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Bild: Christian Holl
Fragen zur Architektur (36) | In der Ferienzeit fahren viele Menschen in Landschaften, Städte, an Orte, an denen ein großer Aufwand getrieben wird, um eine tourismusfreundliche Alltagsferne zu inszenieren. Konstruktionen einer heilen Welt, von der wir genau wissen, dass sie einer Welt gegenüberstehen, die überhaupt nicht heil ist. Das ist schon oft und wirklungslos kritisiert worden. Vielleicht wäre es hilfreich, die Kritik nicht an den Orten des Tourismus zu üben.

Ferien. Die Zeit einer zumindest vorsichtigen Urlaubsplanung. Wir lassen an dieser Stelle als Gedankenexperiment einmal gnädig außer acht, dass die Möglichkeit besteht, wir könnten die Urlaubsplanung wieder ändern müssen. Denn wir wissen: Experimente liefern Erkenntnisse, weil sie die Realität vereinfachen. Also Urlaubsplanung. Bei mir ist es so: Wenn einmal ein Urlaubsziel festgelegt und eine Unterkunft gebucht ist, vergesse ich schnell, warum es dieses Mal genau dieses Ziel sein musste. Es wäre sonst, als würde man nach dem Einkauf Preise vergleichen. Es soll die Ardèche sein. Und so beginnen die Urlaubsvorbereitungen, bei denen ich im Durchwühlen meines nicht auf einer strengen Systematik aufgebauten Archivs auf einen Zeitungsartikel von 2015 stoße, in dem es heißt: „Wer weiß, vielleicht wird man eines Tages bei der Ardèche nur noch an Wollhaarmammuts und nicht mehr an Felsschluchten denken.“ (1) Mir scheint, dass dieser Tag noch nicht gekommen ist, zumindest waren die Wollhaarmammuts für uns nicht entscheidend, soviel weiß ich dann doch noch.

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Detail im Nachbau der Chauvet-Höhle. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, Claude Valette)

Jedenfalls sind in der Nähe von Vallon Pont-D‘Arc 1994 von Jean-Marie Chauvet Höhlen mit steinzeitlicher Malerei entdeckt worden, die zu den bedeutendsten und spektakulärsten überhaupt gehören. Damit sie nicht das gleiche Schicksal wie die in Altamira und Lascaux erleiden, die vom Atem der Tourist:innen schwer beschädigt hatte, weswegen beide fast zu spät für die Öffentlichkeit geschlossen wurden, Lascaux 1963, Altamira 1979, hat man die nach seinem Entdecker benannten Chauvet-Höhlen gleich geschlossen gelassen und sich bald daran gemacht, eine Replik zu erstellen, damit die Welt eben doch etwas zu sehen bekommt. 2015 ist sie, die Replik, etwa zwei Kilometer von der echten Höhle mit den echten Malereien entfernt errichtet worden, für 55 Millionen Euro. Die Bilder, die von dem Bau zu sehen sind, lassen an ein Freeclimberparadies denken. So gut es gelungen sein mag, die Malereien zu kopieren, an einen echten Felsen erinnert das Äußere nicht. Vielleicht sollen sie das aber auch gar nicht und der auf den ersten Blick etwas hilflos anmutende Versuch, einen Felsen nachzuahmen, ist ein raffinierter Kniff, damit auch ja niemand auf die Idee kommt, dass es sich hier nicht um eine Replik handelt. Man könnte von demonstrativer Redlichkeit sprechen – im Zweifel sollte man immer gute Absichten unterstellen.


Verblüffung und Kritik


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Bild: Christian Holl

Es bleiben ohnehin genug Fragen. Warum muss die Replik sich unbedingt in der Nähe des Originals befinden, zum Beispiel, um mit einer einfacheren anzufangen, wenn es einfache in einem solch verminten Diskursgelände gibt. Verschafft dieses Nähe der Replik noch einen Hauch von Authentizität, die sie nicht hätte, wenn sie, sagen wir mal, auf einem gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Grundstück in der Nähe von Lyon angelegt worden wäre? Wollen die Menschen eben doch Wollhaarmammuts und Schluchten zusammen erleben, um sich der Illusion hingeben zu dürfen, dass sie eigentlich doch die echte Höhle besucht haben? Oder hat die Region ein Recht darauf, die Einnahmen von den Tourist:innen zu beanspruchen, die zumindest auch wegen der Wollhaarmammuts kommen? An dieser Stelle sollte man etwas präziser sein: Denn es geht ja nicht um Wollhaarmammuts, die gibt es nicht mehr. Es geht um Bilder von Wollhaarmammuts. Was die Sache nochmal komplizierter macht. Zumal wir hier nicht von Fotos reden; der Mensch, der die Bären und Mammuts an die Höhlenwände bannte, hatte anderes im Kopf als anderen zu zeigen, was er gesehen hatte und damit anzugeben. Hier ging es darum, ein Verhältnis zu einer schwer beherrschbaren Außenwelt aufzubauen.

