mit dem Familienauto bis zum Stadtrand fahren musste. Kinder schoben den riesigen Einkaufswagen, dessen Größe bereits einer Aufforderung gleichkam, denn nur ein Päckchen Nudeln darin hätte irgendwie armselig ausgesehen. Zum Großhandel gehörten immer zwei Partner, also auch wir Endkunden sollten Größe zeigen. Im Übrigen galt seit der Kuba-Krise Vorratshaltung als Gebot der Stunde. „Aktion Eichhörnchen“ hieß das in den 1960er Jahren. Ob sie sich in Eftstadt, Ahrweiler und Schuld daran erinnert haben?

Altes Problem, noch immer aktuell: Die Stadtmitten haben als Handelszentren ausgedient, riesige, versiegelte Parkierungsflächen dominieren die alten und neuen Einkaufszentren auf ehemals grüner Wiese oder am Stadtrand. Die Automobil-Bequemlichkeit erinnert an den Zauberlehrling, abgewandelt: „Herr, die Not ist groß. Die Autos, die wir wollten, werden wir nicht los!“ (Bild: Ursula Baus)
Im Angebot
Um sich strategisch richtig aufzustellen, verteilte sich die Familie in der schmucklosen Warenlagerhalle nach Produktgruppen, wobei Kinder mit dem Einkaufswagen eine Art Shuttle-Service übernahmen (der Begriff war damals noch unbekannt). Die Frauen stellten sich zum Beispiel an der Käsetheke an, während die Männer ein paar Gänge weiter die Anschaffung eines Starthilfekabels erörterten. Es war gerade für 4,99 DM im Sonderangebot, es auszuschlagen, wäre leichtsinnig gewesen, obwohl man noch nie eines benötigt hatte. Aber Supermärkte reagieren auch seismografisch auf die Anforderungen des Marktes. Tauchpumpen sind zur Zeit sehr gefragt. Eine Freundin aus Brandenburg hat uns erzählt, dass bei ihnen wasserdichte Dokumentenhüllen im Angebot seien. An Supermarktregalen lässt sich wie an den Benzinpreisen die Weltlage ablesen.
Das Schöne war, dass alle, auch wir Kinder, etwas in den Einkaufswagen legen und sich damit am Wettbewerb des geschickten Auswählens beteiligen durften. Zwischen den Regalen kam es oft Probierhäppchen, um die Kundschaft sinnlich zu überzeugen. Das geht heute mit FFP2-Maske leider nicht mehr. So lernte man damals von klein auf die Welt der Waren kennen, und es wunderte nicht, dass sich nach dem erfolgreichen Samstagseinkauf bei der Familie ein Gefühl wie nach einem Theaterbesuch einstellte. Zuhause probierte der Vater als erstes die frische Leberwurst aus dem Angebot und trank dazu ein Bier. Der Vormittag schien gelungen.
Außer dem Supermarkt gab es Grossisten, bei denen nur US-Armeeangehörige oder Wiederverkäufer eingelassen wurden. Man brauchte dazu einen Ausweis. Wer einen besaß, kokettierte damit wie mit einem Segelschein und berichtete den Ausgeschlossenen, als habe er gerade eine Weltreise hinter sich. Frischen Fisch: nur von der Metro!

Das Design von Leuchten und Abfallbehälter sind nach Städtebauförderprogramm aus. Die Erdgeschossfassade ist noch mit hochwertigem Stein gefasst – und nun? (Bild: Ursula Baus)
Heute sind wir geläutert. Die Großläden an den Ortsrändern sehen alle aus wie Oktoberfestzelte oder Maschinenproduktionshallen, das ist der städtebauliche Beitrag zum Genius loci. In die ehemaligen Kolonialwarenläden, die die „Menschen nebenan“ versorgt haben, sind jetzt Nagelstudios, Versicherungsagenturen oder Telekomfilialen eingezogen, eben alles, was man täglich braucht. Wir wissen, das ganze billige Zeugs, was es dafür in den Supermärkten gibt, kommt aus China, und die unvermeidliche Plastikverpackung treibt hinterher tonnenweise im Meer.