Horst Bredekamp hat in seinen Untersuchungen zum „Bildakt“ festgehalten, dass „Mensch ist, wer Naturgebilde in Bilder umformen und diese als eigene Sphäre zu bestimmen vermag.“ (2) Er konstatiert, dass unter anderem Platon, aber auch Heidegger und Lacan um die Wirkung von Bildern wussten, hinter ihren Überlegungen aber auch eine Angst stehe: nämlich die, „im Bild einer Sphäre zu begegnen, die der Philosoph nicht zu kontrollieren vermag.“ (3) In seiner Definition des Bildaktes schreibt Bredekamp, dass im Bildakt das Bild eine aktive Qualität annimmt. Das Bild ist mehr als ein Ding und mehr als eine Abbildung, die einen gerade das sehen lässt, was ohne das Bild nicht zu sehen wäre. Das Abgebildete ist mehr als nur visuell präsent. Beschwörungen, Beseelungen, Bestrafungen, Verarbeitungen von Traumata – zu alldem können Bilder dienen, und sie haben deswegen auch eine immense politische Bedeutung.

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Verblüffend, wie gut selbst ungeschickte Täuschungen funktionieren. (Bild: Christian Holl)

Das mag trivial klingen, aber es könnte sich eben doch mehr hinter der Entscheidung zu verbergen, die Höhlenreplik in der Nähe des Originals aufzustellen. Aus der Sicht der Konsumkritik würde man vermutlich in dem Sinne argumentieren, dass Authentizität ein gesellschaftliches Konstrukt ist, das den Wert einer Ware steigert und so überhaupt erst zu einer macht. Ein nach den Regeln eines Factory-Outlet angelegter Nachbau der Höhle an einem Autobahnkreuz würde vermutlich das Gefühl vermitteln, es solle genau so etwas wie ein Factory-Outlet sein. Und das wäre nicht nur zu plump, es würde vor allem außer acht lassen, dass es nicht nur darum geht, eine Sache irgendwie und so gut wie möglich so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen, sondern dass hier mehr verkauft wird, als eine Besuch einer Replik: eine Sehnsucht und eine Neugierde, die bestehen bleibt, obwohl keine und keiner hier herkommt und glaubt, das Original zu sehen. Es ist so etwas wie barocke Illusionsmalerei: Man weiß, dass es eine Illusion ist und ist doch verblüfft, dass die Täuschung funktioniert. Die Lage im unmittelbaren Umfeld des Originals dient dazu, die Grenzen verschwimmen zu lassen, so dass der kritische und reflektierte gleichzeitig der verblüffte und überwältigte Besucher sein kann. Ohne kritische Haltung keine Verblüffung, ohne Verblüffung keine Kritik. Das kann man nachvollziehen, aber es könnte auch helfen, sich damit nicht zufrieden zu geben.


Alltagsferne Alltagsbewältigung


Ganz grob könnte man auch sagen, dass die Bilder der Bilder, die hier in der Replik zu sehen sind, so platziert wurden, dass es gerade noch gelingen kann, sie als Teil der eigenen Sphäre zu bestimmen, der eigenen Welt, der Welt, die man mit anderen Menschen teilt ebenso wie die ganz persönliche, was nicht immer ein Unterschied ist. Auch die Bilder der Wollhaarmammuts, Bären, Wisente wurden vor 36.000 Jahren angefertigt, um diese Bilder als eigene Sphäre zu bestimmen, um das Ausgeliefertsein an die Unwägbarkeiten der Natur verarbeiten. Das wäre eine Form der zumindest erhofften Kontrolle, die vor dem Verlust der Kontrolle kommt, von der Bredekamp spricht. Kontrolle als Voraussetzung für den Kontrollverlust. Die Macht der Bilder ist groß, weil sie viel versprechen. Weil sie dadurch auf eine Weise ansprechen, affizieren, dass sie die Vernunft, von der Philosophen und andere so gerne hätten, dass sie endlich handlungsleitend würde, außer Kraft setzen. Weil sie Begierden wecken, weil sie verführen, weil sie Trost spenden oder Hoffnungen wecken. Man mag das bedauern, etwa, dass Menschen lieber für den Schutz von Tieren mit großen Augen Geld locker machen als für den von Spinnen oder Würmern. Würden Menschen aber nicht für Tiere mit großen Augen spenden, könnte man sie nicht dafür kritisieren, dass sie nicht auch für Spinnen und Würmer spenden – und dann tun sie vielleicht gerade das. Bilder und die Kritik an ihnen sind untrennbar miteinander verwoben.

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Urlaubsvorbereitung. (Bild: Christian Holl)

Wer in den Urlaub fährt, weiß das. Er weiß es allein schon deswegen, weil es der Urlaub ist: die Ausnahmesituation vom Alltag, die nie Alltag werden wird, weil sie sonst nicht Urlaub sein könnte. Die schönen historischen Städtchen sind nicht die, in denen man unbedingt wohnen will, die Wanderungen mit dem Nötigsten auf dem Rücken sind deswegen erholsam, weil man sonst nicht mit dem Nötigsten auf dem Rücken durch die Welt wandern muss. Und auch hier ist die Illusion, dass es so schön sein könnte, wenn es immer so wäre wie im Urlaub, Teil der Wirklichkeit, dass es nicht immer so ist: Der melancholische Schmerz des Urlaubsendes ist von Anfang an Bestandteil des ganzen Urlaubs.

Für diese Ausnahmesituation Urlaub hält der Mensch viel aus. Er hält es aus, dass Kanonen mit unglaublichem Wasser- und Energieverbrauch Schnee liefern. Er hält es aus, dass im Winter Sand an die Strände gekarrt und gebaggert wird, damit man im Sommer drauf liegen kann. Er hält es aus, dass eine Parallelwelt konstruiert wird, die die eigene Sphäre um etwas erweitert, was sie erst zu der komplexen macht, in der er es aushalten kann. Im Urlaub ist unerreichbar, wer sonst immer erreichbar ist, im Urlaub wird der Körper belastet, weil man sonst immer am Computer sitzt. Im Urlaub genießt man die Illusion einer Welt von räumlich überschaubaren Beziehungen, weil man sich danach wieder um die Eltern in Bayern kümmern muss, die beste Freundin in Köln wohnt, während man selbst in der Nähe Osnabrück zuhause ist. Und zum Einkaufen in den Supermarkt am Ortsrand, die Kinder in den Sportunterricht fährt und sich nicht mit den Darbietungen des örtlichen Kulturvereins zufrieden gibt. Zum Beispiel. Wir genießen im Urlaub ein Leben, das wir im Alltag als unzureichend empfinden würden. Das machen wir, weil wir dafür im Urlaub Bilder intakter Natur bewohnen (in der Ardèche), um die Nachrichten der brennenden Tundra und des abschmelzenden Polareises aushalten.


Für eine Ethik der Distanz


Aber dieser Urlaub wird ja in den Alltag verlängert. Dort gibt es dann von Fachwerkgebäuden geschmückte Altstädte, die Wanderung am Rheinsteig am Wochenende und die Blumen der insektenfreundlichen Mischung auf der Verkehrsinsel. Die Wirklichkeit besteht aus einer solchen Verschränkung von widersprüchlichen Wirklichkeiten, und sie wäre nicht ehrlicher, wenn es keine blühenden Verkehrsinseln gäbe, es wäre nur eine andere. Daran würde auch eine Kritik nichts ändern, die insofern wenig hilfreich wäre. Was aber kritisiert werden kann ist, dass vergessen wird, dass es Bilder sind. Fachdiskurse über die bessere Welt, die mit Stadtbilder von früher operiert und suggeriert, dass es eine Antwort auf die Welt von heute sein könnte, die Gründerzeit nachzubauen und ein paar zeitgemäße Fassaden davorzukleben, sind wie der Versuch, Bären zu jagen, indem man die Bären- und Wollhaarmammutbilder an den Höhlenwänden mit Dartpfeilen bewirft. Wir sind, um es vorsichtig auszudrücken, nicht in jeder Hinsicht intelligenter als die Menschen, die in der Ardèche Höhlenwände bemalt haben.

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Bild: Christian Holl

Da es gerade morgen eröffnet wird, bietet es sich an, auch das Humboldt Forum zu erwähnen. Auch das hätte man in den Augen von so manchem besser an einem Autobahnkreuz errichten dürfen. Auch hier kann man der Meinung sein, die Braunschweiger Variante vom Schloss als Pförtnerhäuschen des dreimal großen Einkaufszentrums sei ehrlicher. Es gibt viel zu kritisieren am Humboldt Forum. Sehr viel sogar. Aber ich habe meine Zweifel, ob das, worauf sich die Kritik richtet, aus der Welt wäre, gäbe es das Humboldt Forum nicht: Es könnte so einfach sein, ist es aber nicht. Genauso würde man den Konflikt um die Benin-Bronzen nicht beilegen, in dem man die Originale dorthin zurückschickt, von wo  sie im 19. Jahrhundert geraubt wurden, und im Museum in Berlin dafür Repliken zeigt, die von den Originalen nicht zu unterscheiden sind. Man würde die Geste des Kolonialismus nur wiederholen. Wenn in China der Eiffelturm nachgebaut wird, dann ist das weniger Referenz an Europa, sondern vielmehr eine Demonstration der Stärke Chinas. (4)

Es wäre also besser, das Humboldt Forum würde funktionieren wie die Höhlenreplik in der Ardèche. Das macht es aber nur unzureichend, auch wenn man in der rüden Ostfassade eine Entsprechung der ungelenke Anmutung einer Felsformation sehen könnte; eine Herausforderung für das intellektuelle Freeclimbing gewissermaßen. Das Schlimme am Humbordt Forum ist, dass es zu sehr täuschen will und zu wenig die Doppeldeutigkeit der Replik auslotet – und dass ein Kreuz auf der Kuppel steht, mit einem Zitat darunter, das ein Schlag ins Gesicht von zu vielen ist, die in diesem Land eine Heimat gefunden haben. Wenn man auf diese Weise meint, demonstrativ ein überkommenes Welt- und Gesellschaftsbild zu vermitteln zu müssen, bedroht man genau dies: dass dieses Land Menschen zur Heimat werden kann. (5)

Dass wir keine Bilder bewohnen, dass haben uns die letzten Tage auf grausame Weise gezeigt. Dass die Natur so einige Unwägbarkeiten hat, haben wir leider ein wenig zu sehr vergessen: Die Welt ist kein Bild, in dem man wohnt; wir wissen das schon lange, nur waren die Katastrophen bislang offensichtlich noch viel zu lange viel zu weit weg, als dass daraus Konsequenzen gezogen worden wären. Die schön inszenierten Städte und Landschaften, das behagliche Wohlstandsidyll auf Kosten von Umwelt, Klima und dem Wohlergehen von anderen Menschen konnte und kann auf Dauer nicht gut gehen. Bredekamp fordert eine Ethik der Distanz – eine solche müssten wir gewinnen: „weil erst dieses Insistieren auf dem Abstand die zerstörerische Dimension zu begreifen vermag, welche ihre Absenz auslöst.“ (6) Wir müssen wieder lernen, mit der Konstruktion von Wirklichkeit umzugehen, die nicht unabhängig von der Welt ist, mit der die Bilder einen Umgang zu finden versprechen. Schönen Urlaub.

 


(1) Rob Kieffer: Die Magie der Kopie, FAZ, 7. Mai 2021
(2) Horst Bredekamp: Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Neufassung 2015, Berlin 2015, S. 36
(3) ebd., S. 50 f.
(4) siehe die Arte-Dokumentation „Der geklonte Eiffelturm“, https://www.youtube.com/, Bianca Bosker, 5.50 – 9:34
(5) Das Zitat, eine Kombinaton aus zwei Bibelstellen lautet: „Es ist kein ander Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Es stammt von Friedrich Wilhelm IV. Er hatte es anbringen lassen, „auch um im Zuge der von ihm abgelehnten Revolution von 1848/1849 das Gottesgnadentum seiner Herrschaft und das aus heutiger Sicht verhängnisvolle Bündnis von Thron und Altar gegen die Forderungen nach einer Demokratisierung des Herrschaftssystems zu verteidigen.“  (siehe >>>)
(6) Bredekamp, a.a.O., S. 12